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Paulas Ring
Für Marie
Paula war wie ein einsames Blümchen, welches ich einmal zwischen Gras und Steinen entdeckte. Es hatte rote Blüten, wuchs zwischen dem Unkraut aus dem Feld, als wäre es dessen Herrscherin. Und dennoch, trotz dieser heimlichen Pracht, schien es mir schwach, vergänglich in seiner Sterblichkeit. Ein großer Teil von mir wollte es pflücken und mit nach Hause nehmen, sah, wie schön es im Wohnzimmer in einer Vase sterben würde. Wie langsam die Blüten immer heller werden würden, bis sie schließlich zu Boden fallen würden. Wie sich der einst grade Stiel knicken würde. Meine Finger griffen um den zarten Halm und zogen, ich glaubte bereits die Pflanze würde nachgeben und sah, wie die Wurzeln, klein und zierlich, dabei waren, das Erdreich zu verlassen. Aber dann hielt ich inne. Wind wehte in durch meine Haare, ich konnte ihn aber nicht wirklich spüren. Nur dieses kleine bisschen Leben zwischen meinen Fingern schien wichtig zu sein. Noch kurz dachte ich daran, es herauszureißen aus seinem Leben zwischen all dieser Sonne und Natur. Am Ende gewann der kleinere Teil in mir und ließ es weiter in der Sonne dem Himmel entgegen wachsen.
Wie Paula, als ich sie das erste Mal sah. Sonne brannte auf mich herunter. Ich stand vor einem Meer, die Aussicht war die Unendlichkeit und nicht weniger als diese. Hinter mir eine Strandpromenade, welche unzähligen Urlaubsfotos glich. Alles wirkte wie aus Touristenträumen kopiert. Um mich herum kleine Kinder, die sich gegenseitig mit Salzwasser bespritzten, alte Menschen, die an mir vorbeischwammen. Kleine Plastikboote, Schnorchel, kleine Mädchen in Bikinis, Jungs in Badehosen oder Shorts.
Und mittendrin wir beide. Ich war wie erstarrt, so schön war sie. Ein bunter, aufgeblasener Ball tippte gegen meine Schulter und ich konnte dennoch nicht wegsehen. Wo war in diesem Moment der Geruch des Meeres, die sonst so stetigen Schreie der Möwen. Ich konnte sie nicht mehr hören. Nur sie anstarren. Ihre langen braunen Haare liefen ihr vom Tauchen nass den Rücken herunter und klebten im Gesicht. Um den Hals trug sie eine dünne Holzkette, ein silbernes Medaillon an dieser blendete mich für einen Sekundenbruchteil. An den Seiten der Träger ihres Bikinis sah ich die so typischen weißen Streifen, wo die Sonne nicht hatte hinscheinen können. Wieder traf mich der Ball und als mich der Werfer anschrie, ich möge ihn doch zurück werfen, erwachte ich, tauchte wie ein Ertrinkender in die Wirklichkeit zurück. Ich spürte das salzige Wasser meine Haare die Schläfe herunterlaufen. Wieder rief der Junge nach seinem Ball. Ich reckte mich herunter, nahm ihn und schmiss ihn achtlos in seine Richtung.
Paula war so anders. Ich wage nicht davon zu sprechen, sie wäre vollkommen gewesen. Aber für diesen einen Tag, den ich damals mit zwanzig erlebte, war sie es einfach. Was hätte ich doch alles mit ihr erleben können, wenn es nur diesen kleineren Teil in mir nicht gäbe. Der andere Teil, der starke, stets allen Sehnsüchten nachgebende aber war zu ihr gegangen, als sie verzweifelnd im Wasser am Tauchen war und hatte gefragt: „Was ist los?”
„Mein Ring ist weg. Weiß auch nicht, war nur kurz am Tauchen gewesen, hab gedacht, auf dem Boden was zu sehen. Dann danach getastet. Aber als ich wieder oben war, hatte ich meinen Ring nicht mehr am Finger.“
Dabei hatte sie auf den Sandboden gezeigt. Ich folgte ihrem Zeigefinder. Das Meerwasser war so klar, dass ich den Boden sehen konnte. Vereinzelte Muscheln, von der Strömung glattgeschliffene Steine, kleinste Fische.
„Nur nicht zuviel bewegen, sonst verschwindet er uns für immer. Am besten wir stellen uns eng nebeneinander.”
„Schon mal danke im Voraus.”
Ich nickte und blinzelte. Schon beim ersten Eintauchen stach das Salz in meinen Augen. Fast eine halbe Stunde half ich ihr den Ring zu suchen. Immer wieder bückte ich mich, kämpfte dagegen an, meine Augen zu schließen und suchte den nassen Sand ab. Meine Hände tasteten ununterbrochen alles ab, waren zerkratzt von Scherben, in die ich hineingefasst hatte. Ich schnappte immer nur kurz nach Luft, sammelte meine Gedanken und half ihr weiter.
Die Nachmittagssonne war schon dabei, hinter den Wolken zu verschwinden. Sie warf nur noch ein trügerisches Licht auf das seltsam glatte Meer. Die meterhohen Wellen waren verschwunden.
Erst als ich zum sicher dreißigsten Mal wieder auftauchte und sah, dass sie keine Anstalten mehr machte, es mir gleichzutun, begriff ich, dass es sich nicht mehr lohnte, weiterzusuchen. Ich wollte ihn unbedingt finden, konnte mir nichts Wichtigeres mehr vorstellen, als dieses runde silberne Etwas da im Sand zu spüren. Wieder tauchte ich unter, glaubte etwas silbern aufblitzen zu sehen, und tastete danach. Es war die Lasche einer Getränkedose. Ich warf sie wütend weg und spürte im selben Moment Paulas Hand auf meiner Schulter.
„Es hat keinen Sinn mehr“, meinte sie. „Ist zwar schade, aber der dumme Ring ist etwas Materielles und Dinge vergehen. Ich hätte auch einfach mal besser aufpassen können.”
„Hatte er eine Bedeutung für dich?”
„Nein, ich fand ihn einfach nur sehr schön. Er war so schlicht, aber glänzte immer im Sonnenlicht.”
“Hast du vielleicht Lust, noch ein Eis essen zu gehen oder so”, fragte ich, als wir aus dem Wasser gingen.
“Klar, immer doch.”
Ich folgte ihr, ohne auch nur noch einmal nach hinten zu sehen. Der Strand war mit Eisdielen übersät. Dazu kamen noch die fliegenden Händler, die sich den Touristen ununterbrochen aufdrängten, ihnen kalte Getränke und Eis am Stil zu Wucherpreisen aufschwatzten.
“Wie lange bist du schon hier im Urlaub?”
“Seit gestern. Ich werd aber morgen weiterfahren. Ich mach eine kurze Reise durch Südfrankreich. Es ist überhaupt immer wieder lustig, im tiefsten Ausland die eigene Landessprache zu hören.”
Sie nickte, zeigte auf einen etwas abseits gelegenen Eisstand. Eine bunte Plane war über das Gefrierfach gelegt. Auf einem Schild waren die verschiedenen Eissorten abgebildet. Die Preise kamen mir auf den ersten Blick okay vor. Ich bestellte Schokolade und Pistazien. Kaum, dass wir unser Eis in den Händen hielten, begann es schon zu schmelzen, das Hörnchen herunterzulaufen und auf unsere Hände zu kleckern.
Was wir an diesem Nachmittag noch alles redeten? Ich kann es einfach nicht mehr sagen, wenn ich es auch wünschte. Wir beide gingen immer weiter den Strand entlang. Unter uns kalt werdender Sand, neben uns Menschen, die ihre Sachen zusammenpackten, um zurück in ihr Hotel zu fahren und über uns ein dunkelblauer Himmel ohne jede Wolke.
Als wir zum Ende des Strands gekommen waren, machten wir kehrt und gingen zurück. Irgendwann kamen wir wieder zu der Stelle, an der ich sie das erste Mal gesehen hatte. Neben mir eine von Kinderfüßen zerstörte Sandburg. Noch ein einzelner Turm hatte noch gestanden, war mit Muscheln geschmückt gewesen. Das Wasser blitzte trügerisch und verlockend. Ich fragte mich, ob sie noch an ihren Ring dachte, den sie hier verloren hatte.
“Ich denke hin und wieder, es wäre schön, für immer hier zu bleiben. In dieser Stadt, jeden Tag den Sand und das Meer genießen”, sagte Paula. “Aber irgendwann glaube ich würde auch das langweilig werden. Doch den Horizont konnte ich nirgends bisher genießen an diesem Strand.”
Ich folgte ihrem Blick in den unendlichen Horizont. Möwen kreischten über uns ihr grausiges Lied und übertönten ihre Worte. Eine landete nicht weit von uns auf einem einsamen, großen Stein. Das Tief blickte uns mit seinen leblosen Augen an, dann erhob es sich wieder in die Lüfte, ins Meer hinaus, zu Orten, die ich nie sehen werde.
Meine Haare klebten vor Sand und fielen ununterbrochen in mein Gesicht. Als ich verzweifelt versuchte, sie in Ordnung zu bringen, nahm sie meine Hand, legte sie auf ihren Oberschenkel und flüsterte, ich solle aufhören und den Sonnenuntergang genießen. Ihre warme Haut zu spüren war ein unvorstellbares Gefühl. Fast hatte ich Angst, meine kalte Hand könnte ihr die Wärme entziehen.
“Morgen wirst du weiterfahren? Wohin denn?”
“Ich weiß es noch nicht. Mal sehen, wohin die Züge fahren. Vielleicht ein wenig ins Landesinnere.”
“Schon seltsam, dass wir uns dann wahrscheinlich nie wiedersehen.”
Wie den Ring, dachte ich in diesem Moment. Hin und wieder frage ich mich, was aus ihm geworden ist. Dann sehe ich ein kleines Mädchen im Sand spielen. Sie ist etwa sieben Jahre alt, hat blonde Haare und versucht, ein wenig Ruhe von ihren Geschwistern zu bekommen. Ihre Eltern sitzen unweit in zwei Stoffstühlen. Und auf einmal findet sie den silbernen Ring in ihren Händen und freut sich, ihn gefunden zu haben.
“Bald sind die Ferien auch wieder zuende und ich muss zurück nach Deutschland.”
“Ja, stimmt. Alles vergeht. Hast du vielleicht noch Lust mit zu mir zu kommen. Ich wohn nicht weit, in der Altstadt ist mein Appartement.”
“Klar. Hab heute ja nichts mehr vor. Ich muss nur noch eben meine Sachen holen.”
Während ich zu der Stelle lief, wohin ich meine Klamotten und das Handtuch geworfen hatte, zog sie sich um. Als ich wiederkam, hatte sie einen kurzen Stoffrock angezogen, der ihre braunen Beine fast nicht verdeckte. Über ihren Oberkörper hatte sie nichts gezogen, trotz des einsetzenden Abends war es noch immer erstickend heiß. Wir gingen los, ließen den Strand und ihren Ring hinter uns. Von Schwärmen kleiner Fliegen und Mücken begleitet. Es hatte keinen Sinn nach ihnen zu schlagen, sie waren einfach überall.
Ab da verblassen meine Gedanken über diesen Abend. Der Rest dieses Tages kommt mir unwirklich vor, viel mehr wie eine Illusion, aber ich weigere mich zu glauben, dass es ein Traum war. Dafür spüre ich noch viel zu sehr, wie es war, als meine Hände durch ihr klebriges Haar strichen, versuchten Paula auszuziehen und sie auf ihr Bett zu tragen. Ihr Zimmer lag im dritten Geschoss eines alten, gelblichen Hauses, wie es sie viele in der Stadt gab. Der Gedanke, mit ihr zu schlafen, machte mich schon im Treppenhaus ganz verrückt. Ich stolperte die morschen Treppen hoch, lachte heiser auf und hatte so unvorstellbare Angst, etwas falsch zu machen, das sie umstimmen könnte. An ihr Zimmer erinnere ich mich fast nicht mehr, einzig an das Licht, das von der Decke auf uns beide fiel, als ich mit meinen Lippen küssend über ihre vom Meereswasser salzigen Brüste strich und mir nicht vorstellen konnte, dass das wirklich ich war, der hier mit ihr in einem Bett lag. Meine Hände umfassten ihre Schultern und wollten sie nie mehr loslassen. Mühsam zwängte ich mich aus meinen Shorts, half ihr dabei den Rock herunterzuziehen. Sie schlang sich mit ihrem Armen um meinen Bauch. Wie sie stöhnte und wie sie sich bewegte. Als wenn sie wissen würde, wie viel mir noch in Jahren dieser eine Abend in Erinnerung bleiben würde.
“Nochmal”, meinte sie leise. Ich schwitzte. Sie schwitzte. Ich sah auf ihren braugebrannten Körper herunter, strich über die weißen Schwielen an ihrem Becken, welche die Badehose hinterlassen hatte. Ihre Brüste hoben und senkten sich langsam im Takt ihres Atmens. “Bitte, küss mich nochmal.”
Ich wollte reden, ihr sagen, wie toll sie wäre. Doch nur ihre Stimme schien diesem Moment angemessen. Ich kämmte ihre nassen Haare aus dem Gesicht und begann sie aufs neue zu küssen. Ein zweites Mal drang ich in sie ein, suchte die Enge und fand die Weite.
„Wie heißt du eigentlich?“ fragte ich, als wir im Dunklen auf ihrem Bett lagen. Sie hatte ihre Beine angewinkelt, ich meinen Arm um ihre Hüfte gelegt.
„Paula“, antwortete sie. Wir waren beide müde. Das Bettlaken lag auf dem Boden. Ich streckte mich und hob es auf, legte es um sie. Ihre Füße streichelten meine. „Bleibst du noch solange, bis ich eingeschlafen bin?“
Ich sah aus dem großen Balkonfenster. Eine Hafenstadtsilhouette zeigte sich dort, dazu hörte ich Straßenlärm und roch das allgegenwärtige Meer. Ich nickte und sie legte sich auf die Seite. Kurz überlegte ich mir, wie es wäre, wenn ich bleiben würde und sah ein Feuer brennen, heißer als jeder Schmerz. Bis zum Sonnenaufgang starrte ich auf ihr schlafendes Gesicht, unfähig zu denken oder irgendetwas zu tun, dann rappelte ich mich auf und verschwand leise aus dem Zimmer.
Marburg, 22.2.2006