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Politisch korrekt? Politische Korrektur!
"Ich hasse Klischees. Eines sitzt neben mir und hat sich gerade eine Cola bestellt. Ich kann dicke Menschen nicht ausstehen, zumindest auf Langstreckenflügen und wenn ich neben ihnen sitzen muss. Touristenklasse eben. Er ist aufgewacht und hat endlich Arme und Beine in den ihm zustehenden Raum zurückgezogen. Jetzt will er sich auch noch mit mir unterhalten. Von mir, einem Ausländer erwartet er, dass ich seine elenden texanischen Slang zu verstehen hätte. Es ist sein erster Besuch in Europa, er fragt mich, wo ich denn leben würde. Ich lüge ihn an und behaupte aus Norwegen zu kommen. Norwegen fragt er, wie lange fährt man denn da von Paris aus?"
"Stopp. An dieser Stelle haben wir etwas zu korrigieren", unterbrach mich mein Supervisor. Ich hörte ihn an seinem Schaltpult hantieren, kurz einige Eingaben am Steuerrechner vornehmen. Es folgte das dumpfe Summen der Spulen und der unvermeidliche violette Nebel begann vor meinem inneren Auge aufzusteigen.
"Beschreiben sie die Szene bitte nochmals von Anfang an", sprach er mit der immer gleiche Monotonie, die der Herzlichkeit eines Kühlschranks gleichkam, aber zu seinem Beruf gehören zu schien, zumindest aber zu den Spielregeln dieses Experimentes. Er sollte seine Antwort bekommen:
"Ich steige in das Flugzeug und suche meinen Platz. Es ist ein Fensterplatz, die ganze Sitzreihe ist noch leer. Ich setze mich hin, verstaue mein Handgepäck, hole mir ein Buch heraus."
"Was für ein Buch?"
"Dan Brown, Illuminati."
"Gut. Was passiert dann?"
"Ich will anfangen zu lesen, komme aber nicht dazu. Ein Mädchen, nein, eine junge Frau ist gekommen."
"Beschreiben sie sie bitte."
"Sie ist blond, schlank. Vielleicht Mitte zwanzig, blaue Augen, attraktiv bis zum Abwinken. Sie spricht mich an, Englisch mit deutschem Akzent. Ich sitze auf ihrem Platz, ich entschuldige mich. Sie lächelt, wir einigen uns, die Plätze zu tauschen. Also bleibe ich sitzen wo ich bin."
"Gut. Und dann?"
"Das Bild ist irgendwie undeutlich. Da fehlt ein Stück, mittlerweile fliegen wir. Der Platz neben mir ist leer, sie kommt von der Toilette zurück, lächelt mich an. Ich spreche sie an wegen des Buches, das sie hat auf dem Sitz liegen lassen."
"Welches Buch"
"Ein Taschenbuch, Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit."
"Was antwortet sie?"
"Sie sagt, es sei ihre Art und Weise es in diesem Gefängnis auszuhalten, so etwas zu lesen. Und dann frage ich sie, ob sie in Paris bleiben würde oder noch weiterfliegt."
"An dieser Stelle können wir für heute abbrechen."
Das Summen der Spulen ebbte ab, ich wurde aus der Röhre gefahren, Anita steckte alle Elektrodenkontakte ab. Ich hatte mein T-Shirt durchgeschwitzt und war müde aber froh darüber, dass die Sitzung beendet war. Ich setzte mich auf und begann, mich wieder anzuziehen.
"Dann bis morgen Herr Helmer." Nicht einmal zum Abschied benutzte mein Supervisor einen normalen Tonfall. Das Leben eines empirischen Psychologen, ein einziger Alptraum dachte ich mir und antwortete:
"Bis morgen."
Er verließ das Labor, Anita war mir noch dabei behilflich, die letzten Spuren der Klebeelektroden von meiner Stirn zu entfernen. Sie lächelte mich in seltsamer Vertrautheit an. Sie war blond, schlank, hatte blaue Augen, die perfekte Arierin.
Ich verließ das Institutsgebäude, machte mich auf meinen obligatorischen Spaziergang. Es war verordnete Zerstreuung, die ich meist damit verbrachte, ziellos durch die Straßen zu laufen, die Schaufenster der Geschäfte zu inspizieren oder einfach nur den Menschen zuzusehen, wie sie den Tätigkeiten ihres normalen Alltages nachgingen. Es blieben mir zwei Stunden Zeit, die ich mich ganz normal verhielt, wobei ich mir jedoch die letzte halbe Stunde dafür vorbehalten hatte, eventuelle Beobachter abzuschütteln.
Als ich schließlich das Restaurant betrat, war ich mir sicher, dass mir niemand gefolgt war. Eric hatte den Tisch in der Ecke besetzt. Von dort aus war der ganze Raum gut zu überblicken und wir waren ungestört, eine gute Wahl des Treffpunktes wie immer. Ich war angekommen auf der anderen Seite meines Lebens. Eric verkörperte die Kameradschaft, den Ausgangspunkt von welchem aus ich diese Reise angetreten hatte.
"Hallo Eric, schön dich zu sehen." Wir schüttelten uns die Hände.
"Du siehst müde aus", bemerkte Eric. Ich konnte ihm nicht widersprechen:
"Ja, es war ziemlich intensiv heute." Eric forderte mich auf, den Verlauf der Sitzung zu schildern. Ich ging kurz auf die ersten zwei Stunden ein, um dann auf das Finale zu sprechen zu kommen.
"Dann wollte er drei Korrekturen vornehmen. Die ersten beiden waren Kleinigkeiten, aber die dritte..." Eric hatte die Augenbrauen hochgezogen und unterbrach mich:
"Nun erzähl' schon." Mir fiel auf, dass er richtig ungeduldig war, so kannte ich ihn gar nicht. Ich kramte in meinem Gedächtnis, um die - theoretisch - gelöschte Wahrheit zu Tage zu fördern:
"Es ist so ungefähr vier Jahre her, ich war auf dem Weg von New York nach Hause, der Flug ging über Paris. Neben mir saß dieser fette amerikanische Neger, du weißt schon, diese übel ungebildete Sorte, die Cola säuft und Burger frisst. Keine Ahnung warum der Typ eigentlich nach Europa wollte."
"Und deine Beschreibung passte ihnen nicht?", fragte Eric voller Ungeduld, ohne mich ausreden zu lassen.
"Offensichtlich", antwortete ich, "denn es folgte eine massive Korrektur." Es war eigentlich logisch, was geschehen war. Die offensichtlichen Anzeichen von Rassismus mussten korrigiert werden, wollte man das Ziel erreichen, einen Skinhead zu resozialisieren.
"Und was hast du gesehen?", fragte mich Eric.
"Es war seltsam", entgegnete ich, "die äußeren Umstände blieben unverändert. Es ging los, nachdem ich in das Flugzeug gestiegen war; Irgendwie schräg..."
Unsere Unterhaltung wurde unterbrochen, die Bedienung war an unseren Tisch gekommen und hatte mir ein Bier und für Eric ein Mineralwasser gebracht. Nachdem wir angestoßen hatten, musste ich meine Schilderung fortsetzen:
"An Stelle des Negers tritt ein älterer Herr. Wir unterhalten uns, ich erfahre, dass er eigentlich Isländer ist, jetzt aber in Norwegen lebt. Er war auf einem Kongress und ist auf dem Heimweg."
Ein Wissenschaftler?", fragte Eric nach.
"Ja", antworte ich, "aber ich kann mich nicht mehr erinnern, welches Fachgebiet, vielleicht war er Mediziner. Auf jeden Fall kommen wir ins Gespräch. Es ist eine kurze Unterhaltung von seltsamer Intensität."
Normalerweise hatte ich mich immer an alle Details der Visionen erinnern und diese auch wiedergeben können, in diesem Fall aber schien sich ein violetter Nebel des Vergessens über wesentliche Details gelegt zu haben.
"Eric, es tut mir Leid, ich weiß es nicht mehr."
Erics Blick nahm etwas Flehentliches an.
"Bernhard, ich bitte dich. Bisher ging es doch immer. Konzentriere dich."
In meinem Kopf kreisten drei Versionen, das Original mit dem fetten Amerikaner, die Vision mit dem isländischen Professor und das, was ich meinem Supervisor zu Protokoll gegeben hatte. Es bestand die Gefahr, dass sich alles zu einem Brei verkochen könnte, in welchem die Bruchstücke der Wahrheit auf Nimmerwiedersehen verschwinden würden. Wenn es einen Zeitpunkt gab, etwas zu retten, war dieser jetzt. Wort um Wort arbeitete ich mich vorwärts:
"Das wüste Klima, die natürliche Auslese, nur die Stärksten kamen durch. Er erwähnt einen Ort, eine Stadt am Fuße eines Vulkans, Sneif... Ich bringe es einfach nicht mehr zusammen, Eric."
"Lassen wir es gut sein."
Es war eben nicht gut. Und Erics resignativer Gesichtsausdruck spiegelte meine eigene Gemütslage wieder. Da saß ich nun mit den verbliebenen Resten, der Mischung aus Erinnerung, Lüge und synthetischer Wahrheit. Aus dem violetten Nebel stiegen Gestalten auf, ein Heer durchsichtiger Menschen, die alten Heiden eben, die sich vor ihrer zwangsweisen Christianisierung nach Island gerettet hatten und sich im Laufe der Jahrhunderte vermischten mit all dem schiffbrüchigen Volk welches das Meer anspülte. Aber es fehlte das Ende. Die Einzelteile ergaben keinen Sinn, keine schlüssige Geschichte, hatten die Seelenlosigkeit einer erschaffenen Realität. Ich begann, mich unendlich erschöpft zu fühlen.
Eric hatte mir angeboten, mich nach Hause zu fahren. Ich nahm das Angebot an, denn ich war müde, elend müde. Es gibt Tage, an denen man das Gefühl hat, bald krank zu werden, merkt, dass der Körper versucht, ein Heer von übel wollenden Eindringlingen zurückzuschlagen und alle Energie für diesen Kampf verbraucht. Für den Rest des Lebens bleibt dann nichts übrig. So fühlte ich mich, nur dass ich nicht mit Bakterien oder Viren zu kämpfen hatte, sondern mit einer unmenschlichen Schläfrigkeit. Ich war in Erics Auto eingestiegen, starrte teilnahmslos aus dem Fenster, vor dem die nächtliche Stadt vorbeizog, ähnlich fatalistisch wie die Bilder der Erinnerung in meinem Gedächtnis. Ich sah ohne zu sehen, nahm erst wahr, dass wir angekommen waren, als Eric mich wachrüttelte und meinte:
"Wir sind da."
Erst nun bemerkte ich, dass ich nicht wusste, wohin wir gefahren waren. Ich hatte mich aus dem Sitz gezogen, auf die geöffnete Tür gestützt hing ich schwitzend in der kalten Abendluft und fühlte mich wie ein Zombie. Offensichtlich befand ich mich in einem Neubaugebiet, in der Dunkelheit zu erkennen waren einige Baracken, Baumaschinen, Kräne. Eric war ebenso ausgestiegen, auf meine Seite herübergekommen.
"Bernhard, es tut mir Leid." In seiner Hand hielt er eine Pistole, mir fiel der aufgeschraubte Schalldämpfer auf. Eigentlich hätte ich nun aus meiner Trance aufwachen müssen, zurück finden in die Normalität, doch meine Kraft reichte gerade einmal für eine halbe Frage:
"Eric, wir sind doch Kameraden, warum..."
"Bernhard, bitte keine Fragen mehr jetzt. Das ist besser für uns beide. Geh' da 'rüber" Er deutete mit seinem Arm in die Dunkelheit. Ich schüttelte den Kopf.
"Nein, Eric." Ich mochte körperlich am Ende sein, nicht die Kraft haben, aufrecht zu stehen. Wenn ich aber etwas im Laufe dieses Experimentes gelernt hatte, dann war es, Widerstand zu leisten.
"Wenn du mich erschießen willst, dann musst du es hier tun. Hier in deinem Auto." Ich ließ mich wieder auf den Beifahrersitz fallen und fügte hinzu:
"Und vorher wirst du mir erklären, warum." Ich bemerkte, wie Eric nervös wurde und seine mühsam gewahrte Fassung verlor. Ich hatte ihn aus dem Konzept gebracht, seine Pläne durchkreuzt.
"Mensch Bernhard, sei doch vernünftig, steh auf, verdammt ich muss... "
"Nein. Du schuldest mir eine Erklärung. Die Kameradschaft schuldet mir eine Erklärung."
"Bernhard, du weißt doch, dass es nur einen Grund geben kann."
"Verrat."
"Oder die Gefahr des Verrates. Du hast dich verändert in letzter Zeit. Bisher hast du das alles prima durchgehalten, aber in letzter Zeit häufen sich die Anzeichen, dass du einknickst."
"Sieh mich an Eric! Schau mir in die Augen. Sieht so jemand aus, der nicht Widerstand leisten kann? Drück' ab, wenn die Antwort ja ist."
"Verdammt ich weiß es nicht, warum fragst du das ausgerechnet mich?"
"Weil du der einzige bist, den ich fragen kann", stellte ich sarkastisch fest. Eric wurde zunehmend unsicherer. Die Situation erinnerte mich an ein Schachspiel, in welchem nur noch die beiden Könige verblieben sind. Ich war zu sehr betäubt, um mich körperlich mit Eric auseinanderzusetzen und er war emotional paralysiert, zerrieben zwischen Pflichterfüllung und den sichtlich vorhandenen Resten unserer Freundschaft.
"Wir mussten eine Entscheidung treffen, es blieb keine andere Wahl und auch keine Zeit mehr. Ich habe mich der Stimme enthalten."
"Und dann wurde das Los geworfen, wer den Job zu erledigen hat. Wie in einem schlechten Film", bemerkte ich bitter.
Erics Schweigen bewies, dass ich recht hatte.
"Ich will dir mal sagen, was Undankbarkeit ist Eric. Von euch feigen Säcken hat sich keiner getraut, sich dem allem hier zu unterziehen. Wir standen kurz vor einer Losentscheidung, der ihr nur entgangen seid, weil ich mich freiwillig gemeldet habe. Schon vergessen?" Eric schwieg.
"Sein Leben riskieren ist das eine, Eric. Aber seine Persönlichkeit? Schon mal mit dem Gedanken gespielt, du hättest noch 40 Jahre vor dir, müsstest aber als jemand ganz anderer herumlaufen? Als jemand, für den andere die Entscheidung treffen, wer und wie er ist? Vielleicht als das letzte Arschloch!" Eric wandte den Blick von mir ab und sah auf die Waffe in seiner rechten Hand.
"Bernhard, ich bitte dich. Tu' mir das nicht an. Steh' jetzt auf, bitte."
"Na los, drück' ab! Worauf wartest du. 95 Kilo, ich wiege 95 Kilo. Schon einmal alleine jemanden von diesem Kaliber geschleppt? Und noch etwas: Die Blutflecken hier in deinem Auto... Du weißt ja, Blut finden sie immer." Ich überließ ihn seiner Verzweiflung. Was hatte er mir nur in das Bier gemischt? Wenn ich nur hätte aufstehen könnte, laufen.
"Berhard, wenn ich dich nun nach Hause fahren würde, was würdest du dann tun?" Eric lehnte mit beiden Armen auf der geöffneten Tür des Wagens. Die Waffe war zur Seite gedreht, zeigte mit ihrer Mündung in die Nacht, zwischen zwei Baumaschinen hindurch. Seine Worte katapultierten mich hinaus in ein Universum der Möglichkeiten. Flucht war eine der Optionen, alles hinter mir lassen, die Kameradschaft, meinen Supervisor vom Institut für empirische Verhaltensforschung, die unerreichbare Vision namens Anita, meinen Arbeitsplatz in der Friedhofsgärtnerei. Oder ich könnte die Fronten zu wechseln, bei Polizei oder Verfassungsschutz eine neue Identität erbetteln um den Preis eines Geständnisses. Aber was würde dann mit Eric geschehen und all den anderen Kameraden?
"Schlafen", antwortete ich.