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Puppenaugen
****Überarbeitete Version ****
Die Puppe saß auf dem Fensterbrett. Sie trug ein blassrosa Kleid, das ihr weit bis über die Knie ging und nur ihre weißen, etwas angestaubten Schuhe freigab. Ihre blonden Haare waren früher einmal exakt gescheitelt und mit Bändern geflochten gewesen. Jetzt hatten sich schon einige Strähnen aus den Zöpfen gelöst, was ihr einen menschlicheren Ausdruck verlieh. Sie saß da, mit ihrem Porzellanteint und den großen blauen Augen und der Kopf war ihr schwer. Lange war es her, dass sie Menschen gesehen hatte. Seit die kleine Elle weggezogen war, mit Mami, war es sehr still geworden. Manchmal machte es sie traurig, dass sie einfach allein gelassen worden war. Vor allem in der Nacht fühlte sie sich einsam, denn dann hatte Elle sie oft mit ins Bett genommen und es war so schön warm und kuschelig gewesen, so fest in den weichen Kinderarmen zu liegen. Außerdem war es auf die Dauer auch am Tage ganz schön langweilig, weil niemand mehr mit ihr spielte. Zu dumm, dass sie eine so ungünstige Haltung hatte. Den Rücken an den Fensterrahmen gelehnt, mit ausgestreckten Beinen, musste sie parallel zum Fenster sitzen und den gegenüberliegenden Rahmen anstarren. Immerhin konnte sie, wenn sie sich besonders anstrengte, mit dem rechten Auge einen Streifen Grün erkennen. Er gehörte zu einem großen Garten, wie die Puppe wusste.
Im Sommer war sie oft dort gewesen. Obwohl sie diese Jahreszeit nie besonders gemocht hatte, sehnte sie sich nach den Stunden im Garten, schon allein wegen des weißen Sonnenhuts, den L. ihr dann oft angezogen hatte. Er bot ihr zumindest ein wenig mehr Schutz, denn da draußen war ihr doch immer ein bisschen mulmig zu Mute gewesen. Die vielen Geräusche und Farben hatten sie verwirrt, und das große blaue Ding an der Decke, was alle Himmel nannten, war ihr doch ein bisschen zu weit und zu groß. Sogar für Elle musste der Garten sehr groß gewesen sein, denn kein anderes Haus war zu sehen, nur Bäume und Wiesen und ein riesiger brauner Zaun, durch den kein Blick drang. Aber Elle hatte auf sie aufgepasst, mit ihr Schmetterlinge gejagt, barfuss auf der Wiese getanzt und sie vor Käfern und Dreck beschützt- und auch vor Vati, der einmal versucht hatte sie in das rotweißgestreifte Planschbecken zu schmeißen. Vati hatte es sehr lustig gefunden sie an den Haaren herumzuschleudern und sie über das tiefe Wasser zu halten, doch als er Elles Tränen sah, hatte er sie sofort in seine Arme geschlossen und die Puppe dabei in das vom Wasser aufgeweichte Gras fallen gelassen.
„Meine kleine Prinzessin, ich tu deiner Puppe doch nichts!“ hatte Vati gelacht und Elle. ins Haus getragen.
Mami hatte ein Buch gelesen, wie meistens. Die Puppe hatte auf der Wiese zurück bleiben müssen, hilflos auf der Seite liegend, bis Elle sie später geholt hatte. Ganz schmutzig und verstört war sie gewesen. Nein, das war wirklich keine schöne Erinnerung, aber immer noch besser, als allein die ganze Zeit in diesem Zimmer zu sitzen, von dem sie auch nur einen schmalen Streifen erkennen konnte, indem sie sich mehr auf ihr linkes Auge konzentrierte.
In ihrer Erinnerung war L.s Zimmer hell und freundlich gewesen. In einer Ecke hatte eine weiße Kommode gestanden, in der auch viele Kleider für sie selbst verwahrt gewesen waren. Dann hatte es noch den Kleiderschrank, den gemütlichen, rosabezogenen Sessel, einen kleinen Schreibtisch und das weiche Bett direkt unter dem Fenster gegeben. Dort hatte sie am liebsten gesessen. Es wohnten auch noch ein paar Andere im Zimmer, mit denen sich die Puppe den Platz teilen musste, ein Äffchen, ein Hund und ein Pony, aber die waren keine ernstzunehmende Konkurrenz gewesen. Sie war Elles Liebling, das wusste sie. Und gerade auch deshalb fragte sie sich immer wieder, warum sie die Einzige war, die zurückbleiben musste, damals als Mami ins Zimmer gerannt kam, und Elles Sachen in einen großen Koffer gestopft hatte. Nach und nach hatte sie auch die Möbel abholen lassen, fremde, laute Männer waren hereingetrampelt und hatten alles weggeschafft. Da hatte sie noch gemütlich auf dem Bett gesessen und sich gefreut, dass sie den Platz nicht mehr gegen den Affen oder einen der Anderen verteidigen musste. Doch plötzlich hatte einer dieser polternden Hände sie gepackt und rüde auf der Fensterbank abgesetzt. Schon hatten sie sich daran gemacht auch das Bett einzupacken, als einer der Männer die anderen zurückhielt. Das Bett sollte doch bleiben. Dann waren sie verschwunden, so schnell wie sie auch aufgetaucht waren und die Puppe war unbeachtet auf der Fensterbank liegen geblieben. Seitdem saß sie dort und war verdammt auf den Fensterbalken zu starren, zu sehen, wie das Licht am Morgen herein und am Abend hinaus fiel.
Auch jetzt war es bald wieder soweit, die Dunkelheit kam und damit die große Leere. Nichts gab es um sich die Zeit zu vertreiben, kein Hören, kein Sehen und keine Berührung. Die Puppe gab sich gerade wieder ihren Träumen hin- Träumen von Kleidern und Hüten, von Kinderlachen und Teestunden- das Einzige was ihr noch blieb- als sie plötzlich aus dem Augenwinkel heraus bemerkte, wie ein sattgelber Lichtschein auf sie zu gekrochen kam und die Tür leise quietschte.
„Elle kommt zurück um mich zu holen!“ dachte die Puppe aufgeregt.
Zu gerne hätte sie jetzt ihren Kopf gedreht und zum wiederholten Male ärgerte sie sich über ihren schweren, altmodischen Porzellankopf, der jede Bewegung unmöglich machte. Schon hatte sich der gelbe Strahl mit einem Klicken wieder hinter die Tür zurückgezogen und das Zimmer lag erneut im Dunkeln. Wie groß war ihre Enttäuschung, als die Puppe merkte, dass wohl doch niemand kam sie zu retten. Aber was war das- ein leises Rascheln drang an ihr feines Ohr. Etwas war im Zimmer...
„Bitte, bitte lass es keine Maus sein“ dachte die Puppe.
Zu schrecklich war ihr die Vorstellung, etwas könne an ihr herumknabbern, an ihr nagen und schlecken, ohne dass sie auch nur das Geringste dagegen tun konnte. Dann hörte sie die Sprungfedern des Bettes knarren, etwas Schweres kletterte dort hinein. Konnte eine Maus so schwer sein? Kurz darauf hörte sie ein leises, trockenes Schluchzen, wie es nur winzige Puppenohren vernehmen können. Es war ganz sicher keine Maus. Erneut keimte Hoffnung in ihr auf, denn sie kannte dieses Geräusch.
„Ich bin hier Elle!“ rief sie, „weine nicht!“ doch niemand hörte es, denn sie hatte keine Stimme.
Irgendwann versiegte das Schluchzen und ging in unruhige Schlafgeräusche über. Da sie nichts weiter tun konnte, als da zu sitzen, verfiel die Puppe in tiefes Dösen, bis schließlich ein neuer Tag anbrach und sie von leisem Klappern aufgeschreckt wurde. Sofort erinnerte sie sich an die vergangene Nacht. Elle. war bestimmt zu müde um mich zu begrüßen, versuchte die Puppe sich wieder zu beruhigen. Oh wie freute sie sich, wieder in Elles liebe, hellbraune Augen zu schauen, ihre freche Stupsnase mit den Sommersprossen zu sehen und ihre kleinen weichen Kinderhände zu spüren. Umso mehr erschrak sie, als sie plötzlich von ängstlichen, blauen Augen angeguckt wurde. Konnte das L. sein? Größe und Statur stimmten ungefähr überein, auch die braunen Haare waren ähnlich, aber die Augen...nein, das war nicht Elle, das war ein fremdes Mädchen.
Andere Kinder hatte die Puppe nicht viele gesehen, denn sie kam nicht aus einem großen Kaufhaus, wie diese neumodischen Plastikpuppen. Nur einmal, an Elles Geburtstag, da hatten Mutti und Vati viele Kinder eingeladen, aus der weit entfernten Stadt, in der Elle zur Schule gegangen war. Die Puppe hatte alles nur durch den Spalt des Schrankes beobachten können, in dem Elle sie versteckt hatte, damit keines der Kinder sie kaputt machte. Anfangs war sie ein wenig beleidigt gewesen, vor allem, als sie sah, wie das Pony und die Anderen bewundert wurden, aber als sie dann die vielen klebrigen Hände sah, die alles betasteten, war sie doch froh, an einem sicheren Ort zu sein.
Vorsichtig hob nun das Mädchen die Puppe von der Fensterbank. Was für ein Gefühl, am liebsten hätte die Puppe alle Glieder von sich gestreckt. Sie lag nun auf den Knien des Mädchens und konnte zum ersten Mal seit langem wieder das ganze Zimmer überblicken. Neben dem Bett, auf dem nur eine dünne Wolldecke lag, stand ein kleiner Tisch. Darauf stand ein Teller Suppe, darunter ein violetter Eimer, zu einem Viertel mit Wasser gefüllt. Sonst befand sich nichts in dem Zimmer. Interessiert betrachtete sie nun das Mädchen selbst, das geistesabwesend mit dem Finger über die verstaubten Puppenschuhe fuhr. Das Mädchen selbst trug Turnschuhe mit bunten Schnürbändern, eine fleckige Jeans und einen roten Pullover, der an einer Seite zerrissen zu sein schien.
„Na so was“, dachte die Puppe „so sah meine Elle aber nie aus!“
Trotzdem mochte sie das Mädchen, denn es nahm sie in seine Arme, wiegte sie hin und her und drückte sie fest an sich. Wie schön es war, etwas Lebendiges zu spüren, etwas das atmete und sie wärmte. Es spielte sogar ein wenig mit ihr, zaghaft, ruhig, dennoch passierte es. Sie durfte ein paar Mal an der Hand des Mädchens auf dem Bett auf und ab gehen und sich drehen, bis ihre Zöpfe flogen. Dann hörte es plötzlich auf. Die Puppe wünschte sich sehr nun wenigstens seine Stimme zu hören, doch es sprach kein Wort. Sagte nichts, als es Mittag wurde, sagte nichts als es anfing zu regnen, blieb stumm bis es langsam immer dunkler wurde.
Als die Nacht hereinbrach spürte die Puppe wie sich die Muskeln des Kindes verkrampften und sie stärker gedrückt wurde. Gierig bewegte sich plötzlich der gelbe Lichtstrahl auf sie zu, wieder quietschte die Tür leise. Dann war alles schwarz und die Puppe fand sich unter dem Bett wieder. Von oben drangen Geräusche an ihr Ohr, die die Puppe nicht einzuordnen vermochte, merkwürdig gepresste Laute. Ein Grunzen und Reißen. Ein Geruch legte sich um ihre feine Porzellannase, widerlich süß, der das ganze Zimmer erfüllte und sie zu ersticken drohte. Sie wollte laufen, oder zumindest eine Hand über die Nase legen, doch ihre winzigen, starren Puppenhände gehorchten ihr nicht, sie konnte nichts weiter tun, als da zu liegen und zu warten bis es aufhörte. Nach einer Ewigkeit dann ein Knarren, ein Klicken und alles war still. Es hatte aufgehört? Eine Hand griff nach ihr und hielt sie bis zum Morgengrauen.
Langsam drang das weiße Licht durch das Fenster und ließ die Puppe das Mädchen wieder sehen. Seine Augen, noch geschlossen, aber doch wach, zuckten hinter den Lidern. Trockene Tränen hangen in den feinen Wimpern. Die Puppe wartete, bis zum Mittag, dann schlug es endlich die Augen auf. Die Puppe merkte es kaum, denn diesmal spielte es nicht mit ihr, saß einfach nur da, die Puppe im Arm, ohne ein Wort, nur leises Atmen bis zum Abend. Wieder das gefräßige gelbe Licht, das Quietschen, wieder die große Dunkelheit und der Gestank. Im Staub unter dem Bett wartete die Puppe, bis die kleine Hand sie zurück zu sich holte.
Die Puppe wusste nicht wie viele Tage und Nächte so vergingen. Noch immer hatte das Mädchen nicht gesprochen. Mittlerweile wusste sie was sie in den Nächten erwartete, wenn das gelbe Licht kam. Wenn sie auf dem Bauch lag, roch sie es nicht so sehr und alles schien schneller vorbei zu gehen. Doch bei Tag war sie ratlos, zu gerne hätte sie gespielt, getanzt und Teestunde gehalten. Doch ihre neue Elle, wie die Puppe das Mädchen in Gedanken nannte, saß immer nur da und strich wieder und wieder über ihr Kleid. Trotzdem hatte sie es lieb gewonnen, auch wenn es merkwürdig war, vielleicht wäre es anders, wären seine Augen andere gewesen. Etwas pochte gegen die Scheibe, so leicht, so zart, kaum hörbar. Dennoch richtete sich das Mädchen langsam auf. Es stöhnte leise vor Schmerz als es seine Hülle zum Fenster schleppte, die Puppe im Arm. So starrte es aus dem Fenster, auf den Streifen Grün, der zum Garten gehören musste, den das Mädchen nicht kannte. Ein Schmetterling zog am Fenster vorbei, immer wieder an das Glas stoßend, mehr tanzend als fliegend.
„Ich wünschte ich könnte noch einmal einen Sommer erleben“, dachte sie.
Als es Nacht wurde und die Tür quietschte, hielt das Mädchen die Puppe fest umschlungen. Es versteckte sie nicht unter dem Bett wie sonst, und blieb sitzen.
„Hilf mir!“ flüsterte das Mädchen, so leise, wie es nur Puppenohren hören können
Dann fühlte die Puppe eine riesige, grobe Hand, die sie in die Luft zerrte und unsanft auf die Fensterbank schleuderte. Halb von der Kante hängend, sah sie nun zum ersten Mal, was die scheußlichen Geräusche verursachte. Sie sah den zarten Körper des Kindes verschwinden unter brutaler Masse, gierigem Maul. Das Mädchen, nur aus Augen bestehend, blinde Spiegel in der Dunkelheit, so groß vor Schmerz. Sie kannte diese Augen, es waren Elles Augen, damals, als sie ging und nicht wiederkam. Und es waren die Augen des Mädchens, der neuen Elle die sie im Arm gehalten und zu schützen versucht hatte, vor dem, was durch die Tür kam. Doch sich selbst konnte sie nicht beschützen. Millimeter um Millimeter rutschte die Puppe näher an die Kante, merkte, wie das Gewicht ihres eigenen Körpers an ihr zog und zog. Unter ihr das sabbernde Maul, gierig saugend. Mondlicht beschien ihren weißen Kopf, heller Stern am Himmel. Sie schaute ein letztes Mal in das Gesicht des Mädchens. Dann stürzte die Puppe von der verhassten Fensterbank hinunter und ihr Kopf zerbarst in tausend Stücke auf Vatis Schädel. Das Maul röchelte und erstarb.