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Räuber und Gendarm
Er sitzt da, seine Stirn runzelig wie Rinde, die Faust an die Schläfe, den Ellenbogen auf den Tisch gedrückt. Schwere Bücher türmen einen Wall oder liegen wie aufgebrochen herum. Der Dampf des Kaffees, der Qualm der Zigarette und der Rauch aus den Getrieben seines Hirns – aus den Ohren freigepresst – wirbeln um seinen dicht über das Papier hängenden haarlosen Kopf. Er schiebt sein silbernes Brillengestell – auf dem riesigen, gar gorgolischen Zinken dem Absturz entgegenzitternd – dichter an die Augen, welche über dem Stapel Papier schwebend den Sätzen folgen, bei Kommas atmend, bei Punkten stoppend, bei Doppelpunkten erwartungsvoll in aufgesperrte Münder blickend: Er ist ein Detektiv!
Immer näher rückt sein Gesicht dem Papier, dem Text, den Sätzen, den Konstituenten, den Subjekten, Objekten und Prädikaten, den Possessivpronomen, Konjunktiven und Präpositionen, den Silben, den Lexemen, Phonemen, Graphemen, den Strichen, den Farbklecksen, bis seine Nasenkuppe die Schrift zu kitzeln scheint. Ich muss lachen. Er horcht auf, wie ein Jagdhund, der eine Fährte wittert. Dann kriecht er unter den Tisch, um das Papier von dort betrachten zu können, hält plötzlich inne, hievt sich wieder auf den Stuhl, rückt die Brille zurecht und schmunzelt.
Er reckt und streckt sich, um dann mit dem Geist voran auf das Papier zuzustürmen. Vorsichtig operiert er Wörter aus dem Text heraus, um diese in einem großen Buch zu suchen, in dem sie durch viele andere Wörter beschrieben stehen, und legt sie dann in den Text zurück um die Sachlage neu zu sezieren. Aber wieder ist er auf einer falschen Spur. Mehrere Stunden und Kaffees vergehen bei der Suche, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Er verzweifelt, beschließt, alles hinzuwerfen, es einfach so zu lassen, wie es ist, ohne Erklärung, ohne Sinn.
„Heureka!“, schreit er plötzlich. Und noch einmal: „Heureka! Wen kümmert, wer dieses Gemurmel spricht?“ Wie von Zauberhand verblasst die Schrift und das Papier liegt offen, blank vor ihm. „Der Text liegt nackt und mit gespreizten Beinen dar“, schreibt er in sein kleines schwarzes Notizheftchen „und wartet darauf, genommen zu werden.“
Genüsslich trinkt er den kalten Kaffee. Dann fährt er mit seinen verrauchten Fingern über das Papier, schiebt das Ende hoch, bis fast der Wendepunkt entblößt daliegt, spreizt und spaltet Relativsätze, dreht den Text um, hält ihn am Anfang fest und nimmt ihn von hinten. So dreht und wendet er, scheint seinen Spaß zu haben, aber zu keinem Höhepunkt zu kommen. Kein „das ist es!“ verlässt seine Lippen. Er wird langsamer, müder, schlaffer. Es scheint ihm mehr Anstrengung als Vergnügen zu bereiten. Er haut auf das Papier und wischt es vom Tisch. Kurzzeitig beschließt er, Mankell zu lesen.
Seine Augen werden schwer, er ist kurz davor, den Text ad acta zu legen, da hauche ich ihm in den Nacken. Erschrocken dreht er sich um. Ich starre ihm in die Augen, aber seine blicken durch mich wie durch Klarsichtfolie. Mittlerweile ist es fast Morgen. Langsamer noch als die jungen Sonnenstrahlen über das Parkett kriechen, streiche ich dem Detektiv über die Glatze dass es quietscht. Er fuchtelt um sich, schreit „Palimpsest! Palimpsest!“ und wirft mit Büchern um sich. Kafkas Erzählungen treffen mich am Kopf. Ich muss brüllen. „Hah!“, ruft er und pfeffert Das Schloss in meine Richtung. Blutend falle ich in einen Winkel des Raumes, Schwarten schlagen auf mich ein. Nietzsche wie ein Vorschlaghammer, Adorno in die Magengrube, Der Zauberberg in die Hoden, Der fliegende Berg hinterher, mit Heine geohrfeigt, mit de Sade penetriert, gebüchert mit Brecht, Sartre, Grass und Tucholsky, zuletzt gebrascht bis ich nicht mehr atme. Endlich liege ich tot da, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert.