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Platzhalter
Webers Theorie
Weber fand, dass das Leben einer Zugfahrt glich. Man setzt sich in ein schlecht beleuchtetes Abteil, schaut zu Anfang noch ab und an aus dem Fenster, doch wenn man erkennt – und man erkennt schnell -, dass dort draußen nur Bäume zu sehen sind, vielleicht mal eine Kuh, schließt man die Augen, macht es sich bequem und schläft ein. Und Webers Theorie nach, verpasst man nun den Moment, an dem man hätte aussteigen sollen, verschläft den Bahnhof mit dem roten Teppich, wacht irgendwann ein paar Stationen weiter auf, wenn der Zug zum Stillstand gekommen ist, reibt sich den Schlaf aus den Augen, steigt aus und fragt sich, wo zur Hölle man gelandet ist.
„Schmeckt es dir nicht?“
„Doch“, sagte Weber.
Laura löffelte lautlos die Suppe, stieß nirgends an, schlürfte nicht, saß aufrecht. Eine Strähne baumelte kokett über ihrem linken Auge.
„Es schmeckt dir nicht.“
„Doch.“ Weber stieß mit dem Löffel gegen den Rand des Suppentellers. Laura führte den nächsten zum Mund, hielt inne und blies mit spitzen Lippen. Die grüne Flüssigkeit auf dem Löffel kräuselte sich. Es war kein Laut zu hören.
Weber schmeckte nichts.
„Ich glaube nicht, dass Suppe wirklich Anlass für ein Gespräch bietet.“
„Über was möchtest du denn reden?“, fragte Laura.
Weber dachte angestrengt nach, hob einige Male die rechte Hand mit dem Löffel, als wolle er ein Startsignal geben. „Vielleicht doch über Suppe“, sagte er schließlich, zeigte ein Lächeln, versuchte es zumindest, doch er saß allein am Tisch.
Weber ging im Wohnzimmer auf und ab, blieb stehen und nahm ein Foto von der Vitrine: Laura und er auf den Stufen der Kirche, sie im Brautkleid, er in einem gut sitzenden Smoking. Die Spitzen des Anstecktuchs zeigten ein wenig zu weit nach links, nicht ganz perfekt. Weber suchte in den Augen des Bräutigams nach einem Zeichen, versuchte sich zu erinnern, was der Mann auf dem Bild wohl gefühlt hatte, den linken Arm um die Hüfte der Braut gelegt.
Hinter ihm glitt Laura durchs Zimmer, baute sich vor dem Bücherregal auf, streckte sich - tadellose Waden -, nahm ein Buch mit rotem Einband, setzte sich auf die Couch, schlug die Beine unter und las.
Weber spielte mit dem Gedanken, einen langen Spaziergang zu machen, in strömendem Regen, - wenn es sich denn einrichten ließe-, auf einer Brücke zu rasten, sich am Geländer abzustützen und schließlich, mit einem eleganten Sprung – aber Weber fand, so sehr er sich auch mühte, keinen Grund dazu. Lauras linker Fuß wippte, die Zehen blieben dabei steif.
„Soll ich dir vielleicht etwas kommen lassen, wenn dir die Suppe nicht gereicht hat?“, fragte sie.
„Nein, danke“, sagte Weber und dann, mit einigem Abstand: „Du bist ein Engel.“
Laura blätterte eine Buchseite um und nickte ihm ohne Mienenspiel zu.
Weber hatte die Hände unter den Kopf geschoben und starrte in der Dunkelheit des Schlafzimmers an die Decke. Laura lag neben ihm, von ihm gewandt, ihr Po zwei, drei Handbreit von seiner Hüfte entfernt. Machte keinen Mucks. Wie tot.
Irgendwann musste Weber eingeschlafen sein, denn am nächsten Morgen wachte er wieder auf.
Dann in der S-Bahn – Weber hatte den Wagen nicht genommen, war einem Impuls gefolgt, wollte nicht mehr in Wände gehüllt durch die Stadt fahren, wollte sich unters Volk mischen. Dann in der S-Bahn: Eine Frau, vielleicht fünfundzwanzig, blonde Haare, etwas länger als bei einer Pagenfrisur, vielleicht hätte man Pony dazu sagen können, damit kannte sich Weber nicht aus. Lehnte an einer Stange, hielt ein Buch in der Hand und las, ihre Lippen bewegten sich mit; neben Weber, der bequem saß, hustete ein alter Mann, zwei Schulkinder stritten sich lautstark, die ganze Bahn lärmte und tönte, doch Weber, wie besessen von den Lippen der blonden Frau, lauschte und lauschte. Blendete das Husten aus, dann die Schulkinder, das Tönen und das Lärmen, blendete alles aus und er lauschte und da, so laut wie das Fallen eines Blattes, hörte er ihre Stimme. Weber lehnte sich vor, bewegte seine eigenen Lippen im Takt, die Bahn kam zum Stehen, Leute drängten sich an der blonden Frau vorbei, der hustende Mann neben ihm räumte das Feld, Menschen kamen, Menschen gingen, Weber blieb und als die Bahn sich wieder in Bewegung setzte, und der Platz neben Weber frei geblieben war, stand sie noch da, die Stange im Rücken und las. Weber klopfte, einer Kindheitserinnerung folgend, auf den Platz neben sich, und dachte flüsternd: „Mein rechter, rechter Platz ist frei.“ Die blonde Frau schaute auf, wie aus einem Traum geschreckt, musterte die Hand – die Hand mit dem goldenen Ring, in Gottes Namen, was tat er hier -, musterte Weber, zwinkerte über zwei volle Backen – sie hatte gut und gerne zehn, zwölf Kilo zu viel, wie Weber nun sah – und ließ sich mit viel Elan neben ihn fallen, seufzte auf, rieb die Schultern an der Scheibe hinter ihr und machte einige Geräusche, wie sie sonst nur alte Männer machten, wenn sie sich aus einem Mittagsnickerchen hochquälten.
„Richtig gut, zu sitzen“, sagte Weber.
„Verheiratet“, sagte sie, ohne aus dem Buch aufzusehen.
Und Weber, der sonst nur über Suppe redete, antwortete: „Verwitwet.“
„Meinte mich.“
„Nein“, sagte Weber. „Meinten Sie nicht.“
Und da schaute sie aus ihrem Buch hoch, strich mit einer Hand über Webers goldene Armbanduhr und sagte: „Nein, meinte ich nicht.“
„Musst du heute wieder weg?“
„Wenn es dir nichts ausmacht.“
„Tut es nicht“, sagte Laura und löffelte lautlos.
Weber stand auf, nahm seinen Teller und brachte ihn in die Küche, zog sich den Mantel an und auch die Schuhe, ging noch einmal ins Esszimmer zurück und fragte: „Soll ich dir etwas mitbringen? Vielleicht ein paar Blumen? Orchideen magst du doch.“
„Nicht nötig“, sagte Laura. „Du bist ein Schatz.“
Weber lief ein schmieriges Treppenhaus nach oben, es roch nach Ammoniak. Katze wahrscheinlich. Weber nahm zwei Stufen auf einmal, die Tür wurde ihm aus der Hand gerissen. Die blonde Frau in Jeans und dunkelgrünem Army-Shirt: Weber stieß sie gegen die Wand im Flur wie ein Teenager, presste seinen Mund auf ihren, drückte mit einer Hand gegen ihre linke Brust. Sie rieb ihren Fuß an seiner Wade, fuchtelte mit einem Arm die Tür zu. Weber brachte seine Hände unter ihren Po, spielte den starken Mann, hob sie ein Stück weit hoch und wollte sie ins Schlafzimmer tragen, sein Rücken schmerzte, er ächzte auf, sie schlug ihm auf die Schultern, zeigte ein breites Lächeln und flüsterte: „Der Gedanke zählt.“ Sie entwand sich ihm, entkam ins Schlafzimmer, Weber streifte die Schuhe ab, die Socken fühlten sich pappig auf dem Teppich an, auf dem Weg ihr nach: Ein Blick in eine chaotische Küche. Eine Bratpfanne hing in der Spüle und weichte in Schaumwasser ein.
Im Schlafzimmer präsentierte sie ihren Hintern, hockte auf allen Vieren im Bett, die Decke war zusammengelegt, das einzige Fenster auf gleicher Höhe mit den Spitzen der beiden Kopfkissen. Sie schlug sich mit einer Hand auf ihren Hintern, genau dort, wo die Tasche der Jeans war. Es patschte. Weber stürzte sich auf sie, brachte eine Hand zwischen ihre Beine, sie seufzte auf, rieb sich an ihm, irgendetwas drückte gegen Webers Schritt, er schloss die Augen, sie klemmte seine Hand zwischen ihren Schenkeln ein.
„Wär’s nicht schön, wenn du einfach bleiben könntest?“, fragte sie, fasste grob nach Webers Arm und drapierte ihn um sich.
Weber schaute auf die fleckige Decke ihres Zimmers. „Ja, das wär’ echt schön“, sagte er.
„Deine Frau ist nicht tot.“
„Irgendwie doch“, sagte Weber.
„Komm, geh zu ihr“, sagte sie und nahm grob seinen Arm von sich.
Weber drehte sich um, legte sich auf sie, vergrub den Kopf zwischen ihren Brüsten, sie schlug ihm auf die Schultern.
„Du weinst doch jetzt nicht.“
„Ich kann dir zeigen, dass ich dich liebe, wirklich“, sagte etwas in Weber.
Das Trommeln hörte auf. Die Brüste waren weich und warm, ein Heilsversprechen. Webers roter Teppich.
„Willst du woanders hinziehen? In ein größeres Haus? Möchtest du vielleicht ein paar neue Sachen zum Anziehen? Magst du Orchideen?“
Sie drückte ihm die Fingernägel in die Schultern, stieß ihn von sich und sagte: „Raus.“
„Ich hab dir Orchideen mitgebracht“, sagte Weber.
„Danke, ich stell sie nachher in eine Vase“, Laura lächelte zart. „Ich glaube, ich hab noch eine.“ Laura stand von der Couch auf und glitt an ihm vorbei, aus der Küche hörte er sie sagen: „Geht es dir nicht gut? Du klingst, als brütest du etwas aus.“
„Vielleicht ist die Allergie wieder da“, sagte Weber.
„Die hast du seit Jahren nicht mehr gehabt.“
„Vielleicht wegen der Orchideen.“
Lauras Po wieder zwei, drei Handbreit von seiner Hüfte entfernt. Weber hatte die linke Hand unter seinem Kopf, mit der rechten versuchte er, sich einen runterzuholen und dachte dabei an die warmen, weichen Brüste; er blieb schlaff. Weber führte eine Hand an Lauras Schultern, seine Lippen bewegen sich und machten Schluss, mit klaren, starken Worten. Sagten so etwas wie: Ich bin nicht glücklich mit dir. Und du doch auch nicht. Es passt einfach nicht mehr. Siehst du es nicht. Du saugst das Leben aus mir raus.
Weber gab keinen Ton von sich.
Weber saß in der S-Bahn und starrte auf eine leere Stange. Schulkinder stritten im Hintergrund.
„Du musst dich damit begnügen.“
Weber drehte sich müde zu der Stimme. Ein Mann saß neben ihm, das linke Bein übergeschlagen, glattrasiertes, markantes Kinn, auf der Lippe aber ein buschiger Schnurrbart, ein Suppenfänger. Darüber eine dunkle Sonnenbrille, wie aus einem Agentenfilm.
„Ich glaub nicht, dass wir uns kennen“, sagte Weber.
Die Lippen des Mannes zuckten, er machte eine große Geste und breitete die Arme aus, fast schlug er Weber gegen die Brust.
„Ich hab da eine Theorie“, sagte der Mann und drehte den Kopf. „Ich glaube, das Leben ist wie eine Zugfahrt, man denkt, wenn man nur kurz einschläft, dann verpasst man den richtigen Bahnhof, aber ich will dir ein Geheimnis sagen.“ Der Mann beugte sich zu Weber. „Es gibt gar keinen roten Teppich. Das Einzige was du machen kannst, ist irgendwo auszusteigen, dir einen Eimer Farbe zu schnappen und dann pinselst du einfach …“
Weber riss dem Mann die Sonnenbrille vom Kopf und sah in seine eigenen Augen. Weber riss dem Mann den buschigen Schnauzer aus dem Gesicht und ein Schuljunge hinter ihm rief mit glasklarer Stimme: „Guck mal, Zwillinge.“
Der andere Mann nahm behutsam Sonnenbrille und Schnurrbart aus Webers Händen und verstaute sie in einer Manteltasche.
„Ich muss das nicht machen“, sagte er. „Ich wollte dir nur einen Gefallen tun. Für mich war mein Leben nicht das Richtige. Aber, mein Gott, schau dir Laura an. Sie hat das nicht verdient. Kannst du dir vorstellen, wie unglücklich sie ohne mich wäre? Willst du das verantworten? Sie ist eine gute Frau, dich kann sie bestimmt glücklich machen.“
In Webers Kopf nichts: Nur eine Leere.
„Soll ich dich etwas genügsamer machen? Ein paar Gedanken weniger? Vielleicht ein schönes Hobby, damit du auf andere Gedanken kommst? Du könntest ja kochen, dann hätte sie mehr Zeit sich zu entspannen.“
Der Zug hielt an, der Mann stand auf, Weber wollte ihm folgen, doch der Mann schaute zu ihm herunter und sagte: „Dein Platz ist bei ihr. Und, mal ehrlich.“ Der Mann lächelte. „Es ist ja nicht so, als hättest du eine Wahl, nicht wahr.“ Der Mann lächelte noch breiter, auch ehrlicher: „Mann, so muss sich Gott gefühlt haben, als er mit Adam gesprochen hat.“
Der Mann stieg aus, Weber eine Station später.
Als er nach Hause kam, fand er Laura. Sie saß am Esszimmertisch. Vor sich hatte sie eine braune Vase mit einem Strauß verdorrter Orchideen.
„Hast du mal dran gedacht, mich zu verlassen?“, fragte Weber.
Laura zog mit spitzen Fingern Blütenblatt um Blütenblatt heraus.
„Frag doch nicht so was, ich kann dich nicht verlassen“, sagte Laura.
„Und wenn ich dich darum bitte?“, fragte Weber.
„Dann bitte mich darum.“
Weber holte tief Luft, doch kein Wort kam heraus, er presste seine Fingernägel in die Handflächen.
„Es bringt nichts“, flüsterte Laura sanft. „Ich hab’s versucht, so oft schon. Soll ich uns etwas kommen lassen?“
„Du bist auch-,“ sagte Weber. „Wir sind Platzhalter.“
„Ich bin deine Frau. Ich will dich glücklich machen.“
Und da hörte Weber die Regentropfen, die schwer auf das Dach des Hauses prasselten und er griff mit Händen, die blutig waren, so fest hatte er die Nägel hineingedrückt, nach seinem Mantel.
Laura zog sich eine Strähne über das linke Auge. „Vielleicht sollten wir mal in den Urlaub fahren oder irgendwohin, wo öfter die Sonne scheint.“