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Pflichterfüllung
Das Bimmeln des Telefons ließ Konrad Broder mürrisch von den Fallunterlagen aufsehen. Wie immer kam ihm Wachtmeister Lehmann zuvor und machte gehorsam Meldung. "Versuchter Ladendiebstahl beim Elektrofachgeschäft in der Marktstraße. Kam jemand mit 'nem Skateboard reingedüst und wollte sich einen CD-Player unter den Nagel reißen. Die überprüfen gerade seine Personalien."
"Die werden auch immer dreister." Broder ächzte, als er seinen bulligen Körper aus dem Drehstuhl erhob. "Na, dann nehmen wir ihn mal unter unsere Fittiche."
Lehmanns Gesicht nahm plötzlich einen betroffenen Ausdruck an.
"Was ist, Norbert? Hat er jemanden mit dem Skateboard überfahren?"
"Du, Konrad - es ist Phillip!"
"Phillip?", echote Broder begriffsstutzig.
"Kein Zweifel möglich. Sein Name ist Phillip Broder."
Konrad Broder starrte seinen Kollegen entgeistert an. Sein Blutdruck schoss plötzlich nach oben, Schwindelgefühle stiegen in ihm auf, und er musste sich am Drehstuhl festhalten.
Sein Sohn sollte so etwas getan haben? Ausgerechnet Phillip, der als kleines Kind vor dem Spiegel immer die Dienstmütze seines Vaters anprobiert hatte, sollte jetzt zum Ladendieb geworden sein?
Das war ungeheuerlich! Das musste eine Verwechslung sein! Die im Laden konnten was erleben, er würde ihnen die Leviten lesen, dass...
Aber in seinem Hinterkopf bohrte bereits der Zweifel. Was, wenn es doch Phillip war?
"Du musst wirklich nicht dabei sein, Konrad, ich werde einfach Kramer überreden, mitzukommen..."
"Nichts da!", blaffte er so laut, dass Lehmann zusammenzuckte und den Blick abwandte. Es tat ihm noch im selben Moment Leid, aber es hatte sich plötzlich so etwas wie Wut aufgestaut, und er wusste einfach nicht, wo er sie lassen sollte. Immerhin schaffte er es, seine Benommenheit abzuschütteln. "Entschuldigung, Norbert! Aber als Polizist habe ich meine Pflicht zu tun. Ob es nun mein Sohn ist oder nicht!"
Lehmann blickte ihn einen Moment lang zweifelnd an, nickte dann aber. "Du bist der Boss."
Broders Gedanken rasten. Wie hatte es so weit kommen können? Hatte er dem Jungen nicht alles vermittelt, was ihm selbst wichtig war? Wie konnte sein eigener Sohn ihn so enttäuschen?
Schließlich hatten sie nie einen ernsthaften Streit gehabt. Er war immer stolz darauf gewesen, seinem Sohn jeden Wunsch von den Augen abzulesen.
"Ich versteh das einfach nicht!" Hilflos warf er die Arme in die Luft, als er mit Lehmann die Eingangstreppe hinunterstakste. "Er hat früher immer so begeistert zugehört, wenn ich ihm von meinen Erlebnissen auf dem Revier erzählt habe."
"Es ist schon keine einfache Sache mit der Erziehung", meinte Norbert Lehmann. "Du weißt nie, mit was für Leuten die Kinder zusammenkommen."
Broder nickte grimmig, und sein Trotz gewann die Oberhand über seine Gefühle, während sie in den Streifenwagen stiegen. "Das denke ich auch. Ich werde mir beizeiten seine Freunde vorknöpfen."
"Kennst du denn seine Freunde gut?", fragte Norbert, weniger aus Neugier als vielmehr um einer peinlichen Pause vorzubeugen.
Broder blinzelte irritiert. "Seine Freunde? Na, auf seinem Geburtstag sind die ja immer da, aber da hab ich sie unter sich sein lassen. Ich spioniere ihm ja nicht nach. Hab' ihn immer seinen eigenen Weg gehen lassen."
Norbert dachte an eine Begebenheit auf dem Revier vor sechs Jahren. Der sechsjährige Phillip war ganz aufgeregt hereingeplatzt, wie Kinder das immer tun, wenn sie ein Erlebnis in der Schule oder auf dem Spielplatz loswerden wollen.
Konrad hatte abwesend über einem Fall gesessen. Als Phillip freudig erregt mit den Armen zu rudern begann und zu erzählen anfing, hatte sein Vater milde gelächelt und ihm einen Zehner in die Hand gedrückt, worauf der Junge enttäuscht davongelaufen war.
Eines war klar: Er musste das Thema ansprechen, oder der Tag würde in einem Desaster enden. Auch wenn Konrad im Moment nicht so wirkte, als wäre er für Sensilibisierungsversuche offen.
"Gehört nicht ein bisschen mehr dazu? Ich meine, hörst du ihm zu, wenn er mit einem Problem oder einem Erlebnis zu dir kommt?"
"Was heißt hier mehr?", blaffte Broder gereizt zurück. "Ich bin doch immer da gewesen. Aber die Jungs klären ihre Sachen doch lieber unter sich. Willst du mir sagen, ich bin schuld, dass er so was macht?"
"Nein, nein." Norbert hob beschwichtigend die Hände. "Ich meine nur, es ist manchmal nicht so leicht, die Kinder zu verstehen, besonders wenn sie in dieses Alter kommen. Da braucht es oft viel Einfühlungsvermögen."
"Da hast du wohl Recht." Broder schnitt eine zustimmende Grimasse. "Aus diesen Gören wird doch heute keiner mehr schlau."
Den Rest der Fahrt sprach keiner ein Wort.
Als sie das Geschäft betraten und der Geschäftsführer sie zum Überwachungsraum im ersten Stock führte, kämpfte Broder gegen ein leicht flaues Gefühl in der Magengegend an. Nein, er hatte keinen Grund, sich jetzt in der Nähe seines Sohnes unwohl zu fühlen. Wenn Phillip die Bedeutung von Verantwortung und Pflichtbewusstsein gegenüber der Gesellschaft nicht begriff, so würde er dafür sorgen, dass sich das änderte. Als Polizist und als Vater.