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Postkutschfahrt
Vor dem Gutshaus im brandenburgischen Wittich schickte sich die Wirtschafterin, Eleonore Bösel, an, unter das blau bestickte Tüchlein des Zehrkorbs den Bittbrief an das Finanzsekretariat des Herrn vom und zum Stein sorgfältig zu verstecken.
Der neue Frieden war noch nicht alt genug und man wußte nicht, was für ein Ungemach einem während der Tagesreise ereilen konnte.
Eleonores Herrin – die ihr bisweilen als eine gute Freundin gegenübertrat - redete pausenlos auf sie ein, dass sie auf sich aufpassen solle, insonders möge sie ein waches Auge auf das Schreiben haben, da es ja so wichtig sei und für die Existenz des Gutes von außerordentlicher Bedeutung wäre.
Dabei knüpfte sie ihrer Mamsell die Bänder der Schute zu einer ansehnlichen Schleife unter dem Kinn zusammen.
Eleonore knickste als sie sich von der Herrin verabschiedete.
Die Baronesse indessen hatte ein weißes Seidentuch aus dem Ärmel Ihres Kleides gezogen, um es verschämt ans rechte Auge zu drücken.
Eleonore wußte natürlich nicht, dass die getrocknete Träne weniger ihrer Person galt als mehr der Unterstreichung eines innigen und leidenschaftlichen Gebetes, dass das Schreiben an das Finanzsekretariat unversehrt ankommen und seine Wirkung tun möge.
Artig erwiderte Eleonore aber „das Adieu“, in dem sie und im Gehen zurückwinkte.
Der Zehrkorb war leicht, so dass Eleonore ihn in der linken Armbeuge tragen konnte.
Sie ging abkürzend den schmalen Weg hinter dem Pferdestall vorbei, um zur Poststation an der Landstraße vor dem „Kühlen Krug“ zu gelangen.
Dieser sandige Pfad war denkbar ungeeignet für die schmalen Sonntagsschuhe aus Lackleder, welche sich Eleonore extra für die Fahrt nach Berlin angezogen hatte. Aber die Erfüllung ihres Auftrags bedarf eines gediegenen Habitusses.
Die Blütenfülle von Klatschmohn und Getreidenelken auf der Sommerwiese, an der sie vorbeilief, drängte in ihrem Kopf eine hübsche kleine Melodie vor.
Sie erinnerte sich jetzt sogar an den Namen des Komponisten, einem gewissen Schubert aus Wien. Der Neffe der Baronesse ließ sich aus einem Leipziger Verlag des öfteren moderne Partituren zuschicken, um sie sofort vom Blatt auf dem Klavier zu spielen.
Der Weg hob an und endete direkt neben einer stattlichen, alten Eiche, die dem Vorplatz zum „Kühlen Krug“ Schatten spendete. Dieses Wirtshaus galt den Postreisenden als Warteort für ihre langen oder kurzen Fahrten, bot Speisen und Getränke an und hatte in einem Nebengebäude das Postlager, samt Pferdestallung und Ersatzkutsche, so denn eine umfangreiche Reparatur unvermeidlich war.
Aber ein Schmied konnte rasch herbeigerufen werden, um einem gebrochenen Rad einen neuen eisernen Reifen zu geben.
Eleonore stellte Ihren Korb auf einen der vier hölzernen Tische und setzte sich auf einen davor stehenden Stuhl. Nun konnte sie eine Weile die Leute, die da anscheinend auch auf den gelben Wagen warteten, in Ruhe betrachten.
Mamsell Giesbert erkannte sie an Ihrem dunkelgrünen Kleid und der am Hals fest geschlossenen und hart gestärkten Bluse, das Jabot passte wegen seiner Altmodischkeit nicht ganz dazu, Eleonore erschien es über dies viel zu groß.
Die Mamsell unterhielt sich mit einem ihr namentlich nicht bekannten Bauern, der einen für diesen Wochentag zu festlichen Anzug trug. Er schien nervös zu sein und zupfte ständig an seiner vergoldeten Uhrkette, die in einer kleinen Tasche seiner gelben Weste steckte.
Aus der Tür des „Kühlen Krugs“ trat die Wirtin mit einem dickwandigen Bierseidel.
Mit einem fröhlichen „guten Morgen, die Herrschaften“ in die Runde ging sie zu einem Tisch, der neben einer Pergola, die völlig umschlossen von Ranken und Blüten war und stellte einem jungen, blassen Mann, der Eleonore jetzt erst auffiel, das Getränk hin.
„Wohl bekomms der Herr!“
Dann fragte sie beim Zurückgehen die Anwesenden:
„Haben die Herrschaften irgendeinen Wunsch, den ich erfüllen kann?“
Dankendes Kopfschütteln und die Wirtin verschwand mit samt ihres verbindlichen Lächelns im Wirtshaus.
Eleonore sah immer noch zu dem jungen Mann hin, der begonnen hatte, sein helles Bier in kleinen Schlucken zu trinken. Ihr fiel eine hölzerne Krücke auf, die gegen den Tisch gelehnt dicht bei ihm stand.
Ein Kriegsversehrter dachte sie und „armer Bursche“. Dennoch erkannte sie in den ebenmäßigen Gesichtszügen des Mannes keine Verbitterung, wie man sie bei vielen der Geschädigten entdecken konnte; sie meinte sogar eine gewisse Heiterkeit zu sehen und zu empfinden.
Das Posthorn riss sie aus den Gedanken. Es wurde erstaunlich gut geblasen.
Wenig später hielt ein nicht sehr großer gelb- schwarzer Wagen, noch in eine Staubwolke gehüllt, vor dem Wirtshaus.
Der beleibte Postillion sprang noch vor seinem dünne Assistenten herunter und begrüßte pauschal die vermuteten Reisenden.
Die Wirtin war indessen mit einem Krug verdünnten Weins und einem wie immer überaus freundlichen Lächeln auf dem Gesicht aus dem Haus getreten und überreichte ihn dem durstigen, königlichen Postmeister.
Der Mann blinzelte der Frau mehrdeutig zu und machte gleichzeitig seinem Assistenten eine dienstliche Anweisung:
„Karl, gib den Pferden nicht zu viel Hafer in den Sack, du sitzt ja nicht hinter Paul!“
Mit Paul war eines der Pferde gemeint und Karl hieß der dünne Posthelfer.
Der königlich Postillion fuhr heute, es war ein Montag, vornehmlich Briefe und sperriges Postgut, das festgezurrt erstaunlich hoch auf dem Dach und über dem Kofferraum Platz gefunden hatte. Die gespannten Blattfedern des Gefährtes hätten einem Kenner das Gewicht erahnen lassen können.
Nun hatten sich vor dem „Kühlen Krug“ in Wittich nur vier Menschen zur Reise in Richtung Berlin eingefunden, Eleonore Bösel, Mamsell Giesbert, der Bauer in hellgrauem Gehrock und der junge Mann, deren Name Eleonore erst erfahren sollte.
Sie konnten es sich bequem machen, denn die Kutsche war für sechs Reisende ausgelegt.
Sicher war es für die Fahrt ganz angenehm, nicht so eng beieinander zu sitzen, denn die Sonne erwärmte allmählich alles, was sie beschien, sommerlich heiß.
„Nein, Mademoiselle, sie können sich ruhig in Fahrtrichtung setzen, mir macht es nichts aus, rückwärts zu fahren“, erklärte der Bauer und reichte Eleonore beim Einsteigen die Hand. Die Damen hatten nebeneinander Platz genommen. Mamsell Giesbert schob ihren Korb unter die Sitzbank und Eleonore behielt den ihren auf dem Schoß.
„Lassen sie sich man Zeit, junger Mann“, rief der Postillion dem Kriegsversehrten zu, der sich bemühte, mit der hölzernen Krücke schnell an das Gefährt zu kommen,
„...die Pferde müssen noch aussaufen“, und lachte.
Eleonore ergriff den ledernen Koffer des jungen Mannes, den er nicht ohne Anstrengung mit der rechten Hand in die Kutsche schob. Sie war schwere Lasten zu bewegen durch die Arbeit im Hause Ihrer Herrin gewöhnt.
„Vielen Dank, Fräulein,“ sagte er und sprang behende herauf; er konnte sich Visavis vor Eleonore auf die Bank setzen.
Nun entdeckte sie, dass dem jungen Mann der rechte Unterschenkel fehlte, das Hosenbein war entsprechend gekürzt und vernäht.
„Am Rhein hat es mich erwischt“, bemerkte der junge Mann, der in den ratlosen Gesichtern der Mitreisenden eine seine Verletzung betreffende Frage erahnte.
„Einem Vetter von mir ist es genauso ergangen“, plauderte der Bauer, von der Peinlichkeit der Situation nun erlöst, „... das Leder der Krücke wird durch den ständigen Schweiß ganz hart. Sie müssen sich um den Steg sauber ein paar alte Tücher wickeln. Ich kann mir vorstellen... “
Mamsell Giesbert unterbrach die Erklärung des Bauern:
„Lieber Mann, vielleicht benötigt der Herr ihre Ratschläge gar nicht.“
„Oh doch,“ entgegnete der junge Mann diplomatisch,“ ich habe mir oft darüber Gedanken gemacht, wie ich die Rötungen unter der Achsel verhindern kann, aber vielleicht ist das tatsächlich kein Thema in Gegenwart der Damen.“
Auf dem Gesicht des Bauern zeichnete sich eine zufriedene Miene ab und Mamsell Giesbert fühlte sich als Dame wahrgenommen.
Die plaudernden Reisenden erschreckten etwas als der Postillion in den Wagen „Es geht los“ rief.
Das Gefährt setzte sich in Bewegung und die Pferdehufe knallten auf dem kleinen Kopfsteinpflaster beim Anfahren der schweren Kutsche.
Karl blies wieder sauber ins Horn als sie Wittich verließen.
Man erreichte einen erdigen Weg und die Räder liefen leise. Gemächlich durchfuhr das Fahrzeug die Landschaft. Vorbei an kleinen Feldern, deren reifes Korn ein wenig wogte, an Wasserläufen mit Weiden, die gerade beschnitten wurden.
„Das Gehölz ist weich“, erwähnte der Bauer, der auch aus dem Fenster gesehen hatte,“ da kann man gut drei Körbe am Tag flechten „.
Eleonore hatte aus ihrem Zehrkorb eine geklapptes Brot mit Käse entnommen und fragte den jungen Mann, ob er es mit ihr teilen wolle.
„Vielen Dank, gern“.
„Sie fahren auch nach Berlin?“, fragte Eleonore, die das Gesicht ihres Gegenüber immer sympathischer fand.
„Ja, ich werde eine Stelle als Zeichner beim königlichen Oberbaurat Schinkel antreten.“
„Oh, wie schön für sie.“
„Er braucht Leute für die Konstruktionszeichnungen der Neuen Wache unter den Linden, die der König in Auftrag gegeben hat. Zu anderem werde ich nicht mehr taugen.“
„Ich bitte Sie, dass ist eine sehr ehrenvolle Aufgabe und eine hervorragende Arbeit, die sie da leisten wollen. Und – wie viele junge Männer hat der Krieg verletzt... die jetzt keine Aufgabe mehr haben.“
Dem jungen Mann wurde bewußt, dass seine Bemerkung über seinen körperlichen Zustand zu provokativ gewesen ist und beeilte sich ein anderes Thema anzusteuern.
„Ich heiße übrigens – wie mein künftiger Brotherr – Karl-Friedrich, Karl – Friedrich Meißner, wenn ich mich vorstellen darf.“
„Angenehm“, sagte Eleonore und stellte sich ebenso vor.
Mamsell Giesbert, die inzwischen Strickzeug aus ihrem Korb geholt hatte und die Nadeln emsig bewegte, denn die Straße, die sie fuhren und die sie kannte, war für eine viertel Stunde so eben, dass sich das bewerkstelligen ließ, hörte gezwungener Maßen zu. Auf ihrem Gesicht hätte man eine Art Verzückung in den Worten: - ja, die jungen Leute - lesen können.
Das Gespräch der beiden „jungen Leute“ war inzwischen bei Eleonores Mission, dass sie bei irgendeinem königlichen Finanzsekretär ein wichtiges Schreiben zu offerieren hätte, ein Hilfeersuchen der Baronin, die als gute deutsche Patriotin Gold für Eisen hingegeben hatte, dass Napoleon bekämpft und vertrieben werden solle.
Und nun, da das Gut in Schwierigkeiten sich befinde, könnte es ja sein, dass staatlicher seits...
„Alles?“ platzte es aus dem Munde der Mamsell.
„Wie meinen sie Madame?“ , fragte Eleonore erschrocken zurück.
„Ich meine das Gold, hat ihre Baronesse jeden Goldschmuck eingetauscht?“
Einen Moment zögerte Eleonore, sie wußte im Grunde keine zutreffende Antwort zu geben, antwortete jedoch:
„ Ja, ich denke schon, denn nie wieder habe ich an ihrem Hals oder Finger Gold gesehen.“
Mamsell Giesbert ließ diese Antwort im Raum stehen, erkannte jedoch wie töricht ihrer Frage war.
„Wir werden pünktlich sein“, ließ sich unvermittelt der Bauer vernehmen, er hatte die Taschenuhr aus seiner gelben Weste gezogen und ließ den Deckel aufspringen. Dann fügte er scherzend hinzu: „Es lebe die königliche, deutsche Post.“
Er lehnte sich aus dem Fenster und stellte befriedigt fest, dass der Kirchturm von Teupitz bereits zu sehen war.
„Ich muß nämlich um elf Uhr bei diesem Großbauern Harnack sein, der Halsabschneider, um mir für die Ernte vier Knechte auszubitten. Das Korn ist überreif!“
Seine Bemerkungen interessierten zwar keinen, gaben aber Anlass, mal wieder hinaus zu sehen.
In dem Moment verdeckte ein Waldstück den Blick auf die kleine Stadt in Fahrtrichtung. Aber die Kutsche hatte eine Pflasterstraße erreicht und die Unterhaltung hätte lauter geführt werden müssen.
Karl blies schon ins Horn und kündigte damit das baldige Eintreffen der königlichen Postkutsche an. Sie wurde etwas langsamer, den es ging eine kleine Anhöhe hinauf.
„Darf ich sie, Mademoiselle, in der Poststation zu einem kleinen Glas Wein einladen?“ , fragte Karl-Friedrich.
„Das ist sehr artig, Herr Meißner, wenn es ihnen nichts ausmacht, nehme ich diese Einladung dankend an.“
Während die Pferde getauscht wurden, saßen die drei Reisenden im Schatten eines Jasminstrauchs, der an einer kleinen, absterbenden Pappel hochgerankt war.
Karl-Friedrich entnahm seiner zierlichen aber speckigen Lederbörse einen halben Silbergroschen und war im Begriff, sich vom Tisch zu erheben.
„Was wollen sie tun?“, fragte Eleonore erstaunt.
„Sehen sie den blinden Mann dort neben dem Kücheneingang? Er ist nicht älter als ich, sein Leben wird verblühen, der Krieg...“
„Warten sie, geben sie mir das Geld“, erwiderte Eleonore spontan, das Ansinnen ihres Reisepartners erkennend,
„ich lege noch den gleichen Anteil dazu und wir spenden dem Mann gemeinsam ein wenig mehr...“
Auch Mamsell Giesbert, von diesen Worten in leichte Beschämung getrieben, öffnete ihre Geldtasche und tat einen ganzen Silbergroschen in Eleonores Hand.
„Hier Kind, werfen Sie es für mich in den Hut des Ärmsten.“
Sie wurden als Dank mit einem kleinen Liedchen, dass der so beschenkte mit einer angenehmen Baritonstimme zur Leier sang, belohnt.
Dabei berührte Karl-Friedrich Eleonores Hand und sie ließ ihn gewähren.
„Die Reisenden der königlichen Post nach Berlin wollen dann wieder Platz in der Kutsche nehmen!“ , tönte die Stimme des Postillions über den wirtlichen Platz, ohne allerdings den musikalischen Dank des Blinden gestört zu haben.
Zwei weitere Fahrgäste stiegen mit ein, doch das war den jungen Leuten ziemlich egal, hatten sie doch nunmehr und lediglich Augen und Ohren für sich selbst. Es gab so viel voneinander zu hören, so viel zu sagen.
Mamsell Giesbert nahm es hin und ihre Ohren waren ein nicht störender Gast bei den beiden. Nebenher versuchten ihre flinken Hände auf ebenen Strecken das Strickzeug ordentlich zu handhaben. Hin und wieder aß sie von ihrem Kuchen.
Als Karl nach dreieinhalb Stunden das Posthorn blies und die Ankunft am späten Nachmittag in Berlins Mitte signalisierte, erschien es Eleonore und Karl-Friedrich als sei die Fahrt wie im Fluge vergangen. Und der unangenehme Stadtgeruch machte ihnen nichts aus, sie nahmen ihn gar nicht wahr. Im Gegensatz zu Mamsell Giesbert, die sich ein parfümiertes Taschentuch vors Gesicht hielt.
Sie würde aber nach einer Stunde Gewöhnung diese hinderliche Handstellung aufgeben.
„Adieu – ihr beiden“, wisperte sie – sich als verständnisvolle Vertraute verstehend - und ging ihres Weges.
„Lassen sie mir ihre postalische Anschrift zukommen, Karl-Friedrich, ...bitte ... und rasch, dass ich sie besuchen kann. Ich bin sicher drei Tage in Berlin!“, sprach Eleonore und hielt seine Hand fest.
„Aber ja, wir sehen uns bald wieder!“, entgegnete er und steckte die kleine handgeschriebene Karte mit der Adresse Eleonores in die Rocktasche.
Wenn er nun Geld verdienen wird, vielleicht könnte er sich dann ein künstliches Bein machen arbeiten lassen, einige Apotheken in Berlin verstünden was davon, dachte er und wartete bis die winkende Eleonore hinter der Mauer der Toreinfahrt verschwand.
Und Oberbaurat Schinkel stellte seinen Vornamensvetter, wenige Stunden nach dem die Pferde aus der Postkutsche gespannt wurden, ein.