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Rückblende in Fehlfarben

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16.11.2006
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Rückblende in Fehlfarben

Es begrüßte ihn heute sadistisch grinsend ein völlig normaler Tag. Morgens war er schwer aus dem Bett gekommen, kein Wunder bei der Dunkelheit. Halb schlafend noch Zähne putzen, anziehen, sich am ersten Schluck heißen Kaffees den Mund verbrühen – und davon endlich aufwachen.

Der Weg ins Büro war der übliche. Er hupte laufend. Ärgerte sich, als direkt vor ihm der Bus hielt, der die Schulkinder zu ihrer täglichen Dosis Gelehrsamkeit abholte. Dann auch noch eine Baumaschine auf dem Weg und der entsprechende Stau dahinter.
Trotzdem kam er rechtzeitig an. Wie immer.

Im Büro öffnete ihm der Alltagsstress schon die Tür. Das Telefon stand nicht still, Berge von Mails wollten bearbeitet sein, darüber schwebend der typische Bürogeruch. Die längst nicht mehr änderbare Mischung aus altem Kaffee, geronnener Zeit, Überdruss und Angstschweiß.

In der Mittagspause sah er die üblichen Gesichter vor sich. Belanglosigkeit atmend, sich über die neuesten Skandälchen den Mund zerreißend, geifernd neidisch wichtigere Schicksale auseinanderpflückend. Er schaufelte das pampige, geschmacklose Essen nur auf die Pausenzeit achtend in sich hinein, fühlte er sich eher wie in einem Hühnerstall gefangen, so laut war das Gegacker um ihn herum.

Der Nachmittag glich dem Vormittag aufs Haar. So langweilig und so gewöhnlich lief alles ab, dass er hinterher nicht einmal hätte sagen können, was genau er getan hatte.
Ein weiterer grauer Tag in einer Perlenkette grauer Tage.

Bis er aus dem Fenster sah.

Seltsam. Mitten im November schien ein Hauch Frühling in der Luft zu liegen. Die sonnengoldenen Blätter der Bäume vor seinem Fenster wehten leicht, deutlich auszumachen vor dem klaren, kaltblauen Himmel. Die fedrigen kleinen Wölkchen verdeutlichten die Geschehnisse weiter oben in der Atmosphäre.
Düsenflugzeuge hinterließen weiße Streifen, er träumte für einen winzigen Moment mit den Fliegern in die Ferne, sehnsüchtig, verlangend.
Seinem ewig gleichen Leben entkommen können, sich keine Sorgen mehr machen müssen, keine grauen Tage mehr … keine Einsamkeit …

Er stand auf, reckte sich kurz, strafte sich in Gedanken für diese bunten Gefühle, diese Sehnsucht. Der Feierabend war noch mindestens zwei Stunden entfernt, am Abend warteten weitere Aufgaben. Pflichtbewusst wandte er sich wieder dem verhassten Telefonhörer zu, legte seine Finger auf die Tasten, schrieb, hörte, schrieb wieder. Doch der Blick aus dem Fenster ließ ihm keine Ruhe.

Als er endlich in den Feierabend startete – die bekannten Gesichter im Büro starrten nur papieren ins Leere und beachteten seinen Gruß nicht – verabschiedete sich die Sonne gerade, einer Kerzenflamme kurz vor dem Ersterben gleich, mit einem dramatisch rosaroten Aufglühen am Horizont. Grüßend legte sich einer der letzten Strahlen wie ein lockender Finger auf den Asphalt vor ihn. Forderte ihn auf, auf ihm entlang zu fahren, direkt zum Horizont.

Er ignorierte es erfolgreich.

Nur noch rasch ein paar Dinge einkaufen, der Kühlschrank daheim gähnte laut vor Leere.
Zwischen Nougatcremegläsern und Nudelpaketen, Fleischkonserven und Fruchtsaftkartons , berieselt von der allgegenwärtigen Schlagersoße aus den unsichtbaren Lautsprechern in der Decke legte er schnell die paar Dinge in den Wagen, die er zu benötigen meinte.

Kaum zuhause angekommen setzte er sich wieder vor seinen Rechner. Programmierte noch bis tief in die Nacht hinein, fiel dann völlig erschöpft ins Bett und schlief wie ein Toter.
Der Wecker klingelte.
Der nächste graue Tag begann. Wieder war es dunkel, wieder kam er schwer aus dem Bett. Setzte Kaffee auf, ging Zähneputzen …

„Schatzi… Geliebter …“ Wie Honig tropfte ihre samtweiche Stimme in sein Ohr, holte ihn aus dem Traum. „Kaffee ist fertig, mein Herz.“ Er kam zu sich, schüttelte den Kopf, räkelte sich dann genüsslich.
Am Frühstückstisch dann sah er in die Augen seiner Frau. „Du hast schlecht geträumt heute Nacht“, meinte sie, die Frage schon in der Stimme. „Ach, es war nichts“ wiegelte er gut gelaunt ab. „Nur eine Rückblende in Fehlfarben.“

 

Hallo liebes Kurzgeschichten - Team,
das ist also mein Einstieg hier. Hoffentlich ist es im richtigen Forum gelandet ;)
Ich freue mich auf Eure Kommentare!
Liebe Grüße
Tamlin

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Tamlin,

herzlich willkommen auf Kg. Ja, deine Geschichte passt gut zu Alltag, und schön, dass die Geschichte nicht so hoffnungslos endet, wie sie anfängt. Ein passender Titel, gut beobachtet und flüssig beschrieben, gefällt mir. Von der Rechtschreibung auch gut.

Insgesamt fände ich es lesefreundlicher, wenn du mehr gliedern würdest. So z.B.:

Der Weg ins Büro war der übliche. Er hupte laufend. Ärgerte sich, als direkt vor ihm der Bus hielt, der die Schulkinder zu ihrer täglichen Dosis Gelehrsamkeit abholte. Dann auch noch eine Baumaschine auf dem Weg und der entsprechende Stau dahinter.Trotzdem kam er rechtzeitig an. Wie immer.

Im Büro öffnete ihm der Alltagsstress schon die Tür. Das Telefon stand nicht still, Berge von Mails wollten bearbeitet sein, darüber schwebend der typische Bürogeruch. Die längst nicht mehr änderbare Mischung aus altem Kaffee, geronnener Zeit, Überdruss und Angstschweiß.


Die längst nicht mehr änderbare Mischung aus altem Kaffee, geronnener Zeit, Überdruss und Angstschweiß.
Das trifft überhaupt nicht meine Vorstellung von Bürogeruch: hier fehlen Papier und Kopiererdünste ...

Seinem ewig gleichen Leben entkommen können, sich keine Sorgen mehr machen müssen, keine grauen Tage mehrLEERZEICHEN… keine EinsamkeitLEERZEICHEN…
Das habe ich auch erst hier gelernt; hast du aber an einer anderen Stelle richtig gemacht.

Grüßend legte sich einer der letzten Strahlen wie ein lockender Finger auf den Asphalt vor ihn.
:thumbsup:

Ein guter Einstieg hier. :)

Gruß, Elisha

 

HI!

Tolle Kg, hat mir gefallen. Du formulierst sehr schön, vor allem was Metaphern betrifft.
Die Idee ist auch gut, trister Alltag und nichts ändert sich. Was mir dann aber vor allem gefällt, ist die Tatsache, dass sich etwas geändert hat.
Das mit der Rückblende als Traum war eine gute Idee. Besser als ein bleibender Gedanke von "die Welt ist scheiße"
Also Kompliment: Hab ich gern gelesen.

MFG Steeerie

 

Freude Freude ... Danke für die positiven Komms! :) :)

@Elisha, das mit den Leerzeichen vor den drei Punkten kannte ich auch noch nicht, dankeschön.
Gliederung so besser?

Der Bürogeruch war auch eher metaphorisch gemeint. Eigentlich müsste noch Papier, Kopierer, (billiges) Parfum/Rasierwasser, Toner und so weiter rein, gebe ich Dir absolut Recht. Andererseits könnte man dieses Konglomerat auch mit "Überdruss" übersetzen, oder?

@Steeerie, freut mich sehr, dass sie Dir gefallen hat! Die Idee ist einesteils aus einem Gespräch im Freundeskreis entstanden, anderenteils aus dem schönen alten ABBA - Song "The day before you came".

Liebe Grüße
Tamlin

 

Hallo Tamlin,

erst mal ein wenig Textkram

Ein weiterer grauer Tag in einer Perlenkette von grauen Tagen.
Warum Dativ? "Perlenkette grauer Tage" hört sich doch viel schöner an.

Seltsam. Mitten im November schien ein Hauch Frühling in der Luft zu liegen
Am Samstag solls auch 20 Grad geben *g* Nur mal so..

Die sonnengoldenen Blätter
Ich würde nur golden schreiben, die Blätter sind ja nicht wegen der Sonne golden, sondern weil sie kurz vorm fallen sind.

Er stand auf, reckte sich kurz, sich in Gedanken für diese bunten Gefühle, diese Sehnsucht strafend.
Zwei mal hintereinander sich hört sich komisch an, finde ich.
Würde das Partizip auflösen. ... reckte sich kurz und strafte sich in Gedanken für die bunten Gefühle, für diese Sehnsuch. Dann hast du gleich auch noch eine steigerung drin.

Doch der Blick aus dem Fenster ließ ihn nicht in Ruhe.
ließ ihm keine Ruhe

Kaum zuhause angekommen setzte er sich wieder von seinen Rechner
... vor seinen

Auch hier hat mir dein Stil wieder außerordentlich gut gefallen, schöne Bilder, gute Stimmung.

Bei der Geschichte passiert ja eigentlich nicht viel, du beschreibst eindringlich die Monotonie des Alltags, was dir im übrigen sehr gut gelungen ist. Ich hab auch mit einer "Allesistscheiße-Geschichte" gerechnet, daher hat mich das Ende überrascht und mir gefallen.

Länger hätte die Geschichte nicht sein dürfen, da die Thematik an sich nicht viel her gibt. Wenn man den grauen Alltag beschreibt, die herrschende Langweile muss man aufpassen nicht selbst langweilig zu werden. Das ist dir gelungen.

Insgesamt hats mir gut gefallen.

lg neukerchemer

 

Hi neukerchemer,
lieben Dank fürs Lesen und kommentieren. Schön, dass sie Dir gefallen hat!
Einen Teil Deiner Verbesserungsvorschläge hab ich dankend angenommen.

Mit dem "Frühling im November" - was meinst Du, was mich auf die endgültige Idee für diese Geschichte brachte ;);) Wenn mensch aus dem Bürofenster schaut und bei den Temperaturen eigentlich eher zartgrüne statt braunen Blättern erwarten würde ...

Mittlerweile ist es ja doch eher wieder ein grauer Tag ...

Liebe Grüße
Tamlin

 

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