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Phillies
Jack Hanlon brauchte einen Drink. Und bei Gott, er brauchte ihn schnell! Er hastete durch die Straßen. Sein Blick war leer und die ganze Zeit presste er die Hand auf seine Seite, so als wollte er etwas verbergen, was man aber durch seinen Mantel sowieso nicht sehen konnte. Jack schlug den Mantelkragen hoch und zog den Hut tiefer ins Gesicht. Die Straße war voller Menschen, doch er sah sie nicht. Er zwang sich ruhig zu bleiben, klar zu denken. Nur nicht auffallen, dachte er und verlangsamte seinen Schritt. Vorsichtig schaute er sich um und bemerkte, dass er ganz in der Nähe von Phillies war. Phillies war sauber, Phillies war gut. Nette Bedienung, gute Musik und was das Wichtigste war: Phillies war fast immer voll. Niemand würde dort auf ihn achten. Jack schritt weiter und zwang sich, nicht plötzlich loszurennen. Er hatte es fast geschafft, sah schon die hellen Fenster und die Leute drinnen, er konnte schon fast die Musik hören und den Zigarrenqualm riechen. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren, dachte er. Gleich hast du's geschafft. Nur noch ein paar Meter. Da drinnen bist du erstmal sicher. Da wartet ein schöner, starker Drink auf dich. Vielleicht auch zwei. Oder drei. Er rückte den Gegenstand an seiner Seite zurecht, schaute sich schnell um und vergewisserte sich, dass ihm niemand folgte. Er atmete tief ein und betrat Phillies.
Für einen Moment lang schien alles ganz normal zu sein. Jack hörte die Musik der Jukebox, sah die vielen Menschen, die lachten und sich fröhlich unterhielten, sah und roch den dicken, blauen Zigarrenqualm, der in der Luft hing und unterschwellig nahm er den Geruch wahr, der entsteht, wenn viele Leute lange in einem Raum sind. Unwillkürlich entspannte Jack sich ein wenig. Hier war alles wie immer.
Die Tür fiel hinter Jack zu und er ging zu einem freien Barhocker. Gleich beim ersten Schritt spürte er wieder den Gegenstand an seiner Seite und der kurze Moment der Normalität war verflogen. Schnell musterte er die Leute.
Sehr gut, niemand, den ich kenne, dachte er. Jack setzte sich.
„Was darf’s sein?", fragte ein junger Mann mit blonden Haaren hinter der Theke. Der Typ musste neu sein, denn Jack hatte ihn noch nie gesehen.
„Einen Whiskey, bitte." Der Mann füllte ein Glas und stellte es Jack hin.
„Geht es ihnen gut? Sie sehen blass aus."
„Hm? ... Ja ja mir geht’s gut, danke."
„In Ordnung." Der Mann wandte sich ab. Jack fühlte sich gar nicht gut, er fühlte sich schrecklich und plötzlich war er dankbar dafür, dass hinter der Theke kein Spiegel hing, denn er wollte gar nicht wissen, wie schrecklich er aussah. Jack nahm das Glas in die Hand. Jemand stieß ihn im Vorbeigehen an.
„‘Tschuldigung!" Jack nahm es nicht einmal wahr. Das Glas war nur halbvoll, doch seine Hand zitterte so stark, dass er fast etwas verschüttet hätte. Hastig trank er es in einem Zug leer. Ein leichtes Schwindelgefühl erfasste ihn und er verzog das Gesicht, als er die bittere Flüssigkeit herunterschluckte. Ja, er fühlte sich schon ein bisschen besser.
„Noch so einen, bitte!", rief er dem Mann zu. Dieser füllte nach und Jack stürzte den zweiten Whiskey wie den ersten herunter.
„Nochmal nachfüllen!", rief er. Der Mann tat es.
„Sind sie sicher, dass es ihnen gut geht?"
„Nein, aber wann weiß man das schon, was?" Jack lachte. Es hörte sich verzweifelt und unecht an und der Mann lächelte verunsichert und wandte sich wieder anderen Gästen zu. Jack nahm einen kleinen Schluck, schloss die Augen und ließ sich einen Moment lang von der Atmosphäre einlullen. Schließlich schlug er die Augen auf. Ihm gegenüber saßen ein Mann und eine Frau. Sie waren gut gekleidet und unterhielten sich fröhlich. Der Mann schien sie zu necken und sie lachte und hob tadelnd den Finger. Ohne es zu merken, wurden die Geräusche um Jack herum leiser und die vielen Leute schienen sich aufzulösen. Jacks Geist blendete alles aus, bis nur noch das Pärchen, der Mann mit den blonden Haaren und er selbst da waren. Jacks Augen füllten sich mit Tränen. Genauso hatten er und Wendy sich damals hier im Phillies kennengelernt. Das alles schien so unendlich weit weg zu sein. Er fuhr mit der Hand unter seinen Mantel und berührte den kalten Stahl seiner Smith & Wesson. Die Berührung ließ ihn zusammenzucken und vor seinem geistigen Auge spielte sich alles noch einmal ab.
Die Beziehung zwischen Wendy und ihm war schon seit längerem schlecht gewesen. Die Zeit der Schmetterlinge im Bauch war längst vorbei und sie stritten sich immer häufiger. Heute kam Jack früher als sonst aus dem Präsidium, was Wendy offenbar nicht wusste. Jack ging nach Hause. Er schloss die Tür auf und hängte seinen Mantel an den Haken. Dann ging er in die Küche um nachzusehen, ob Wendy vielleicht schon etwas gekocht hatte. Als er dort in der Küche stand, war ihm, als hörte er ein Stöhnen aus dem Schlafzimmer. Er ging zur Schlafzimmertür und lauschte. Dabei kam er sich wie in einem Film vor, in dem der Ehemann nach Hause kommt und seine Frau mit einem anderen Typen im Bett vorfindet. Und genauso war es auch. Die eine Stimme gehörte eindeutig Wendy, doch die andere, männliche, kannte er nicht. Mit einem Ruck riss er die Tür auf. Die beiden hörten sofort auf und versuchten, ihre nackten Körper mit der Bettdecke zu bedecken.
„Du... du... Was machst du denn hier?", schrie Wendy.
„Hey Mann...", gab der Typ von sich. Jack fing an zu schreien. Er hatte noch nie in seinem Leben so laut und inbrünstig geschrien. Er zog die geladene Smith & Wesson aus dem Halfter, das er immer noch trug und richtete sie auf Wendy. Sie kreischte.
„Hey Mann...", wiederholte der Typ. Jack schrie immer noch. Er drückte ab. Der Knall war ohrenbetäubend laut und auf Wendys Stirn klaffte plötzlich ein großes Loch. Ihr Kreischen brach abrupt ab und sie kippte nach hinten. Jetzt schrie auch der Typ und hielt sich schützend die Hände vors Gesicht. Jack schoss ihm durch seine rechte Hand ins Gesicht. Dann richtete er die Waffe wieder auf Wendy. Unter ihrem Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet, die langsam in die Matratze sickerte. Jack schoss. Und schrie. Er schoss so lange, bis das Magazin leer war. Dann rannte er in den Flur, schnappte sich seinen Mantel und verließ das Haus. Niemand begegnete ihm. Jack rannte. Er rannte so lange, bis seine Beine unkontrolliert zitterten und sich seine Lunge anfühlte, als wäre sie aus Feuer. Er setzte sich auf einen kleinen Treppenabsatz und ruhte sich kurz aus. Dann hastete er weiter. Weiter zu Phillies. Zu einem Drink.
Wieder setzte Jack das Glas an, doch es war leer. Er ließ sich noch einmal nachfüllen und betrachtete wieder das Paar. Der Mann und die Frau unterhielten sich inzwischen sehr intim, ihre Gesichter waren so nah beieinander, dass sich ihre Nasen fast berührten.
Ach Wendy, dachte Jack, warum hast du mir das angetan? Trotz unserer Probleme hätte ich niemals mit einer anderen Frau geschlafen. Niemals!
Dafür hast du gemordet, Jacky, du hast zwei Menschen umgebracht. Einer davon stand dir sogar sehr nahe. Jack wusste keine Antwort auf die hässliche Stimme in seinem Kopf.
Gib’s doch zu, Jacky, fuhr diese fort, du hast die Kontrolle verloren, bei dir ist ‘ne Sicherung durchgebrannt. Du bist durchgedreht. Hast die Kontrolle verloren. Willst du wissen, was das ist, was du die ganze Zeit fühlst, Jacky? Ich verrat’s dir. Es ist der Wahnsinn! So fühlen sich Leute, wenn sie verrückt werden, Jacky. Du bist verrückt. Vollkommen wahnsinnig!
„Ich bin verrückt", kicherte Jack leise. Der Mann mit den blonden Haaren warf ihm kurz einen Blick zu.
Jacky, fuhr die Stimme fort, glaubst du eigentlich, du kommst ungeschoren davon? Glaubst du wirklich, niemand hätte die Schüsse gehört, niemand hätte dich gesehen? Nein. Sie kommen, Jacky. Und das weißt du! Sie kommen um dich zu holen. Sie sind schon unterwegs, waren schon in deiner Wohnung, haben die beiden mit Gehirnmasse vermischten Blutflecken an der Wand und kurz darauf die grausam entstellten Leichen gesehen, das Werk eines Ehemanns mit Veranlagung zum Psychokiller! Deine eigenen Kollegen werden dich verhaften, oder, was noch wahrscheinlicher ist, erschießen, Jacky. Plötzlich hatte Jack einen grausigen Einfall. Er würde sich selbst erschießen und das Pärchen da drüben auch. Vielleicht noch ein paar andere. Dann bliebe denen das alles erspart. Er würde hier sitzen, noch ein paar Drinks trinken und dann würde er es tun. Vielleicht. Denn vielleicht würden sie schneller sein. Aber egal. So oder so, er war erledigt. Eine gespenstische Leere hatte sich in seine Augen geschlichen und der Mann mit den blonden Haaren machte sich inzwischen ernsthaft Sorgen.
Jack nahm einen Schluck. Dann berührte er noch einmal seine Waffe, wie um zu überprüfen, ob sie noch da war, ob sie zu ihm halten würde. Wieder setzte er das Glas an.