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Rückblende in Fehlfarben
Es begrüßte ihn heute sadistisch grinsend ein völlig normaler Tag. Morgens war er schwer aus dem Bett gekommen, kein Wunder bei der Dunkelheit. Halb schlafend noch Zähne putzen, anziehen, sich am ersten Schluck heißen Kaffees den Mund verbrühen – und davon endlich aufwachen.
Der Weg ins Büro war der übliche. Er hupte laufend. Ärgerte sich, als direkt vor ihm der Bus hielt, der die Schulkinder zu ihrer täglichen Dosis Gelehrsamkeit abholte. Dann auch noch eine Baumaschine auf dem Weg und der entsprechende Stau dahinter.
Trotzdem kam er rechtzeitig an. Wie immer.
Im Büro öffnete ihm der Alltagsstress schon die Tür. Das Telefon stand nicht still, Berge von Mails wollten bearbeitet sein, darüber schwebend der typische Bürogeruch. Die längst nicht mehr änderbare Mischung aus altem Kaffee, geronnener Zeit, Überdruss und Angstschweiß.
In der Mittagspause sah er die üblichen Gesichter vor sich. Belanglosigkeit atmend, sich über die neuesten Skandälchen den Mund zerreißend, geifernd neidisch wichtigere Schicksale auseinanderpflückend. Er schaufelte das pampige, geschmacklose Essen nur auf die Pausenzeit achtend in sich hinein, fühlte er sich eher wie in einem Hühnerstall gefangen, so laut war das Gegacker um ihn herum.
Der Nachmittag glich dem Vormittag aufs Haar. So langweilig und so gewöhnlich lief alles ab, dass er hinterher nicht einmal hätte sagen können, was genau er getan hatte.
Ein weiterer grauer Tag in einer Perlenkette grauer Tage.
Bis er aus dem Fenster sah.
Seltsam. Mitten im November schien ein Hauch Frühling in der Luft zu liegen. Die sonnengoldenen Blätter der Bäume vor seinem Fenster wehten leicht, deutlich auszumachen vor dem klaren, kaltblauen Himmel. Die fedrigen kleinen Wölkchen verdeutlichten die Geschehnisse weiter oben in der Atmosphäre.
Düsenflugzeuge hinterließen weiße Streifen, er träumte für einen winzigen Moment mit den Fliegern in die Ferne, sehnsüchtig, verlangend.
Seinem ewig gleichen Leben entkommen können, sich keine Sorgen mehr machen müssen, keine grauen Tage mehr … keine Einsamkeit …
Er stand auf, reckte sich kurz, strafte sich in Gedanken für diese bunten Gefühle, diese Sehnsucht. Der Feierabend war noch mindestens zwei Stunden entfernt, am Abend warteten weitere Aufgaben. Pflichtbewusst wandte er sich wieder dem verhassten Telefonhörer zu, legte seine Finger auf die Tasten, schrieb, hörte, schrieb wieder. Doch der Blick aus dem Fenster ließ ihm keine Ruhe.
Als er endlich in den Feierabend startete – die bekannten Gesichter im Büro starrten nur papieren ins Leere und beachteten seinen Gruß nicht – verabschiedete sich die Sonne gerade, einer Kerzenflamme kurz vor dem Ersterben gleich, mit einem dramatisch rosaroten Aufglühen am Horizont. Grüßend legte sich einer der letzten Strahlen wie ein lockender Finger auf den Asphalt vor ihn. Forderte ihn auf, auf ihm entlang zu fahren, direkt zum Horizont.
Er ignorierte es erfolgreich.
Nur noch rasch ein paar Dinge einkaufen, der Kühlschrank daheim gähnte laut vor Leere.
Zwischen Nougatcremegläsern und Nudelpaketen, Fleischkonserven und Fruchtsaftkartons , berieselt von der allgegenwärtigen Schlagersoße aus den unsichtbaren Lautsprechern in der Decke legte er schnell die paar Dinge in den Wagen, die er zu benötigen meinte.
Kaum zuhause angekommen setzte er sich wieder vor seinen Rechner. Programmierte noch bis tief in die Nacht hinein, fiel dann völlig erschöpft ins Bett und schlief wie ein Toter.
Der Wecker klingelte.
Der nächste graue Tag begann. Wieder war es dunkel, wieder kam er schwer aus dem Bett. Setzte Kaffee auf, ging Zähneputzen …
„Schatzi… Geliebter …“ Wie Honig tropfte ihre samtweiche Stimme in sein Ohr, holte ihn aus dem Traum. „Kaffee ist fertig, mein Herz.“ Er kam zu sich, schüttelte den Kopf, räkelte sich dann genüsslich.
Am Frühstückstisch dann sah er in die Augen seiner Frau. „Du hast schlecht geträumt heute Nacht“, meinte sie, die Frage schon in der Stimme. „Ach, es war nichts“ wiegelte er gut gelaunt ab. „Nur eine Rückblende in Fehlfarben.“