Puzzle
Bahnleiche! Die Hiobsbotschaft errreichte mich telefonisch am späten Vormittag.
Diesmal war ich dran.
Der Kollege hatte heute früh schon drei kleinere Tatorte aufgenommen und noch viel zu tun mit dem Verfassen seiner Befundberichte.
Die Kollegen der Bundespolizei und der Leichenbestatter sind schon vor Ort.
Diese Information kam von der Leitstelle per Funk.
Na Bravo, dann können die ja schon mal anfangen, die Brocken einzusammeln.
Erfahrungsgemäß erstreckt sich ein solcher Leichenfundort über mehrere hundert Meter, ein ganzer Streckenabschnitt muss für Stunden abgesperrt werden.
Thank you for travelling with Deutsche Bahn!
Zynismus machte sich mal wieder in meinen Gedanken breit, eines der untrüglichen Symptome auf dem Weg zum Burnout-Syndrom.
Laut Zeugenaussagen war die Frau offenbar aus freien Stücken auf die Gleise gesprungen, gerade als der ICE einfuhr.
Der Lokführer hatte keine Chance mehr, die Notbremsung einzuleiten, er stand unter Schock und war nicht vernehmungsfähig.
Die jungen Beamten von der auf dem Bahngelände zuständigen Bundespolizei waren ein wenig grün um die Nase. Sie hatten jedoch schon gute Vorarbeit geleistet: erster Angriff, Personalien der Zeugen aufgenommen, Bestattungsinstitut verständigt...
Hallo Kollegin, viel Vergnügen, bei der weiteren Sachbearbeitung.
Die Tote führte keinerlei Papiere, keine Handtasche mit sich.
Na, wenigstens ist die Leiche frisch
Erneut eine flapsige Bemerkung, jedoch nur zum Überspielen der unangenehmen Situation.
Meine Begeisterung wuchs; jetzt würde es wohl einige Tage dauern, bis die Identität feststeht.
Die übelste Aufgabe stand mir später bevor: Benachrichtigung der Angehörigen. Die waren ohnehin nicht zu beneiden, hinsichtlich der Identifizierung der Überreste.
Zusammen mit den hart gesottenen Mitarbeitern des Bestattungsinstitutes beteiligte ich mich am Einsammeln der restlichen Einzelteile, der Beamte vom Erkennungsdienst fotografierte.
Eingetütet und beschriftet wie Tiefkühlware!
Schon wieder diese zynischen Gedankengänge, nur so kann man solche Dinge verarbeiten.
Der Zinksarg wurde im anthrazitfarbenen Kombi des Bestatters zum rechtsmedizinischen Institut verbracht.
Mit seinem makabren Inhalt: säuberlich verpackte Leichenteile, Schädelfragmente, Zähne, Hautfetzen, Knochensplitter, kaum erkennbare Reste von Körperteilen, Organe, Hirnmasse, der Torso, an dem noch beide Beine und ein Armstumpf hängen...
Als ich Stunden später zur eigentlichen Leichenschau dort eintraf, war sie bereits am Werk.
Die junge Frau, mittelgroß, schlank, blond, sommersprossig, hübsch.
Ihr frisches Erscheinungsbild stand so sehr im krassen Gegensatz zu der Umgebung mit den Zinksärgen, den Kühlschublanden mit Edelstahlfront und sterilen Untersuchungsliegen, dem Geruch nach Blut, Zersetzung und Desinfektionsmitteln.
Sie stellte sich vor: Studentin der Zahnmedizin kurz vor ihrem Abschluss, mit dem Ziel, im Fach forensische Pathologie zu promovieren.
Herzlichen Glückwunsch!
Diese Bemerkung verkniff ich mir, sprach den Gedanken nicht laut aus.
Mit Begeisterung legte sie los, machte sich über die eingetüteten Teile her, die über die Untersuchungsliege verstreut lagen.
Da die Todesursache unstrittig war, lag das hauptsächliche Augenmerk auf der Wiederherstellung des Schädels.
Aus diesen Kleinteilen?
Ich äußerte meine Zweifel.
Sie lächelte triumphierend. Das sei ihr Spezialgebiet.
Da haben wir schon aus viel weniger ein passables Ergebnis rekonstruiert!
Nach der Sichtung der Einzelteile und erneuter Fotoserie für meine Lichtbildmappe überließ ich sie ihrer Sisyphusarbeit.
Als ich zwei Tage später das Ergebnis begutachten durfte, war ich sprachlos.
Fräulein Frankenstein hatte es tatsächlich geschafft!
Sie hatte einen intakten Kopf mit einem Gesicht geschaffen.
Ihr war gelungen, aus all den kleinen Knochensplittern, Kiefer- und Schädelteilen, Zähnen, Hautfetzen, Augapfelfragmenten und Haarbüscheln ein ansehnliches Gesicht zu rekonstruieren.
Ein recht blasses Gesicht zwar,mit einem eingefroren lächelnden Mund, einer normal geformten Nase, Kunststoffaugen, die die Farbe der ursprünglichen Iris wiedergeben sollten.
Anhand der Haarreste hatte sie eine Perücke in der passenden Haarfarbe- und Länge beschafft.
Diese beispiellose Kleinarbeit hatte sie in allen Phasen fotografisch festgehalten; die Verarbeitung jedes einzelnen Teiles diese makabren Puzzles dokumentiert.
Fehlende Partien waren durch Wachs ersetzt worden.
Das Gesicht wirkte beinahe lebendig, sympathisch...
Auch der Rest des Körpers war in einen einigermaßen intakten Zustand versetzt worden, um die Identifizierung durch die Angehörigen in würdiger Form zu ermöglichen.
Mit mehreren Fotos der Rekonstruktion, Frontalansicht, Profil, begab ich mich zu den Angehörigen.
Der Ehemann hatte seine Frau bereits nach wenigen Stunden als vermisst gemeldet.
Sie war depressiv und hatte bereits mehrere Suizidversuche hinter sich.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei „meiner Bahnleiche“ um die betreffende Frau handelte, war hoch.
Dies hatte ich dem Ehemann bereits so schonend wie möglich beigebracht.
Anhand meiner Fotos war er nun in der Lage, seine Ehefrau zu identifizieren. Den Anblick der Toten im rechtsmedizinischen Institut konnten wir ihm ersparen.
Er überreichte mir ihren Personalausweis. Die Frau, die auf dem Passfoto abgebildet war, sah der Person auf meinen Fotos zum Verwechseln ähnlich...
Copyright © Roxane 04/2009