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Rahmenbedingungen
(Matthäus 18, 33)
Die Glöckchen an der Tür klingelten leise, als Lisa den Raum betrat. Wie immer fand sie es hier im ersten Moment etwas zu warm, nachdem sie den ganzen Tag in jenem kühlen Flur des Museums gearbeitet hatte.
Aber, wie jeden Abend, sehnte sie sich auch nach dieser Wärme, denn, wenn man den ganzen Tag in einem Flur gesessen und Leute beobachtet hatte, war einem nicht nur körperlich kalt.
Aber hier…hier war alles so warm und heimelig. Es gab keine elektrische Deckenlampe, aber einige Kandelaber tauchten das Zimmer in ein freundliches, flackerndes Spiel aus gelbem Licht und weichen Schatten. Von einem Plattenspieler tönte Schostakowitsch, leise genug, um nicht zu stören, laut genug, um nicht überhört zu werden.
Ihr Blick schweifte durch das kleine Zimmer, in dessen Mitte ein kleiner Schachtisch stand. Auf dem Schachbrett lag eine kleine, kostbare Bibelausgabe, hingeworfen, als hätte jemand lange gelesen und wäre dabei müde geworden.
An den Wänden reihten sich überquellende Bücherregale und neben einer kleinen Seitentür stand ein großer, alter Spiegel, verhangen mit einem fleckigen, ebenso alten Schleier, wie eine zweite, nur verschlossene, Tür.
„Leo, wo bist du, ich bin es, Lisa“, rief sie irgend- und nirgendwo hin, während sie sich vor den Spiegel stellte und angestrengt, aber vergeblich, versuchte, den Schleier mit Blicken zu durchdringen.
Die kleine Seitentür öffnete sich und ein unvorstellbar alter Mann betrat schleppenden Ganges und auf einen knorrigen Stock gestützt den Raum.
Wie jedes Mal, wenn er sie sah, musste er einen Moment bewundernd verharren und ihre schwarzen Haare und das geheimnisvolle Lächeln betrachten, das um ihren Mund spielte, wie ein Sommerbrise, die über die Oberfläche eines tiefen Sees streicht. Sie war in der ganzen Zeit kaum gealtert.
„Versuchst du wieder durch den Schleier zu sehen, mein Kind?“, fragte er dann.
„Ich würde so gerne sehen, was dahinter ist“, kam die sehnsuchtsvolle Antwort.
„Du weißt, was ich darüber denke“, schloss der Alte das Thema ab. Er kannte ihre endlosen Lamenti, doch er hatte seine Gründe, den Schleier zu lassen, wo er war.
„Wollen wir nicht Schach spielen?“, fragte er nun.
Schweigend gingen er und Lisa zum Schachtisch und setzten sich. Sie nahm schwarz, er weiß.
Als Lisa an den Tisch stieß, fiel die Bibel auf den Boden und blieb dort aufgeschlagen liegen.
Schon wollte Lisa sich bücken, doch Leo winkte ab: "Lass nur, Kind, spielen wir lieber eine Partie."
Gerade wollten sie beginnen, da fiel ihr Blick auf den Kalender, der hinter ihm an der Wand hing.
Ein freudiger Schock überkam sie.
„Leo, Leo, weißt du, was heute für ein Tag ist?“, überfiel sie ihr Gegenüber.
Leo schien zuerst irritiert, dann leuchtete Verstehen in seinen Augen auf, die diametral zu seinem sonstigen Äußeren ausgenommen jung und wach aussahen.
„Verzeih mir, mein Kind, ich hätte es fast vergessen, dass heute dein Geburtstag ist, und sogar ein äußerst runder. Um das wieder gut zu machen, darfst du dir etwas wünschen.“
„Alles, außer, dass ich den Schleier entferne“, fügte er schnell hinzu, als er den Blick in ihren Augen bemerkte.
Die kurz aufgeblitzte Hoffnung verschwand aus ihrem Antlitz, nur um Sekunden später in einem schelmischen Blick ihren Nachfolger zu finden.
„Ich mach dir einen Vorschlag: Wenn ich die Partie gewinne, musst du den Schleier entfernen, wenn du gewinnst, frage ich nie wieder danach.“
Als der Alte zögerte, sagte sie: „Du hast gesagt, ich hätte einen Wunsch frei!“
Hinter der furchigen Stirn des Alten schien ein stummer Kampf stattzufinden, sein Blick schweifte unruhig durch das Zimmer, als suchte er einen Angelpunkt, an dem er sich festhalten könnte. Seine Augen strichen gen Boden und fielen auf die Bibel, die immer noch da lag, aufgeschlagen bei Matthäus 18.
Als er die Überschrift las, durchfuhr es ihn wie ein Stromschlag.
Sein Entschluss war gefallen, auch, wenn es ihn unendlich traurig stimmte.
„Dann lass uns beginnen" sagte er schweren Herzens.
Schweigen legte sich über die Spieler.
Vertieft in ihre Partie setzten sie Figur um Figur, Bauer um Bauer fiel.
Traurig blickte der Alte auf das Schachbrett. Dass alles, wofür er noch hier war, von diesen kleinen, schwarzen und weißen Marmorfiguren abhängen sollte…
Aber wahrscheinlich konnte man es sowieso nicht ewig verhindern, der Drang war einfach zu stark...
Lisa hingegen hatte ihre volle Konzentration auf das Spiel gerichtet, von dem die Erfüllung ihres tiefsten Wunsches abhing, hinter den Schleier zu sehen.
Als sie aufblickte und Leo ansah, bemerkte sie, dass er irgendwie noch älter aussah als sonst, die Falten schienen noch tiefer, der Blick noch müder. Selbst sein Haar schien innerhalb der letzten Minuten schütterer geworden zu sein.
Doch sosehr sie auch Mitleid mit dem Alten hatte, sie hatte zulange warten müssen auf diese Möglichkeit, um sie nun fortzuwerfen.
Das Spiel ging weiter, Offiziere gesellten sich zu den Bauern, standen wie ein stummes Publikum am Rand und sahen mit dem Stoizismus weißen und schwarzen Marmors zu, wie ihre Kameraden fielen.
Es herrschte völlige Stille.
Dann geschah es: „Schach“, sagte Leo, und Lisas gesamte Schleierträume stürzten von der hohen Klippe dieses Wortes und zerbarsten in dumpfe Hoffnungslosigkeit.
Ihr schien kein Ausweg geblieben, keiner ihrer Züge schien ein Matt verhindern zu können, fieberhaft kalkulierte sie alles durch, ihr Blick flog von einer Figur zur anderen, hin und her, zwischen schwarzen Figuren und weißen Feldern und zurück, nichts schien mehr zu gehen. Schon wollte sie vollends aufgeben, als sie eine Hand an ihrem Arm spürte. Sie hob den Blick und sah in Leos wohlwollende Augen.
„Immer mit der Ruhe, mein Kind“ – seine Stimme hatte wie immer eine beruhigende Wirkung auf sie, sofort fielen die Verkrampftheit und Unruhe von ihr ab – „Besieh es dir noch einmal in Ruhe, es ist noch nicht alles verloren“, und er führte ihre Hand zum letzten schwarzen Läufer und dann mit dem Läufer wieder auf ein anderes Feld.
„Siehst du? Es war ganz einfach, du musst nur die Ruhe bewahren.“
Lisa blickte entgeistert auf das Schachbrett, Leo hatte ihr gezeigt, wie sie aus dem Schach entkommen und ihn Matt setzen konnte.
Leo legte behutsam seinen König auf die Seite, und stand unter Ächzen auf, während Lisa immer noch völlig abwesend auf die Figuren starrte.
„Nun komm aber, oder möchtest du nicht mehr hinter den Schleier sehen?“
Lisa erwachte aus ihrer Paralyse. Sie stand auf und umarmte Leo lange.
„Danke“, flüsterte sie. Eine Träne stahl sich aus ihrem Auge und rollte die Wange hinab, bis sie auf ihre Lippen traf und nur noch einen salzigen Abschiedsgruß hinterließ.
Sie fühlte sich von Leo zum Spiegel hingedrückt und wie in Trance trat sie davor.
Dann zog Leo den Schleier weg und Lisa blickte in den Spiegel. Zuerst geschah gar nichts, und die Enttäuschung machte sich schon zum finalen Schlag bereit, als ihr Spiegelbild verblasste und der fleckige Spiegel klar wurde, wie ein Fenster. Eine Flut von Impressionen brach über Lisa herein, umfloss sie, betörte all ihre Sinne mit neuen Bildern, Gerüchen, Geräuschen, Gefühlen. Sie blickte durch das neue Fenster und sah den Strom, wie er pulsierte, träge dahin floss, rauschend vorbeiströmte, einen mitnahm, herunterdrückte und wieder auftauchen ließ.
Noch einmal blickte sie zur Seite, zu Leo. Doch dieser nickte nur, ein traurig-frohes Lächeln auf den Lippen.
„Geh nur, du hast es dir verdient, ich darf es dir nicht länger vorenthalten.“
Lisa sah ihn ein letztes Mal an, dann wandte sie den Blick wieder dem Spiegel zu, und trat hindurch.
Kurz darauf war sie verschwunden, und der Spiegel wieder nur ein Spiegel.
„Arrividerci, mia Gioconda“, flüsterte Leonardo noch bevor er, der Spiegel und das Zimmer zu verblassen begannen.
Er hatte sie gehen lassen müssen, so wie es einst ein anderer Meister mit ihm gemacht hatte. Auch er hatte sich nach der Welt hinter dem Schleier gesehnt. Erst jetzt verstand er, wie schwer es gewesen sein musste...
Sein letzter Blick streifte die Bibel, aufgeschlagen bei Matthäus 18, Vers 23, dem Gleichnis vom undankbaren Schuldner...
Einige Tage später tauchte in Florenz eine junge Frau mit einem faszinierenden Lächeln auf, während in den Nachrichten nur vom größten Rätsel der Kunstgeschichte die Rede war:
Die Mona Lisa war, genau 500 Jahre nach ihrem Entstehen, einfach aus ihrem Gemälde verschwunden, nur noch die Hintergrundlandschaft war zu sehen, die durch Leonardo da Vincis Sfumato-Technik aussah, als hätte jemand einen Schleier davor gehängt.