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Thema des Monats Rahmenbedingungen

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31.07.2005
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Rahmenbedingungen

Rahmenbedingungen​

Hättest nicht auch du mit jenem [...] Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?
(Matthäus 18, 33)​

Die Glöckchen an der Tür klingelten leise, als Lisa den Raum betrat. Wie immer fand sie es hier im ersten Moment etwas zu warm, nachdem sie den ganzen Tag in jenem kühlen Flur des Museums gearbeitet hatte.
Aber, wie jeden Abend, sehnte sie sich auch nach dieser Wärme, denn, wenn man den ganzen Tag in einem Flur gesessen und Leute beobachtet hatte, war einem nicht nur körperlich kalt.
Aber hier…hier war alles so warm und heimelig. Es gab keine elektrische Deckenlampe, aber einige Kandelaber tauchten das Zimmer in ein freundliches, flackerndes Spiel aus gelbem Licht und weichen Schatten. Von einem Plattenspieler tönte Schostakowitsch, leise genug, um nicht zu stören, laut genug, um nicht überhört zu werden.
Ihr Blick schweifte durch das kleine Zimmer, in dessen Mitte ein kleiner Schachtisch stand. Auf dem Schachbrett lag eine kleine, kostbare Bibelausgabe, hingeworfen, als hätte jemand lange gelesen und wäre dabei müde geworden.
An den Wänden reihten sich überquellende Bücherregale und neben einer kleinen Seitentür stand ein großer, alter Spiegel, verhangen mit einem fleckigen, ebenso alten Schleier, wie eine zweite, nur verschlossene, Tür.
„Leo, wo bist du, ich bin es, Lisa“, rief sie irgend- und nirgendwo hin, während sie sich vor den Spiegel stellte und angestrengt, aber vergeblich, versuchte, den Schleier mit Blicken zu durchdringen.
Die kleine Seitentür öffnete sich und ein unvorstellbar alter Mann betrat schleppenden Ganges und auf einen knorrigen Stock gestützt den Raum.
Wie jedes Mal, wenn er sie sah, musste er einen Moment bewundernd verharren und ihre schwarzen Haare und das geheimnisvolle Lächeln betrachten, das um ihren Mund spielte, wie ein Sommerbrise, die über die Oberfläche eines tiefen Sees streicht. Sie war in der ganzen Zeit kaum gealtert.
„Versuchst du wieder durch den Schleier zu sehen, mein Kind?“, fragte er dann.
„Ich würde so gerne sehen, was dahinter ist“, kam die sehnsuchtsvolle Antwort.
„Du weißt, was ich darüber denke“, schloss der Alte das Thema ab. Er kannte ihre endlosen Lamenti, doch er hatte seine Gründe, den Schleier zu lassen, wo er war.
„Wollen wir nicht Schach spielen?“, fragte er nun.
Schweigend gingen er und Lisa zum Schachtisch und setzten sich. Sie nahm schwarz, er weiß.
Als Lisa an den Tisch stieß, fiel die Bibel auf den Boden und blieb dort aufgeschlagen liegen.
Schon wollte Lisa sich bücken, doch Leo winkte ab: "Lass nur, Kind, spielen wir lieber eine Partie."
Gerade wollten sie beginnen, da fiel ihr Blick auf den Kalender, der hinter ihm an der Wand hing.
Ein freudiger Schock überkam sie.
„Leo, Leo, weißt du, was heute für ein Tag ist?“, überfiel sie ihr Gegenüber.
Leo schien zuerst irritiert, dann leuchtete Verstehen in seinen Augen auf, die diametral zu seinem sonstigen Äußeren ausgenommen jung und wach aussahen.
„Verzeih mir, mein Kind, ich hätte es fast vergessen, dass heute dein Geburtstag ist, und sogar ein äußerst runder. Um das wieder gut zu machen, darfst du dir etwas wünschen.“
„Alles, außer, dass ich den Schleier entferne“, fügte er schnell hinzu, als er den Blick in ihren Augen bemerkte.
Die kurz aufgeblitzte Hoffnung verschwand aus ihrem Antlitz, nur um Sekunden später in einem schelmischen Blick ihren Nachfolger zu finden.
„Ich mach dir einen Vorschlag: Wenn ich die Partie gewinne, musst du den Schleier entfernen, wenn du gewinnst, frage ich nie wieder danach.“
Als der Alte zögerte, sagte sie: „Du hast gesagt, ich hätte einen Wunsch frei!“
Hinter der furchigen Stirn des Alten schien ein stummer Kampf stattzufinden, sein Blick schweifte unruhig durch das Zimmer, als suchte er einen Angelpunkt, an dem er sich festhalten könnte. Seine Augen strichen gen Boden und fielen auf die Bibel, die immer noch da lag, aufgeschlagen bei Matthäus 18.
Als er die Überschrift las, durchfuhr es ihn wie ein Stromschlag.
Sein Entschluss war gefallen, auch, wenn es ihn unendlich traurig stimmte.
„Dann lass uns beginnen" sagte er schweren Herzens.
Schweigen legte sich über die Spieler.
Vertieft in ihre Partie setzten sie Figur um Figur, Bauer um Bauer fiel.
Traurig blickte der Alte auf das Schachbrett. Dass alles, wofür er noch hier war, von diesen kleinen, schwarzen und weißen Marmorfiguren abhängen sollte…
Aber wahrscheinlich konnte man es sowieso nicht ewig verhindern, der Drang war einfach zu stark...
Lisa hingegen hatte ihre volle Konzentration auf das Spiel gerichtet, von dem die Erfüllung ihres tiefsten Wunsches abhing, hinter den Schleier zu sehen.
Als sie aufblickte und Leo ansah, bemerkte sie, dass er irgendwie noch älter aussah als sonst, die Falten schienen noch tiefer, der Blick noch müder. Selbst sein Haar schien innerhalb der letzten Minuten schütterer geworden zu sein.
Doch sosehr sie auch Mitleid mit dem Alten hatte, sie hatte zulange warten müssen auf diese Möglichkeit, um sie nun fortzuwerfen.
Das Spiel ging weiter, Offiziere gesellten sich zu den Bauern, standen wie ein stummes Publikum am Rand und sahen mit dem Stoizismus weißen und schwarzen Marmors zu, wie ihre Kameraden fielen.
Es herrschte völlige Stille.
Dann geschah es: „Schach“, sagte Leo, und Lisas gesamte Schleierträume stürzten von der hohen Klippe dieses Wortes und zerbarsten in dumpfe Hoffnungslosigkeit.
Ihr schien kein Ausweg geblieben, keiner ihrer Züge schien ein Matt verhindern zu können, fieberhaft kalkulierte sie alles durch, ihr Blick flog von einer Figur zur anderen, hin und her, zwischen schwarzen Figuren und weißen Feldern und zurück, nichts schien mehr zu gehen. Schon wollte sie vollends aufgeben, als sie eine Hand an ihrem Arm spürte. Sie hob den Blick und sah in Leos wohlwollende Augen.
„Immer mit der Ruhe, mein Kind“ – seine Stimme hatte wie immer eine beruhigende Wirkung auf sie, sofort fielen die Verkrampftheit und Unruhe von ihr ab – „Besieh es dir noch einmal in Ruhe, es ist noch nicht alles verloren“, und er führte ihre Hand zum letzten schwarzen Läufer und dann mit dem Läufer wieder auf ein anderes Feld.
„Siehst du? Es war ganz einfach, du musst nur die Ruhe bewahren.“
Lisa blickte entgeistert auf das Schachbrett, Leo hatte ihr gezeigt, wie sie aus dem Schach entkommen und ihn Matt setzen konnte.
Leo legte behutsam seinen König auf die Seite, und stand unter Ächzen auf, während Lisa immer noch völlig abwesend auf die Figuren starrte.
„Nun komm aber, oder möchtest du nicht mehr hinter den Schleier sehen?“
Lisa erwachte aus ihrer Paralyse. Sie stand auf und umarmte Leo lange.
„Danke“, flüsterte sie. Eine Träne stahl sich aus ihrem Auge und rollte die Wange hinab, bis sie auf ihre Lippen traf und nur noch einen salzigen Abschiedsgruß hinterließ.
Sie fühlte sich von Leo zum Spiegel hingedrückt und wie in Trance trat sie davor.
Dann zog Leo den Schleier weg und Lisa blickte in den Spiegel. Zuerst geschah gar nichts, und die Enttäuschung machte sich schon zum finalen Schlag bereit, als ihr Spiegelbild verblasste und der fleckige Spiegel klar wurde, wie ein Fenster. Eine Flut von Impressionen brach über Lisa herein, umfloss sie, betörte all ihre Sinne mit neuen Bildern, Gerüchen, Geräuschen, Gefühlen. Sie blickte durch das neue Fenster und sah den Strom, wie er pulsierte, träge dahin floss, rauschend vorbeiströmte, einen mitnahm, herunterdrückte und wieder auftauchen ließ.
Noch einmal blickte sie zur Seite, zu Leo. Doch dieser nickte nur, ein traurig-frohes Lächeln auf den Lippen.
„Geh nur, du hast es dir verdient, ich darf es dir nicht länger vorenthalten.“
Lisa sah ihn ein letztes Mal an, dann wandte sie den Blick wieder dem Spiegel zu, und trat hindurch.
Kurz darauf war sie verschwunden, und der Spiegel wieder nur ein Spiegel.
„Arrividerci, mia Gioconda“, flüsterte Leonardo noch bevor er, der Spiegel und das Zimmer zu verblassen begannen.
Er hatte sie gehen lassen müssen, so wie es einst ein anderer Meister mit ihm gemacht hatte. Auch er hatte sich nach der Welt hinter dem Schleier gesehnt. Erst jetzt verstand er, wie schwer es gewesen sein musste...
Sein letzter Blick streifte die Bibel, aufgeschlagen bei Matthäus 18, Vers 23, dem Gleichnis vom undankbaren Schuldner...

Einige Tage später tauchte in Florenz eine junge Frau mit einem faszinierenden Lächeln auf, während in den Nachrichten nur vom größten Rätsel der Kunstgeschichte die Rede war:
Die Mona Lisa war, genau 500 Jahre nach ihrem Entstehen, einfach aus ihrem Gemälde verschwunden, nur noch die Hintergrundlandschaft war zu sehen, die durch Leonardo da Vincis Sfumato-Technik aussah, als hätte jemand einen Schleier davor gehängt.

 

Ich bin doch wirklich eine intellektuelle Definitonslücke,
habe ich doch tatsächlich vergessen das ganze als Schleiergeschichte zu kennzeichnen.
Es wäre äußerst zuvorkommend, wenn ein Moderator das "[Thema des Monats August]" zum Titel hinzufügen könnte.

Danke im Voraus
Johannes

 

Ich muss sagen, mir hat die Geschichte gut gefallen. Das Ende war wirklich gut, ich hatte so manches erwartet, aber nicht das.
Dein Stil liest sich angenehm rund. Normalerweise würde ich auf Grund deiner Fremdworte meckern, aber hier passen sie irgendwie. Es wirkt dadurch insgesamt so etwas beschwingt. Schön:).

Wo du allerdings meiner Meinnung nach etwas meckern muss ist der Inhalt der Mittelteil der ersten Hälfte ;) . Du lässt zwar Figuren entstehen, die ich mir wunderbar vorstellen kann (gerade den Spiegel find ich super), aber ihre Handlung finde ich nicht vollkommen logisch. So ein bisschen, als hättest du den Anfang und das Ende im Kopf gehabt und danach krampfhaft überlegt, wie du nun die Fäden dazwischen spinnst und es dabei spannend hälst. Ich ziele dabei direkt auf den alten Herren. Sein Prozess aus der völligen Abblockhaltung, die er schon seit Jahren gehabt haben muss, zu dem verständnisvollen Verlierer ist für mich hinter einem Schleier. Der Höhepunkt ist dabei ihr Wunsch, dem er nachkommt. Leider ist es aber auch der Dreh und Angelpunkt der Geschichte, so dass ich keinen konkreten Tip geben kann.

Nicht verzweifeln, ich mag die Geschichte auch so. Aber vielleicht hast du ja eine Idee, wie du das noch ändern könntest.

Lg

Thomas :)

 

Hallo Niccolo IV!

Tolle und originelle Idee, auch wenn ich sie erst im zweiten Anlauf begriffen habe! :D (Geht bei mir manchmal etwas länger...)

Am Anfang war es ein wenig unklar, wer der Spiegel und Leo waren, du könntest das sprachlich noch ein wenig klarer ausarbeiten, sodass auch Leute wie ich es sofort verstehen. ;)
Ich hatte sowieso den Eindruck, dass Athanasius eine überflüssige Figur war, ich denke, die Geschichte wäre auch ohne ihn ausgekommen. (Nur so meine Meinung.)

Alles in allem: Gerne gelesen! :thumbsup:

Liebe Grüsse
sirwen

 

Meine Grüße der Allgemeinheit,

Danke für die freundlichen Rezensionen,
was Leonardos Prozess angeht, so habe ich einen Satz eingefügt, der das ganze eventuell verständlicher macht, allerdings kann ich für nichts garantieren.
Die Figur des Athanasius ist in der Tat teilweise überflüssig, aber, da ich den Spiegel als Portal beibehalten möchte, kann er auch eine Persönlichkeit haben, außerdem ist Leonardo dann später nicht so alleine. Desweiteren, auch wenn das eigentlich kein grund ist, mag ich die Figur des Athanasius, weil ich mich mit ihm gut identifizieren kann. (Ich bin ein ebensolcher Nörgler, der in einer Modifikation Kants nach dem kategorischen Negativ lebt. ;) )

Hochachtungsvoll
Johannes

 

Hallo Niccolo,
ich kann mich der Meinung meiner Vorkritiker nur anschließen. Die Wandlung des Alten geht mir zu schnell, ist mir nicht nachvollziehbar genug - und die Figur des Athanasius stört meiner Meimung nach nur die Zweierbeziehung zwischen dem alten Mann und dem Mädchen. Ich finde nicht nur, dass der Text diese Figur nicht braucht, sondern auch, dass sie stört.
Der Text hat mir, obwohl du dich wieder mal einer Perspektive enthalten hast, gut gefallen.

gruß
vita
:bounce:

 

Danke für die Ratschläge, ich werde wohl noch ein paar Sätze bezüglich der Wandlungs Leonardos hinzufügen, und schweren Herzens den guten Athanasius löschen, oder einen Verwendungszweck für ihn finden.

Was die Vermeidung von Perspektive angeht, so wird es wohl daran liegen, dass ich eigentlich ein Objektivitätsfanatiker bin, der am liebsten einen emotionslosen, strukturierten Überblick hat. Dass das mit dem Schreiben von Kurzgeschichten nicht gut zusammenpasst ist evident, und hat sich in meinem allerersten Text überdeutlich gezeigt. Ich werde üben müssen(, auch wenn ich finde, dass "Licht und Schatten" für meine Verhältnisse viel Perspektive hat).

Hochachtungsvoll
Johannes

PS: Würdest du bitte [Thema des Monats August] in den Titel einfügen, vita?
Sofern das innerhalb deiner Kompetenzen liegt...

 

Ich habe nun einiges geändert. Athanasius wartet wieder, irgendwann aufzutauchen, wenn er mehr Sinn macht, und Leonardos Motivation sollte ganz am Schluss verständlich sein.

In der (vergeblichen) Hoffnung auf die Zufriedenheit der Kritiker
Johannes

 

Hi Niccolo,

bei dir merkt man, wie sehr man sich nur auf den Handlungsfaden konzentriert – anstatt auf vermeintliche Nebensächlichkeiten zu achten – es hat eine Zeit und auch bei mir ein zweites mal lesen gebraucht, um Vergangenheit und Zukunft auseinander zu halten und zu verstehen, was du da erzählt hast.

Grandios gelöst – und sehr schön, dass keiner deiner eingestreuten Hinweise mich auch nur aufmerken lies. Hatte was von E.W. Heine, dessen erste „Kille Kille“-Kurzgeschichten ich dir ans Herz legen möchte, wenn du sie nicht schon kennst.

Auch bis zur Auflösung hat mir die Geschichte sehr gut gefallen – große Neugier, was sich hinter dem Schleier verbarg. Dazu waren mir beide Charaktere sehr sympathisch – was ja auch immer eine Leistung an sich ist. Die Atmosphäre des verstaubten Ambiente kam sehr gut rüber. Echt gut geschrieben.

Viele grüße, streicher

 

Danke ihr alle für die Kritiken, die guten Hinweise zur Verbesserung und natürlich das Lob ;)

Ich hoffe nur, meine nächste Geschichte wird nicht so, dass man sagt: "Joa, auch gut, aber die davor war besser..."

Naja, wir werden sehen...;) Ich :comp: ja gerade an der nächsten Geschichte...

 

Hallo Niccolo,

nach sirwens Kommentar bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich wirklich alle Anspielungen verstanden habe, aber die Geschichte und vor allem dein atmosphärischer, aber dennoch nicht aufgeblasener Schreibstil hat mir gut gefallen. Du schaffst es auch irgendwie, dass selbst eine Anhäufung von Adjektiven nicht störend wirkt (obwohl da ein Satz war, in dem es ein bisschen viel wurde).
Dummerweise hatte ich vorher schon mal über die Kritiken gescrollt und irgendwo das Schlüsselwort aufgeschnappt; aber auch ohne Überraschungseffekt liest sich die Geschichte sehr schön.

Was die plötzliche Wandlung angeht, haben die vorherigen Kritiker vielleicht recht.

In gewisser Weise finde ich fast, dass die Geschichte noch besser gewesen wäre, wenn sie uns etwas ganz Fremdes, Neues gezeigt hätte und sich nicht auf den Wiedererkennungseffekt als Pointe verlassen hätte (das sage ich, obwohl ich es gerade auch wieder gemacht habe, hm...).

Gruß,
Megries

 

Hallo Megries

nach sirwens Kommentar bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich wirklich alle Anspielungen verstanden habe
-->Dann sag mir, welche du verstanden hast, und ich sag dir, obs alle waren ;)

(obwohl da ein Satz war, in dem es ein bisschen viel wurde)
-->welcher denn? ich würde ihn gerne verbessern...

Was die plötzliche Wandlung angeht, haben die vorherigen Kritiker vielleicht recht.
-->Haben sie nur vielleicht, oder wirklich recht? Ist die Bedeutung der Bibelstelle nicht gut genug herübergekommen?
Ich wäre über konkretere Ausführungen hierzu erfreut, da sie mir helfen würden, die Geschichte ihrem Idealzustand ein Stück näher zu bringen...

Hochachtungsvoll
Niccolo

PS: Diese Fragen richten sich nicht explizit an Megries, sondern an die Allgemeinheit!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Niccolo,

mal sehen, ob ich es schaffe, gleichzeitig aus deiner Geschichte und deinem Beitrag zu zitieren...

Niccolo IV schrieb:
An den Wänden reihten sich überquellende Bücherregale und neben einer kleinen Seitentür stand ein großer, alter Spiegel, verhangen mit einem fleckigen, ebenso alten Schleier, wie eine zweite, nur verschlossene, Tür.

= Das ist der Satz, den ich meinte (Adjektive). Großer, alter - fleckigen, ebenso alten - zweite, nur verschlossene - das hört sich nach einer Weile fast formelhaft an und ist mir als 'nicht so schön', wenn auch nicht extrem störend aufgefallen. Dann habe ich mich aber gefragt, ob man irgend etwas weglassen könnte, ohne das Bild zu verfälschen oder zu sehr zu beschneiden, und ich denke, man könnte höchstens auf das 'fleckig' verzichten, weil ich mir einen alten Schleier sowieso nicht blütenweiß vorstelle.


„Du weißt, was ich darüber denke“, schloss der Alte das Thema ab. Er kannte ihre endlosen Lamenti, doch er hatte seine Gründe, den Schleier zu lassen, wo er war.

Er hat seine Gründe. Das klingt für mich eher nach äußeren Umständen, die ihn davon abhalten, ihr ihren Wunsch zu erfüllen. Tatsächlich ist es aber seine persönliche Angst, dann überflüssig und einsam zu sein - oder?
Vielleicht wirkt deshalb die plötzliche Wandlung so überraschend. Das Bibelzitat konnte ich zu dem Zeitpunkt, als du im Text darauf Bezug nimmst, noch nicht inhaltlich einordnen, weil ich ja noch nicht weiß, dass Leo auch mal ein 'Bildinhalt' war. Dadurch half es mir in dem Moment eigentlich gar nicht weiter und ich habe es, wenn ich mich an meinen ersten Lesedurchgang erinnere, weitestgehend ignoriert.

Verstanden habe ich die Geschichte insoweit, dass ich weiß, wer die Mona Lisa und der alte Leo sind, und dass die Gioconda am Ende ins echte Leben entlassen wird. Mich haben nur die Anspielungen in den anderen Kritiken verwirrt, es hörte sich an, als steckten da noch mehr Anspielungen oder Bedeutungen drin, die ich vielleicht übersehen habe.
Und ich frage mich nach wie vor, in welchem Bild der gute Leo irgendwann mal drin steckte und ob du da was Spezielles im Auge hattest, was mir vielleicht entgangen ist. :)

Dass der alte Mann Leonardo ist, habe ich übrigens auch nicht gleich kapiert. Ich weiß auch nicht wieso, vielleicht, weil die Geschichte aus meiner Sicht in unserer Zeit spielt (als wäre das ein Grund, es ist doch sowieso keine realistische Handlung).
Aber besser, als wenn der Autor es den Leuten zu sehr unter die Nase reibt. So muss man als Leser auch ein bisschen denken.

Was meine Zögerlichkeit betrifft: Ich habe den überraschenden Sinneswandel von Leo zwar bemerkt, er hat für mich aber nicht so sehr im Vordergrund gestanden, als ich die Geschichte zum ersten Mal gelesen habe. Ich dachte, die Geschichte konzentriert sich mehr auf Lisas Erlebnisse als auf Leos Gewissenskonflikt, und habe das Ganze dann wohl als nicht so wichtig empfunden. Ich wollte ja selbst gern wissen, was hinter dem Schleier ist und was Lisa dann erlebt. Und du beginnst die Geschichte ja aus Lisas Sicht, deshalb habe ich mich wohl mit ihr identifiziert, nicht mit Leo.

Jetzt ein bisschen besser? ;)

Gruß,
Megries

 

Hallo Megries,

bezüglich der übermäßigen Anzahl von Adjektiven, und der Formulierung mit "seinen Gründen" werde ich mir noch einmal Gedanken machen, wie ich es besser machen kann. Danke für den Hinweis...

Ich hatte kein spezielles Bild für Leo im Auge, wollte einfach nur eine Analogie schaffen. Wenn du ein passendes kennst, benachrichtige mich ;)

Was den Sinneswandel angeht, so war es durchaus intendiert von mir, dass Leos Motivation zusammen mit der restlichen Auflösung klar wird, man also vorher noch im Dunkeln tappt. Wenn das nicht so gelungen ist, muss ich mir owhl auch darüber noch Gedanken machen. Schließlich darf eine gute Geschichte keine weiteren Erklärungen benötigen, sondern muss dem Leser sofort aus sich heraus verständlich sein.

Danke für die ausführliche Kritik :)

Hochachtungsvoll
Niccolo

 

Hallo Niccolo,

die Geschichte hat mich sehr positiv überrascht.

Am Anfang mit den klingelnden Glöckchen dachte ich, es ist halt was märchenartiges.
Und in Kurzgeschichten sind Märchen meistens eher spartanisch ausgestattet. Der König - die Königin - fertig. Naja.

Märchenartig ist deine Geschichte dann auch die meiste Zeit. Aber hier ist alles üppig dekoriert, plüschig ausgepolstert. Gefällt mir gut.

Durch den verschleierten Spiegel und das Schachspiel um seine Enthüllung wird Spannung aufgebaut.

Und am Schluss kommt dann die überraschende Erklärung.

Ich habe das so verstanden:
Leonardo da Vinci, das Allround-Genie, ist kein gewöhnlicher Mensch, sondern kommt von der anderen Seite des Schleiers.
Gott hat ihm den Zugang zu unserer Welt erlaubt.
Mona Lisa hat irgenwie mitgekriegt, dass es mit dem verschleierten Spiegel etwas besonderes auf sich hat.
Sie ist Leonardo so lange auf die Nerven gegangen, bis er sie an ihrem 500. Geburtstag schließlch durchgelassen hat.

Nehmen wir mal an, dass das so gedacht ist.
Hmm, bei solchen Geschichten, bei denen erst am Schluss alles blitzartig klar wird, muss die Erklärung ja genau passen. Sie darf nicht zu einfach, aber auch nicht zu kompliziet sein.
Ich bin nicht sicher, ob die Erklärung hier zu kompliziert ist.
Aber zu einfach ist sie bestimmt nicht.
:)

Außerdem wird nicht erklärt, wie Leonardo wieder auf die andere Seite des Schleiers zurückgekommen ist.
Gibt‘s da ungeklärte Todesursachen, mysteriöses Verschwinden oder so?
Wenn ja, könnte man das noch einfließen lassen.
Oder, Moment mal? Ist er einfach so gestorben und deshalb wieder auf der anderen Seite? Könnte auch funktionieren.

Jetzt aber zu den Einzelheiten.

[...] im Zitat gleich am Anfang
Finde ich zu genau und oberlehrerhaft.
Sieht mir zu sehr nach Sachtext aus und zu wenig nach Geschichte.
Das schreckt mich vom Zitat eher ab.

Lisas Arbeit im Museum ...
sehr passend beschrieben :)

„war einem nicht nur körperlich kalt“
tiefsinnig ...

Die ganze Beschreibung des Zimmers von „Aber hier...“ bis „zweite, nur verschlossene, Tür.“ gefällt mir gut.
Allerdings wiederholt sich „klein“:
„das kleine Zimmer“
„ein kleiner Schachtisch“
„eine kleine, kostbare Bibelausgabe“
„neben einer kleinen Seitentür“

„irgend- und nirgendwo hin“
nett ...

„ein unvorstellbar alter Mann“
Show don‘t Tell.
Das „unvorstellbar“ halte ich für *extrem* schlecht gewählt.
Denn wenn du eine Geschichte erzählst, willst du doch, dass der Leser sich was vorstellt. :)
Dann vielleicht eher „unermesslich“.
Das ist aber alles nicht visuell.
Man könnte das Alter vielleicht irgendwie so darstellen.
„Seine fleckige Haut sah älter aus als 100 Jahre. Seine Augen blickten noch viel älter.“

Die Beschreibung der Mona Lisa ist wieder sehr passend zum Schluss.

Lisa stellt mit einem „freudigen Schock“ fest, dass sie Geburtstag hat.
Hmmmm, Alzheimer? :)
Finde ich nicht wirklich glaubwürdig motiviert.
Alternativ könnte Lisa die ganze Zeit mit freudiger Erwartung an Leo herumquengeln („Oh Leo, weißt du was heute für ein Tag ist?“), er kommt und kommt nicht drauf, sie setzen sich wie immer zum Schachspielen, Lisa lässt die Katze aus dem Sack, und die Geschichte läuft weiter wie sie ist.

„diametral zu“
Finde ich etwas technisch.
Warum nicht einfach „ganz im Gegensatz zu“?

„in einem schelmischen Blick ihren Nachfolge zu finden“
Finde ich nett konstruiert, überzeugt mich aber nicht - in einem Wort: überkonstruiert.

Die Beschreibung des Schachspiels gefällt mir („Offiziere gesellten sich zu den Bauern“),
aber „Stoizismus“ finde ich zu sehr Fremdwort (vor allem weiß ich nicht genau, was das heißt :)).

„Lisas gesamte Schleierträume stürzten von der hohen Klippe dieses Wortes“
Wow!
Das haut mich wirklich aus den Socken.
Sehr dynamisches, dramatisches Bild.

„zerbarsten“
Wie wäre es hier mit „zerschellen“, um im Bild mit der Klippe zu bleiben?

„zwischen schwarzen Figuren und weißen Feldern“
geschliffen formuliert ...

„nichts schien mehr zu gehen“
Das erinnert mich irgendwie an „Hey - was geht, Alter?“ und kommt mir deshalb etwas platt in dieser Geschichte vor.

„Immer mit der Ruhe“ - „wie immer“
Wiederholung

„Paralyse“
Finde ich zu technisch.

„Eine Träne stahl ... salzigen Abschiedsgruß hinterließ.“
Finde ich etwas schwülstig und überkonstruiert.

„zum finalen Schlag“
Finde ich stilistisch unpassend.

Die Beschreibung dessen, was Lisa im Spiegel sieht, finde ich sehr lebendig.
Allerdings finde ich „den Strom“ etwas undefiniert im Vergleich zur „Flut von Impressionen“.
Da müsste was ähnliches kommen. Strom von was? Warum nicht „Strom von Eindrücken“?
Außerdem Wiederholung „Strom“ - „vorbeiströmte“.
Außerdem finde ich es etwas distanziert: Lisa sieht den Strom „wie er einen mitnahm, herunterdrückte und wieder auftauchen ließ“.
Ginge auch mit mehr Beteiligung:
„Lisa wollte sich von ihm mitnehmen lassen, herunterdrücken, und wieder auftauchen“.

„Arrividerci, mia Gioconda“
Nicht allgemein verständlich.

Der Titel ist sehr passend.
Es geht um Rahmen, und auch Bedingungen.
Darf sie raus, darf sie nicht?

Vielleicht noch meine persönliche Meinung zu Zitaten und Fremdworten und so.
Ich finde, man muss das gut dosieren.
Deine Geschichte setzt voraus, dass man über Leonardo da Vinci und die Mona Lisa Bescheid weiß.
Schonmal eine ganze Menge. :)
Das Erwähnen von zwei verschiedenen Bibelstellen finde ich etwas übertrieben (Verse 33 und 23, oder ist das ein Tippfehler?). Reicht da nicht eine?
Dann Schostakowitsch. Ok, hört sich an wie ein schwermütiger Russe. Name kommt mir auch irgendwie bekannt vor. Aber muss das so spezifisch sein? Wie wär‘s mit einer „barocken Weise“?
Dann die Fremdwörter (wie man‘s nimmt), die ich oben angemeckert habe: diametral, Stoizismus, Paralyse.
Dann Leonardos Abschiedsworte auf italienisch.
Gut, vielleicht zeigt sich hier meine schwindende Allgemeinbildung.
Aber ich finde, man sollte es dem Leser in den Einzelheiten nicht zu schwer machen.
Wie soll er sich sonst auf die Pointe konzentrieren? :)
Hängt natürlich auch von deiner Zielgruppe ab.

Insgesamt:
Situation und Pointe gut konstruiert.
Schön geschrieben.
Eine Erleuchtung war‘s für mich nicht,
liegt aber an meinem persönlichen Geschmack.

viele Grüße
jflipp

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi jflipp,

danke für die, wie üblich, hervorragende und sorgfältige Kritik.
Schön, dass die Geschichte dir teilweise gefallen hat, sodass du sie nicht ganz zerpflücken musstest.

Bezüglich deiner Interpretation ist zu sagen, dass sie zwar nciht ganz meinen konfusen Gedanken entspricht, sondern sogar vielmehr reinbringt. Außerdem ist dei Interpretation der Schaffensprozess des Lesers, in den der Autor sich nicht einzumischen hat.
Jedenfalls hat mir deine Interpretation sehr gut gefallen.

Deine Verbesserungsvorschläge werde ich versuchen umzusetzen.

bzgl. Geburtstag: Wenn du 500 Jahre gelebt hast, meinst du nicht, dass ein Tag ist, wie der andere? Da kann man selber seinen Geburtstag schonmal vergessen, denke ich...

bzgl. Abschiedsworte: Arrividerci ist, denke ich, klar (Aufwiedersehen); mia ist auch nicht sonderlich schwer zu erraten und La Gioconda nennen die Italiener die Mona Lisa, da die dargestellte Frau Vermutungen zufolge die Frau eines gewissen Francesco dal Gicondo gewesen sein soll (hoffe ich irre mich nicht beim Namen).

EDIT, da ichs zuerst vergessen hatte:
Die unterschiedlichen Verse begründen sich, wie folgt:
Math, 18, 33 ist der Kernsatz des Gleichnisses, seine Aussage.
Math, 18, 23 ist der erste Vers des Gleichnisses, da, wo die Überschrift steht, die Leo ins Auge fällt, und mit der er, als gebildeter Mensch, natürlich sofort die Aussage assoziiert.
Vers 33 ist nur für den Leser, damit der weiß, wodrums geht.

Hochachtungsvoll
Niccolo

 

Hallo Niccolo,


sodass du sie nicht ganz zerpflücken musstest.
Was heißt hier ich musste?
Du wolltest es doch so. :)
Außerdem bedeutet das Herummeckern an Kleinigkeiten nicht, dass eine Geschichte schlecht ist.

Bezüglich deiner Interpretation ist zu sagen, dass sie zwar nciht ganz meinen konfusen Gedanken entspricht
Was ist denn deine Interpretation?
Ich finde, durch die Bibelzitate und den "anderen Meister" drängt sich die Erklärung durch Gott irgendwie auf.

bzgl. Geburtstag: Wenn du 500 Jahre gelebt hast, meinst du nicht, dass ein Tag ist, wie der andere? Da kann man selber seinen Geburtstag schonmal vergessen, denke ich...
Wie du sagst, *kann* das sein, *muss* aber nicht.
Lisas Geburtstag ist ein wichtiger Punkt im offen dargelegten Teil der Handlung. Sonst kriegt sie ja nicht ihren Wunsch frei.
Und ich finde, bei solchen Sachen ist es nicht Aufgabe des Lesers, sich zu fragen
„Hmmm, wie kann man sich das nun erklären?“
sondern es ist des Autors Job, das dem Leser so zu verklickern, dass er es ohne Murren schluckt.

Wenn du den Überraschungseffekt mit dem vergessenen Geburtstag haben willst, würde ich vorher zeigen, dass Lisa allgemein vergesslich ist.
Könnte man hier so machen.
„Sie setzten sich an den Schachtisch. Lisa fischte in der Tasche ihrer Strickjacke nach ihrer Pfefferminzdose. Oh nein! Schon wieder vergessen. Da streifte ihr Blick den Kalender und es fiel ihr siedend heiß ein. Heute war ja ihr Geburtstag!“

Da sehe ich, dass Lisa allgemein vergesslich ist.
Das nehme ich als Leser zur Kenntnis und erwarte nicht mal eine Begründung.
Hey, die Leute sind so! („Das war schon immer so. Da könnte ja jeder kommen.“)

Dann glaube ich auch eher, dass Lisa ihren Geburtstag vergisst.

bzgl. Abschiedsworte: Arrividerci ist, denke ich, klar (Aufwiedersehen); mia ist auch nicht sonderlich schwer zu erraten und La Gioconda nennen die Italiener die Mona Lisa, da die dargestellte Frau Vermutungen zufolge die Frau eines gewissen Francesco dal Gicondo gewesen sein soll (hoffe ich irre mich nicht beim Namen).
Ich würde hier „Arrivederci, meine Teure“ sagen. Dann hast du den italienischen Touch, den du haben willst (verständlich).
Aber dieses „Gioconda“ hört sich für mich an wie ein obskures Gerücht, das hartnäckig in Kunsthistorikerkreisen zirkuliert.
Ungefähr so wie Loch Ness oder Area 51. :) :)
Interessiert nur sehr wenige und ganz bestimmte Leute.
Die große Mehrheit findet das zum Gähnen langweilig.
Wenn sie‘s überhaupt schonmal gehört hat.
Deshalb würde ich das hier weglassen.

Natürlich kann man wenig bekannte Tatsachen (wissenschaftlich oder nicht) in eine Geschichte einbauen.
Aber dann sollte man sie auch ein bisschen erklären, finde ich.
Was du hier nicht tust und was ich auch nicht machen würde.

Jetzt reichts aber. :)

viele Grüße
jflipp

 

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