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Progressive Abschreibung
Isabel... Isabel Pfeifer. Und nichts regt sich mehr.
Ich schlendere durch den dunklen, tristen Wald der Wohnblöcke, der grenzenlos zu sein scheint. Durch einen Wald, in dem der eine Baum dem anderen gleicht. Schwere Tropfen prasseln auf die Strasse, auf die am Rand geparkten Autos und meinen tiefgrünen Regenschirm. Gelegentlich drehe ich ihn und beobachte, wie sich lange Wasserfäden in alle Richtungen zerstreuen und sich in den umliegenden, zahlreichen Pfützen wieder sammeln.
Es ist spät und in vielen Wohnungen brennt kein Licht mehr. Die Fenster verschmelzen vollends mit der Fassade, verraten sich nur ab und wann durch vage Spiegelungen schwacher Leuchtstoffröhren. Doch hin und wieder wird an Gardinen oder Vorhängen das schwachblaue Licht eines flackernden Fernsehgerätes reflektiert, das sich ansonsten im Schwarz eines muffigen Raumes verlöre.
Die Luft hier draussen ist rein und klar. Ich lasse meine Lungen noch zwei, drei Mal fluten, dann klemme ich den Schirm unter die Achsel und stecke mir eine Zigarette an.
Durch Zufall habe ich heute in der Tageszeitung ihre Todesanzeige gesehen. Ich wusste noch nicht einmal, dass wir in derselben Stadt wohnten.
Woran sie wohl gestorben war? „Plötzlich und unerwartet“... vielleicht ein Autounfall. In tiefer Trauer: Vater, Mutter und kein Ehemann. Kein Ehemann.
Ob sie glücklich war? Zumindest war sie nicht verheiratet. Aber ich zweifle keine Sekunde daran, dass sie bis zu ihrem Tod unglaublich schön und vor allem liebenswert war. Denn das war sie schon immer.
Aus den Tiefen meiner Lunge pflanze ich flüchtige Wolken neben Bestehende, die sich in weiter Ferne in Dunkelheit hüllen. Ebenso unsichtbar wie Mond und Sterne. Glücklicherweise werfen rostige Laternen kegelförmig Licht auf den Weg, so dass ich mich voll konzentrieren kann, um sie mir im Geiste vorzuführen.
Wenn ich an sie denke, dann kommen mir einige Worte in den Sinn: Kastanienbraunes, langes Haar, tiefbraune, große, runde Augen, makellose, weiche Haut und volle Lippen. Doch die Komposition dieser Worte vermittelt nur ein subtiles Portrait, das mir kaum zeigt, wer und wie sie war. Mit ihrem verwaschenen Bildnis unzufrieden, kommt mir dann das Ereignis in den Sinn, auf das sich später meine gesamte Zeit mit ihr verdichten sollte: Der Abiturball. Dort sah ich sie zum letzten Mal. Sie trug ein cremefarbenes, ärmelloses Kleid. Es schmiegte sich, wie angegossen, an ihre schmale Taille und ihre runden Hüften. Es war tief ausgeschnitten, doch viel zeigte es nicht. Da war nicht viel, aber nichts desto trotz hatte sie sehr schöne Brüste. Und sie trug kleine, weiße Schuhe, ohne Absatz. Ich kann sie wieder tanzen sehen, an den dreckigen Hausmauern entlang, an tropfenden Büschen vorbei und über Pfützen hinweg. Lasziv und immer im Kreis. Die eine Hand liegt auf einer Schulter, die andere Hand legt sie in... meine. Fast vergaß ich, dass ich ihr Tanzpartner war.
Sie lachte, ich lachte. Ich war glücklich, solange ich sie führen durfte, geschickt durch erfahrene Tänzer und laienhafte Tölpel hindurch. Doch als die Kapelle nicht mehr spielte und sie zu unserem Platz wollte, nahm ich sie bei der Hand und hielt sie zurück. Ohne weitere Umschweife, ohne tiefe Blicke und ohne verlegenes Lächeln sagte ihr möglichst direkt, dass es schön sei, sie kennengelernt zu haben. „Was meinst du damit?“, entgegnete sie entsetzt und ohne auch nur einen Augenblick zu zögern – ich rechnete mit dieser Frage – antwortete ich mit erzwungener Leichtigkeit lächelnd:
„Du weißt, dass wir uns nicht mehr sehen werden. Früher oder später. Egal was wir uns geschworen haben.“
Im selben Moment tat es mir unendlich Leid. Ich war ihr bester Freund, den sie nie im Leben verlieren wollte. Doch für mich war sie sehr viel mehr.
Donnernder Lärm lässt mich erschrocken hochfahren. Eine Autohupe, wie ich nun genauer weiß. Ich stehe auf der Strasse und habe nicht bemerkt, dass spät nachts noch Autos unterwegs sind. Mit einer kurzen Handbewegung entschuldige ich mich und gehe weiter.
Jeder Schritt quietscht und knatscht. Meine Socken haben sich mit Regenwasser vollgesogen. Es ist fühlt sich nicht unangenehm an, vielleicht etwas kühl, aber vorallem die Geräusche stören mich. Also ziehe ich mit dem Ärmel meiner Jacke ein wenig Wasser von einer Bank und setze mich. Ich werfe die bis zum Filter abgebrannte Kippe in das Rinnsal zwischen Bordstein und Fahrbahn, wo ihre Lebensglut zischend erlischt, und zünde mir eine weitere an.
Sie knistert und lodert orangerot auf.
Isabel war sprachlos. Vielleicht ahnte sie, dass ich einfach nur recht hatte, doch vielleicht ahnte sie sogar mehr. Womöglich hatte die berüchtigte „weibliche Intuition“ mich, und damit den Grund für mein äusserst taktloses Auftreten, schon längst entlarvt.
Natürlich konnte sie nicht sehen, wie es in meiner Magengegend kribbelte sobald ich sie sah, an sie dachte oder auch nur ihren Namen hörte. Auch konnte sie es nicht merken, wenn fiebrige Hitzewallungen folgten, sich das Kribbeln in Brust, Arme und Beine fortsetzte und meine Knie zu Gummi werden liess. Aber sie konnte durchaus sehen und auch hören, wie ich sie behandelte, wie ich mit ihr redete und wie ich sie ansah. Jeder sah es und es war ihr unangenehm. Nicht weil sie mich nicht mochte, nicht weil ich hässlich war, nicht weil mich ihre Familie und ihre Freunde nicht mochten (ich vermutete, weiß Gott, alles), sondern einfach nur, wie ich erst spät erkannte, weil ich ihr bester Freund war und sie eine Person von ungeahnter Beständigkeit.
Es lag nicht an mir.
Der Augenblick, in dem mir klar wurde, dass ich nie etwas hätte ändern können, hatte den bitteren Beigeschmack der Endgültigkeit. Sie wollte sich nicht in mich verlieben und hätte sie es getan, so wäre sie die Allerbeste darin gewesen, es sich zum Wohle der bestehenden Ordnung, zum Wohle unserer Freundschaft, für sich zu behalten.
Wegen dieser schmerzhaften Ungleichheit unserer Beziehung, erachtete ich es als notwendig, dass der Abiturball nicht nur die letzte Etappe der gemeinsamen Schullaufbahn, sondern auch die letzte Etappe unserer gemeinsamen Zeit sein sollte.
Neben die bereits aufgeweichte erste werfe ich die zweite Kippe, die ebenfalls augenblicklich erlischt und langsam vom Fluss stromabwärts getrieben wird. Nur wenig später verfängt sie sich in kleinen Ästen und Laub vor einem Gullideckel. Während ich dem aufquellenden Stümmel hinterherblicke und seinen baldigen Abgang in die rauschende Kanalisation abwarte, spüre ich etwas feuchtes in meinem Gesicht. Ich bin mir nicht sicher, ob mir tatsächlich eine Träne über die Wange läuft, oder ob nur der Schirm undicht geworden ist. Ernüchternd stelle ich fest: es ist der Schirm.
Isabel habe wirklich geweint. Wurde mir erzählt. Ich habe den Ball nach meinem ernüchternden Geständnis verlassen und war am Tag darauf bereits auf dem Weg nach Bad Tölz. Ich hatte dort entfernte Verwandte, bei denen ich für eine Weile wohnen konnte, bis ich einen Monat später in der Lenggrieser Kaserne meinen Grundwehrdienst antreten sollte.
In dieser Zeit und auch noch lange danach bekam ich sie nicht mehr aus meinem Kopf und trotzdem, oder gerade deswegen, habe ich sie nie angerufen und schickte ihr auch keinen einzigen Brief.
Sie schrieb viel.
Die schweren, schwarzen Regentropfen werden leichter und länger, bis sie sich, zu einem einzigen dichten Vorhang verwachsen, an dünnen Fäden aus den Wolken herab seilen.
Ich spaziere noch ein wenig gen Norden und halte an einem von Menschenhand geformten Bach, geschient in einer trapezförmigen Rinne aus Stahlbeton. Manchmal ist er trocken. Dann lässt sich seine Funktion nur an graugrünen Algenablagerungen erahnen. Doch heute reißen die braun schäumenden Wassermassen alles mit sich: Äste, Laub, Zigarettenkippen, Getränkedosen, Plastiktüten und manchmal sogar tote Ratten. Auch ein Einkaufswagen hat sich unter eine der niedrigen Brücken geklemmt. Ein Geländer soll verhindern, dass ich nicht in die Fluten stürze und ertrinke, aber wer verhindert, dass das marode Geländer hineinfällt? Ich verzichte jedenfalls darauf, mich vornüber zu beugen und bleibe lieber auf dem parallelen Fußweg stehen.
Über den Bach hinweg blicke ich auf die schwache Silhouette eines mittelständischen Sägewerkes. Leise leuchten die gelben Lichter der Werkhalle zu mir hinüber, beinahe werden sie von Dunkelheit erstickt. Die Nachtschichtler müssen gerade eine Pause eingelegt haben, denn ich höre keine einzige der sonst kreischenden, schweren Maschinen.
Nur Regen, der reissende Bach und mein klickendes Feuerzeug dringen an mein Ohr.
Auch ich arbeitete lange Zeit in Schichten. Da mir nichts einfiel, was ich hätte studieren können, liess ich mich verpflichten. Bei der Luftwaffe, genauer: beim Radar, für zwölf Jahre. Ein sicheres Einkommen und keine größeren Sorgen, in Auslandseinsätzen gebraucht zu werden; geschweige denn an irgendeine Front geschickt zu werden.
Während aufkommender Langeweile, wovon es mehr als genug gab, war die Versuchung groß, an Isabel zu denken und ich gab ihr gerne nach. Bei Wartungsarbeiten, beim Kaffeetrinken, beim kameradschaftlichen Porno schauen... Es gab kaum eine Gelegenheit, in der ich den Gedanken an sie ausliess. Erst recht nicht, wenn wieder einmal ein Brief von ihr kam, aber immer hielt ich mich zurück, ihn zu lesen. Ich las keinen.
Mit den Jahren wurden die Briefe immer seltener und blieben schliesslich ganz aus. Genauso wie meine Gefühle für sie. Nach der dritten Freundin, mit der ich fest zusammen war, ich glaube sie hieß Maria, vergaß ich sie allmählich und ich war tatsächlich in der Lage meine vierte Freundin, Eva, von ganzem Herzen zu lieben. Wie heutzutage nicht unüblich, ging auch diese Beziehung zu Bruch, genauso wie einige weitere. Keine großen Sachen.
Im Aufzug, auf dem Weg zum neunten Stock, sind alle Erinnerungen an Isabel wie ausgelöscht. Die einzige, sehr grelle Beleuchtung der Kabine umspannt die gesamte Fläche der Decke und scheint jeden aufkeimenden Gedanken an sie unter unzähligen Lichtstrahlen begraben zu wollen. Also beobachte ich durch das tropfende, tief in die Stirn hängende Haar die Schiebetür und warte bis sie auseinander fährt. Dann ziehe ich meine Füße über den fleckigen braunen Filzboden in Richtung der Tür, mit den messingfarbenen Ziffern 204. Meine Wohnung.
Ich trete ein, lasse die Lampen aus und die tropfnassen Schuhe in der Diele stehen. Ein Blick auf die Stereoanlage verrät: Es ist vier Uhr zwanzig. Ich lege „Nightreed“ auf, ein instrumentales Jazz Ensemble, nicht zu aufdringlich. Leise, um die Nachbarn nicht zu stören. Anschliessend suche ich im Schlafzimmer tastend nach einem Schuhkarton, oben auf dem Kleiderschrank. Unter einer dicken Schicht Staub bekomme ich ihn zu greifen. Den Deckel lege ich beiseite, danach öffne ich das Fenster. Die feuchtwarme Luft in meinem stickigen, verrauchten Apartment wird augenblicklich von frischer, frühmorgendlicher Kälte verdrängt. Ich stelle fest, dass der Regen nachgelassen hat und setze mich mit dem Karton im Schoss auf den Sims.
Die Höhe ist schwindelerregend, vertreibt aber jeden Anflug von Müdigkeit. Ich sitze gerne hier. Heute blicke ich nach oben. Es ist noch immer finster und nur ein undefiniertes, schwaches Leuchten zeichnet die umliegenden Wohnblöcke und zahlreiche Antennen schemenhaft. Ich atme tief durch; suche Isabel zum ersten Mal seit langem und zum letzen Mal für immer in Wolken, die ich nicht sehe, während ich all ihre ungeöffneten Briefe in die Tiefe gleiten lasse. Doch nichts, gar nichts regt sich mehr.