Mitglied
- Beitritt
- 13.07.2017
- Beiträge
- 563
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 33
Paul
Es war abgesprochen, den Namen niemandem zu erzählen. Aber auch wenn sich ihre Eltern ständig verplappern, lasse ich Natalie in dem Glauben, ihren Verrat nicht zu bemerken. Natalie darf alles: Mitten im Gespräch einschlafen, die letzte Schokolade wegessen, bei der Merci-Werbung weinen, alles. Dieses allumfassende Gesetz ist auf meinem Mist gewachsen und ich verteidige es gegenüber allen Zweiflern, auch gegenüber Natalie selbst. Denn ihr Wonderlandkörper baut einen kleinen Menschen – unseren Sohn Paul.
Anfang Mai ziehen wir zusammen nach Berlin-Grünau. Das sei nah genug an Köpenick, damit ihre Eltern Paul mal von der Kita abholen können, meint Natalie. Früh am Morgen, wenn Paul mit seinem Gestrampel Natalie weckt, geht sie die fünf Minuten zum Ufer der Dahme, setzt sich auf die Parkbank beim Ruderverein und schaut auf den Fluss. Natalies Wärmeempfinden trotzt der frühlingsfrischen Luft. Sie läuft durch unsere Wohnung, als sei es Hochsommer, während ich im Kapuzenpulli neben ihr sitze. Der Standventilator schwenkt surrend vor dem Sofa hin und her. Natalies Beine lagern auf einem Stapel Kissen, orange lackierte Zehen wackeln im Windzug, auf ihrem Bauch liegt ein Buch. Vom vielen Kreisen ist das geringelte Shirt voller Knötchen.
„Na?“, fragt sie, ohne aufzuschauen.
„Hm?“, entgegne ich ertappt.
Sie klemmt das Lesezeichen zwischen die Seiten, legt das Buch neben sich und lächelt mich an.
Das Display ist dunkel, als ich das Handy auf den Couchtisch schiebe. Ich drehe mich zu ihr, richte mich etwas auf. „Manchmal bin ich ziemlich verpeilt, ich weiß“, beginne ich ernst und schiebe die Pulloverärmel hoch. „Aber ich glaube, ich bin gut vorbereitet.“
Natalie nickt kurz, runzelt dann die Stirn und legt den Kopf schief. „Worauf jetzt genau?“
Ich beuge mich rüber und tätschle Pauls Kopf, oder Pauls Po, oder die Plazenta. Ist schwer auszumachen. „Vorbereitet auf Paul!“
Bis jetzt haben wir kaum über die bevorstehende Geburt geredet. Weil ich Natalie nicht belasten will, habe ich ihr versprochen, es mit Vorbereitungen und Planungen nicht zu übertreiben. Was für mich okay war, bis ich mich mit meinem Cousin Alex zum Viertelfinale der Frauenfußball-WM auf ein Bier treffe. Nachdem eine Spielerin mit verdrehtem Knie und schmerzverzerrtem Gesicht erst auf dem Rasen behandelt und später vom Platz getragen werden musste, nutzt Alex die Auszeit, mir von der Geburt seiner Tochter zu berichten. Es scheint ihm elementar zu sein, mich in alle blutigen Einzelheiten einzuweihen. In der Nacht erwache ich aus einem Traum, in dem Natalie auf einem Metalltisch inmitten eines weiß gekachelten Raums liegt und vor Schmerzen schreit, und ich dabei abgetrennt von ihr hinter einer Plexiglasscheibe entlang tigere.
Natalie fädelt die Finger über der dicken Murmel ineinander. Die Ventilatorluft erreicht meine Arme, die Haare stellen sich auf.
„Du wirst die Geburt fabelhaft meistern, keine Frage.“ Meine Hände hängen beschwichtigend in der Luft. „Und um dich dabei und hinterher mit Paul bestmöglich zu unterstützen, habe ich ein Onlineseminar für werdende Väter im Kreißsaal absolviert. Und erfolgreich abgeschlossen", sage ich. „Mit vier von vier zu erreichenden Rasseln!“, schiebe ich hinterher.
Kein Wort. Keine Regung. Doch etwas schlüpft durch ihre zusammen gekniffenen Lippen und kräuselt die Mundwinkel.
„Zum Beispiel wird Paul in den ersten Tagen nur bis zu zwanzig Zentimetern scharf sehen. Dafür kann er dich beziehungsweise deine Milch riechen, sobald du den Raum betrittst. Ich könnte den Ventilator auf Stufe eins in die richtige Richtung stellen, je nachdem ob gerade Stillzeit ist oder nicht.“
Damit wirft sie lachend den Kopf zurück und hält sich den bebenden Bauch. Paul wird durchgerüttelt, schwappt hin und her im schaumig aufgeschüttelten Fruchtwasser, während er gedämpft das Lachen seiner Mutter wahrnimmt. Von mir hört er nichts. Ich stehe auf, schnappe mir das Handy, gehe auf unseren Balkon und lasse mich auf den Sitzsack fallen. Vier von vier!
Natalies Fußsohlen klatschen auf die Küchenfliesen, ihre nackten Beine tauchen neben mir auf. Sie beugt sich herunter, so dicht, dass ich ihre Magnolienblütenhaut riechen kann und küsst meine Schulter. Dann richtet sie sich wieder auf, legt die Hände in die Hüfte und schaut zwischen den Hinterhöfen hindurch auf ein Fitzelchen glitzernder Wasseroberfläche. „Es tut mir leid, Hase. Eigentlich ist es ziemlich beruhigend, dass du dich vorbereitest.“
Ich greife ihre Hand, schwinge sie leicht hin und her. „Wusstest du, dass es Kochrezepte für die Plazenta gibt?“
„Bäh.“ Natalie rümpft die Sommersprossennase und entzieht mir ihre Hand.
Paul kommt zu spät. Natalie meint, damit sei die Vaterschaft erwiesen. Ich nehme mir vor, nachtragend wegen des Kommentars zu sein. Aber mein Immunitätsgesetz greift auch hier. Bereits drei Tage über dem errechneten Geburtstermin übe ich mich im Auf- und Abgehen und beantworte geduldig Anrufe der Familie zum Stand der Dinge.
In der Stadtapotheke mit den holzvertäfelten Wänden und Einbauregalen studiere ich die Etiketten der alten Glasbehälter. Es fällt wenig Licht durch die mit Produktaufstellern bestückten Fenster. Ich bin der nächste in der Reihe und frage, ob die Salbe auch für Schwangere zugelassen ist. Natalie hat seit gestern Abend starke Rückenschmerzen.
„Aber ja.“ Die Apothekerin – grau durchzogene, lange Haare zum lockeren Dutt hochgesteckt, Lachfalten um die Augen – schmunzelt. „Der Rest der Tube kann auch in der Stillzeit aufgebraucht werden. Es scheint ja bald loszugehen.“
Bevor ich etwas erwidern oder mich nach ihrer Schamanenzusatzqualifikation erkundigen kann, stürmt unser Nachbar durch die Tür und völlig außer Atem auf mich zu. „Norman ...“ Er schiebt sich in die Senkrechte. „Dein Handy …, Natalie …“
Während er nach Luft ringt, klopfe ich meine leeren Taschen ab.
„Die Wehen haben eingesetzt“, stößt er hervor.
„Hah“, gibt die Apothekerin fröhlich hinzu.
Der Teppichvorleger am Tresen fühlt sich seltsam flauschig an. Genau wie meine Zunge.
Alle fünf Minuten. Natalie stützt sich auf die Lehne des Sofas, schaut mich mit diesem Gesichtsausdruck – eine Mischung aus Euphorie und Angst – an und atmet schwer in den Bauch hinein. Für einen Moment stehe ich einfach nur da, traue mich nicht sie anzufassen aus Angst, ihr wehzutun. Die blaue Tasche am Eingang ist bereits zu einem Möbelstück unserer Wohnung geworden. Ich entferne Laufjacke und Einkaufsnetz, schultere die Kliniktasche und stütze Natalie mit der anderen Seite. Auf dem Weg zum Auto halten wir dreimal an. Bis auf die Schlaglöcher, durch deren Umschiffung sich die Strecke zum Krankenhaus um die Hälfe verlängert, kommen wir erstaunlich schnell durch den Berliner Verkehr. Als würden die anderen spüren, dass es Zeit für Paul ist, und Platz machen. „Alles klar, Spatz. Wir haben‘s geschafft“, sage ich im Krankenhaus angekommen. Zwischen zwei Wehen bedenkt mich Natalie mit einem mürrischen Schnaufen.
„Hat Ihnen niemand gesagt, dass Sie sich telefonisch im Kreißsaal anmelden sollen?“ Eine Hebamme ganz in Violett, mit weicher Stimme, nimmt uns auf der Station in Empfang. Natalie schielt zu mir hinüber. Ja, da war was am Infoabend bei den Aufgaben der werdenden Väter. Ich weiß noch, die Hebamme hatte die gleichen Klamotten an – violetter Einheitslook, oberhalb der linken Brust eine Stickerei, die wie eine Brustwarze aussieht. Das Grübeln über die Bedeutung dieser Symbolik verringerte meine Aufmerksamkeit an jenem Abend. Wir werden in einen freien Kreißsaal geführt, Natalies Bauch abgetastet und das CTG angeschlossen, um Wehen und Herztöne von Paul zu überwachen. Ich sitze neben Natalie, streiche nasse Haarsträhnen aus ihrem Nacken.
„Mir. Ist. Schlecht“, keucht sie. Die Hebamme zeigt auf einen Stapel Tüten im Regal. Ich schaffe es knapp, eine davon auseinander zu falten und Natalie zu reichen. Irgendwie bin ich froh, eine Aufgabe mit der Tütenentsorgung zu haben. Links von der breiten Eingangstür befindet sich eine weitere, schmalere Tür. Daneben, in einer tropisch bunt mosaikgefliesten Nische, hängt eine Webtuchschlaufe über einer ovalen Badewanne. Ich stelle mir Natalie vor, wie sie im Wasser treibt, der Bauch eine Vulkaninsel vor Maui.
„Ich komm‘ gleich wieder.“ Die Stimme der Hebamme hat an Samtigkeit verloren. Natalie sieht mich aus großen Augen an. Sie kämpft sich mittlerweile fast pausenlos von Wehe zu Wehe. Ihr Gesicht ist blass und nass von kaltem Schweiß. Ich streichle ihren Rücken und halte die nächste Tüte bereit, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun sollte. Die Tür öffnet sich und eine Ärztin kommt mit festem Schritt und wehendem Kittel auf uns zu. „Hallo. Ich bin die Stationsärztin, Dr. Wegener. Schwester Isabel hat mich gebeten, einen Blick auf ihre Werte zu werfen.“ Was sie bereits seit dem Hallo tut. Unterdessen nimmt die Hebamme Natalies Hand: „Atmen Sie tief in den Bauch hinein“, diktiert sie. Als die Ärztin ihren Blick von den Kurven löst, der Hebamme fest in die Augen schaut und nach dem Telefon an ihrem Hosenbund greift, zerbröselt der letzte Rest Zweckoptimismus. Natalie schaut mich unter Schmerzen fragend an. Als ob ich die Situation auch nur ansatzweise verstehe.
„Schwester Isabel, wir brauchen ein Bett.“ Zu uns gerichtet: “Die Herztöne gehen runter und die Sauerstoffsättigung ist zu gering. Wir müssen Ihren Sohn sofort holen.“ Damit geht sie einen Schritt zur Seite und ordnet per Telefon die sofortige Vorbereitung des OPs an.
Um uns herum geht es verflucht routiniert hektisch zu. Der Anästhesist legt uns eine mehrseitige Belehrung zur Unterschrift vor, während eine OP-Schwester den Venenzugang auf dem Handrücken legt und Natalie auf ein mobiles Bett umgelagert. Die Hebamme hält weiter ihre Hand, leitet Natalie in jeder Wehe beim Atmen an. Ich schlucke meine Übelkeit hinunter. Ich will stark sein für Natalie und für Paul. Schreckliche Gedanken überkommen mich. Was, wenn Paul es nicht schafft? Panik kriecht zwischen den Schulterblättern in meinen Nacken, überrollt mich und krallt sich in meinem Magen. Ich drehe mich weg, zu einer Tüte.
Natalie wird in den Fahrstuhl geschoben. Unterdessen schieben die Wehen unbeirrt weiter. Sie atmet träge und zittrig. Und sie weint. Was mich fast umbringt. Pauls Herztöne sacken immer wieder ab. Mein Kopf wehrt sich, die Gegebenheiten funktionell zu verarbeiten. Natalies Bauch erschien mir immer wie eine Festung.
Ich sehe die Angst in Natalies Blick. Dann senkt sich die Atemmaske auf Nase und Mund und ihre Augen schließen sich flatternd. Die Hebamme hält mich am Arm zurück, als sich die Automatiktüren des OPs vor mir schließen.
„Möchten Sie Ihren Sohn auf die Brust gelegt bekommen?“, werde ich samtig aus meinem Linoleumstarren gerissen. Mein Blick wandert über die Brustwarzenstickerei hoch in freundliche Augen. „Ihre Partnerin wird gerade noch versorgt. Es geht ihr gut“, ergänzt sie noch.
„Und Paul?“, frage ich.
Sie lächelt: „Paul auch. Er ist kräftig und gesund.“
Die OP-Tür schließt hinter dem Anästhesisten. „Aber nicht fallen lassen!“ Er grinste vor sich hin. Ich spiele mit dem Gedanken, ihm eine zu verpassen.
Hätte ich mir das Brusthaar entfernen lassen sollen? Die Zimmertür auf der Wöchnerinnenstation öffnet sich. Und vom Bett aus sehe ich die Hebamme mit einem Lächeln, einer hellstrahlenden Aura und einem Kinderbettchen auf Rädern vor sich, auf mich zu kommen. Dann nimmt sie Paul, bettet ihn auf meinem nackten Oberkörper und schlingt vorsichtig eine Decke um uns. Paul schläft. Ich streichle den Flaum seines Hinterköpfchens und spiele mit den Fingerchen. Alles dran. Beim Gedanken daran, dass ich der Vater von etwas so Perfektem bin, komme ich mir wie ein Hochstapler vor. Schließlich hat Natalie die ganze Arbeit gemacht. Es klopft leise. Natalies Bett wird neben meines gestellt. Sie sieht zufrieden aus und kaputt und schön.
„Herzlichen Glückwunsch vom ganzen Stationsteam.“ Die Hebamme hält kurz meine und Natalies Hand.
Ohne Paul auf meinem Bauch würde ich Schwester Isabel umarmen. „Danke. Ich ... Danke.“ Mehr bekomme ich nicht heraus.
„Ach“, winkt sie ab. „Darum geht’s doch. Wir … und die Gesellschaft …“ Sie formt mit den Armen einen großen Kreis. „… und in der Mitte, ein neues Leben.“ Sie strahlt, zeigt stolz auf die Stickerei ihres violetten Shirts. Es herrscht vollkommene Glückseligkeit, als der Anästhesist seinen Kopf durch die Tür steckt. „Darf ich kurz stören?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, kommt er ins Zimmer. Meine Kiefer erleben einen ungewohnt harten Druck. Er baut sich vor unserer kleinen, perfekten Familie auf. „Ihr habt das richtig großartig zusammen durchgestanden. Und …“, er schaut mich fest an, „ich sehe nicht viele Väter, die ihre eigene Panik so gut wegkämpfen, um ihre Freundin zu unterstützen.“
Ich spiele mit dem Gedanken, ihn zu Pauls Paten zu machen.
„Alles Gute euch dreien!“ Damit geht er. Die Hebamme folgt ihm, schließt mit einem letzten, freundlichen Nicken die Tür.
Frieden macht sich breit. Müde und hungrig sitze ich in dem Krankenhausbett, an diesem schrecklichsten, schönsten Tag in meinem Leben, neben Natalie und trage Paul auf meiner Brust. Ich schaue ihn an, erkenne unsere ganze Familie in dem kleinen Gesicht. Ich rieche diesen ganz besonderen Geruch von frisch geborenen Kindern. Dann sterbe ich. Und werde im selben Moment wiedergeboren, als Vater.