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Paula
„Musst du wirklich dahin?“, fragte Sonja und umfasste mich von hinten mit den Armen. Es klang vorwurfsvoll.
Ich zog die Krawatte zu, rückte sie zurecht und sagte: „Ich muss da nicht hin, ich will dahin. Er ist mein bester Freund und ich bin der Trauzeuge. Verstehst du das nicht? Außerdem kannst du mitkommen. Tom und Sabine haben dich auch eingeladen.“
Sie ließ mich los: „Aber ich will nicht auf so eine Fuck-Hochzeit. Spießerkram.“ Sie war bockig.
„Aber ich will. Und ich fahre jetzt“, sagte ich, nahm das Sakko von der Stuhllehne und zog es an. Sie sah mich an und zog einen Schmollmund. Ich nahm ihre Hand, seufzte und fragte sie dann: „Was soll das denn? Gönnst du es mir nicht? Gönnst du es Tom und Sabine nicht?“
„Ach, leck mich doch“, sagte sie, riß sich los und verschwand in ihrem Zimmer, die Tür hinter sich zuknallend. Der Zorn in mir stieg hoch, ich wollte ihr hinterher, ihr die Meinung sagen, sie anschreien. Aber ich tat es nicht. Ich wusste, wie es enden würde. Wir würden uns in Rage reden, uns anschreien und schließlich dann doch im Bett landen. Ich ging. Aber ich knallte die Tür. Wenigstens das.
In der letzten Stunde stieß mich Tom mit dem Ellenbogen an. „Sollen wir heute Nachmittag schwimmen gehen?“ - „Logo“, flüsterte ich zurück. „Leopold! Thomas! Ruhe jetzt!“, kreischte die Neuburger. - Zwei Stunden später warfen wir unsere Räder ins Moos beim Waldsee und rannten, die T-Shirts herunterreißend auf den See zu. Wir sprangen von dem großen Stein am Ufer aus hinein und jauchzten. Einige Sprünge und eine Wasserschlacht später lagen wir nebeneinander im Moos und rauchten jeder eine Zigarette, die Tom seinem Onkel geklaut hatte. Sie schmeckte uns gar nicht, aber wir fühlten uns wie Männer. „Sag mal“, sagte Tom. „Wie findest du eigentlich Andrea?“ - „Na ja, bisschen zickig vielleicht“, sagte ich. - „Echt?“, sagte er. „Find ich gar nicht. Aber ich weiß schon, du stehst ja auf die Paula.“ - „Mm“, sagte ich.
Die Zeremonie war rasch vorbei. Ich musste die Ringe der Assistentin des Standesbeamten aushändigen, meine Unterschrift unter die Urkunde setzen und das war es auch schon. Als es vorbei war und alle klatschten, umarmte ich Tom und flüsterte ihm zu: „Werd glücklich, Tommi, du hast es verdient.“ - „Bin ich schon. Werd du auch glücklich, Leo.“
Ich umarmte Sabine, gratulierte ihr, sie strahlte, als hätte sie im Lotto gewonnen. „Bist ein Glücksfall für den Tommi, Bine. Alles Gute für Euch“, sagte ich. Eigentlich, dachte ich, ist es ja umgekehrt. Er ist ein Glücksfall für sie. Sie sagte nichts, aber ich spürte, dass sie sich freute über meine Glückwünsche.
Feuerwehrfest. Unser Clique saß an einem Tisch zusammen und die meisten hatten schon einiges getrunken. Obwohl wir alle erst sechzehn waren, scherte das niemanden. Feuerwehrfest war Feuerwehrfest. Tom hatte seinen Arm um Andrea gelegt. Sie war jetzt seine Freundin, eine von vielen, die er im Laufe der Jahre haben würde. Auch die meisten anderen hatten ihre Mädchen dabei. „Warum hast du eigentlich keine Freundin?“, fragte mich plötzlich Andrea. „Weil ihn die Paula nicht ran lässt“, sagte Alfred, der größte Schwätzer in unserer Clique. „Halt's Maul, Fred“, sagte ich.
„Halt's selber, du Arsch.“ -
„Wichser.“ -
„Du bist der Wichser. Oder lässt du dir von Paula den Schwanz blasen?“ -
Ich sprang auf und packte Fred an seinem T-Shirt. Doch er schüttelte mich ab und schlug zu. Mir wurde schwarz vor Augen und ich taumelte. Bevor ich umkippte hörte ich noch, wie Andrea und die anderen Mädchen aufschrien, als sich Tom auf Fred stürzte.
Auf der Feier redete ich nicht viel. Die meisten von Tom und Sabines anderen Freunden kannte ich nicht und diejenigen, die ich kannte, mochte ich nicht besonders. Ich unterhielt mich ein bisschen mit Toms Vater, der mir, bereits ziemlich betrunken, das Du anbot. Das hatte er schon bei Toms Diplomfeier getan, vor zwei Jahren. Wir siezten uns immer noch. Er hatte es am nächsten Tag längst vergessen gehabt. Toms Vater redete davon, wie schlecht es doch ginge, dass alles teurer würde, dass man ihn ja geradezu zwinge, die Arbeiten, die an Toms und Sabines Haus auf seinem Grundstück erledigt werden mussten, von seinen Handwerkerkumpels unter der Hand erledigen zu lassen. Ich tat so, als würde ich ihm aufmerksam zuhören und nickte ab und zu. Irgendwann schien es ihm dann doch aufzufallen, dass ich gar nicht registrierte, was er sagte, und er stand auf und setzte sich zu seiner Frau.
Als ich wach wurde, blickte ich in Paulas Augen.
„Was ...“, sagte ich und wollte mich aufrichten. - “Bleib liegen“, sagte sie. Stimmt ja, fiel mir ein, Paula war beim Roten Kreuz und half den Sanitätern bei der Versorgung der Bierleichen und Verletzten bei den Dorffesten.
„Wer hat dir den Schlag verpasst?“, fragte sie.
„Fred“, sagte ich.
„Und warum?“ -
„Wegen dir“, hörte ich Tom sagen. Ich drehte den Kopf. Er lag auf der Bahre neben mir und grinste: „Aber Fred geht’s gar nicht gut.“
Paula schien angewidert. „Ihr seid solche Idioten.“
Im Saal war es unerträglich heiß. Ich ging nach draußen, nahm mein Bier mit. Es gab keine Bänke oder so was, also setzte ich mich auf den Gatterzaun der Koppel neben dem Landgasthof. Wahrscheinlich hatten sie für die Feriengäste dort Pferde. Ich steckte mir eine Zigarette an, dachte an den Streit mit Sonja am Morgen. Dass es eine Spießerveranstaltung war, so eine Hochzeit, stimmte ja. Aber es waren Tom und Sabine, die hier heirateten. Tom, mein bester Freund heiratete. Würde Sonja es je verstehen, was mir diese wenigen Menschen aus meiner Vergangenheit bedeuteten? Dass Tom der einzige war, der das Band an schöne Zeiten vor diesem Tag vor fünfzehn Jahren herstellte. Ein Band, an das ich mich klammern konnte, das mir das Gefühl gab, einem Menschen etwas zu bedeuten, dem es nicht nur darum ging, zu nehmen, der mir auch etwas gab? Auch wenn er sich jetzt angepasst hatte?
Eine halbe Stunde hatte ich vor der Tür gestanden und das Klingelschild angeglotzt. Dann hatte ich mich umgedreht und wollte langsam davon schleichen, als sich die Tür öffnete. Ich hörte Paula fragen:
„Leo, bist du das?“
Ich drehte mich wieder um. „Ja. Sorry, ich geh schon wieder.“ -
„Nein, warte mal.“ Sie ging kurz hinein und kam mit ihrer Jacke wieder heraus.
„Magst spazieren gehen?“, fragte sie.
„Klar.“
Wir gingen nebeneinander her, schweigend. Den ganzen Weg durchs Dorf, den kleinen Waldweg entlang, bis zum Waldsee.
„Wie geht’s deinem Kopf?“, fragte sie schließlich, als wir am See im Moos saßen.
„Spür nichts mehr. Ist ein harter Schädel“, sagte ich.
„Ich weiß.“ -
„Paula?“ -
„Ja?“ -
„Magst du mich ein bisschen?“ -
Sie sah mich an, ein wenig traurig, ihre Augen schimmerten und sie griff nach meiner Hand. Da küsste ich sie.
„Was macht eigentlich Sonja?“, sagte plötzlich eine Stimme neben mir. Erschrocken sah ich auf.
„Paula!“, sagte ich.
„Hi!“, sagte Paula und sah mich so seltsam an, wie sie mich immer schon angesehen hatte. Das letzte Mal hatte ich sie vor fünf Jahren gesehen, beim letzten Klassentreffen. Sie war noch schöner geworden.
„Hi. Ich wusste nicht, dass du auch hier bist. Hab dich bis jetzt gar nicht gesehen“, sagte ich.
Sie legte den Kopf schief und grinste: „Eigentlich bin ich gar nicht da. Du weißt doch, Sabine und ich haben gewisse Differenzen. Ich bin nicht eingeladen. Aber ich wusste, dass du hier bist.“ -
„Jetzt sag bloß, du bist wegen mir hier“, sagte ich.
„Ich wohn ja gleich dahinten. Weißt du doch“, sagte sie und lachte.
„Und? Wie geht’s Sonja?", fragte sie wieder. „So hieß sie doch, oder?“ -
„Ja, Sonja. Na ja, wie solls ihr gehen. Gut, denke ich“, sagte ich.
„Seid ihr nicht mehr zusammen? Weil du das nicht weißt?“ -
„Doch schon. Aber bei Sonja weiß ich nie so recht, wies ihr geht“, sagte ich.
„Wollen wir spazieren gehen? Rüber zum Waldsee?“, fragte Paula.
„Stimmt nicht mehr so zwischen euch, oder?“, fragte Paula nach einer Weile auf dem dunklen Waldweg Richtung See. „Zwischen dir und Sonja, meine ich.“
„Hat es eigentlich nie“, sagte ich. Paula schwieg.
Wir schwiegen eine ganze Weile. Am Waldsee setzten wir uns auf einen gefällten Baumstamm.
„Und wie geht es dir, Paula?“ -
„Ich lebe. Mir geht’s gut, eigentlich. Von Gerhard hab ich mich getrennt. War eine gute Entscheidung. Er hat letztes Jahr Elke geheiratet.“ -
„Elke? Die vom Metzger? Die keiner mochte?“, fragte ich ungläubig.
„Ja, genau die. Aber die zwei passen schon zusammen. Sie lieben beide die Kohle.“ -
„Und was machst du?“ -
„Weißt du doch. Immer noch Krankenschwester, drüben in der Stadt.“ -
„Entschuldige, klar. Bin irgendwie durcheinander heute.“ -
„Wegen Sonja? Oder wegen dem Unfall? Kommt alles wieder hoch, wenn du hier bist, oder?“, fragte sie.
„Eigentlich nicht. Es hat lang gedauert, aber über den Tod meiner Eltern bin ich weg.“ -
„Aber?“, fragte Paula.
„Sonja – sie versteht es nicht, dass ich so an Tom hänge. Dass ich hierher fahre, wegen ihm. Zu so einem 'Spießerkram', wie sie es nennt.“ -
„Ist es doch auch.“ -
„Ja. Aber Tom ist mein bester Freund. Da muss ich doch zu seiner Hochzeit.“
Als ich das sagte, wusste ich auf einmal, dass das nicht stimmte. Dass es nicht Toms Freundschaft war, warum ich hier war. Dass es der verzweifelte Versuch war, das Band weiter verknüpft zu halten mit dem Ort, an dem ich ein Kind gewesen war. Und mit dem Gefühl, ein Kind zu sein. Aber ich war kein Kind mehr.
Ein ganzes Jahr hielt es. Ein ganzes Jahr lang war ich der glücklichste Junge des Dorfes, der glücklichste Junge der Schule, der glücklichste Junge der Welt. Dann passierte der Unfall. Und alles Gefühl erstarb in mir. Auch das für Paula. Sie brachten mich ins Heim und ich sah nur noch Tom ab und zu, der bald darauf eine Lehre begann in der Kreisstadt, in der auch das Heim war.
„Warum bist du eigentlich nicht zu meiner Hochzeit gekommen, Leo?“, fragte Paula auf einmal.
„Ich weiß es nicht“, sagte ich.
„Leo, küss mich noch ein Mal so wie vor sechzehn Jahren.“
Und ich tat es. Sie sah mich an danach, genauso wie damals. Und dann stand sie auf und ging. Noch einmal drehte sie sich um und sagte: „Leb wohl, Leo.“
Dann rannte sie den Weg zurück, den wir gekommen waren.