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Rainer hat schließlich studiert
Rainer hat schließlich studiert
Rainer sitzt in seiner Stammkneipe. Es ist Donnerstag, denn er sitzt jeden Donnerstag dort. Und montags auch. Überhaupt sitzt Rainer ständig in seiner Kneipe. Rainer hat eine Stammkneipe im wirklichen Sinne, alle anderen, sagt Rainer immer, die nur drei Mal in der Woche oder gar weniger ihre selbsternannte Stammkneipe auf ein Bierchen aufsuchen, haben gar keine solche, sondern einfach nur eine Kneipe, in der sie regelmäßig ein Bierchen trinken. Echte Stammkneipenbiertrinker gehen jeden Tag in ihre Stammkneipe. Sagt Rainer und bestellt ein Weizen. Es ist sein viertes heute.
Rainer ist Mitte fünfzig. Er ist nicht dumm, keineswegs. Denn Rainer hat studiert, damals, in Tübingen, erzählt er immer wieder, hat er Jura studiert. Niemand hat je Dokumente darüber gesehen, doch alle glauben ihm, denn er ist immer derjenige, der Bescheid weiß. Über Rechtslagen ganz besonders.
Hey Jochen, sagt Rainer immer, du darfst den Jungs keine Kurzen ausschenken, sind noch keine achtzehn, nuschelt Rainer durch seinen Vollbart. Wenn ihr, sagt Rainer dann zu den Jungs, einen Kurzen wollt, bestelle ich einen für euch. Das ist dann rechtlich ein Grenzfall, sagt Rainer, aber irgendwie doch okay. Denn die Kneipe wird nicht geschlossen, weil Jochen die Kurzen ja nicht an die Jungs ausgeschenkt hat. Und mir, sagt Rainer immer, können sie eh nichts. So ein kleiner Fisch wie ich bin, sagt Rainer.
Rainer ist ein Linker der ersten Stunde. Rainer ist sogar Mitglied der SPD. Aber dort, sagt er immer, mögen sie ihn nicht. Die sind nicht mehr SPD, die sind alles, nur nicht das. Man hat Rainer bei der SPD nie gesehen, und auch der Ortsvorsitzende kennt keinen Rainer, der Jura studiert hat und gerne Weizen trinkt. Niemand hat je seinen Mitgliedsausweis gesehen, aber alle glauben ihm, dass er bei den Sozis ist. Schließlich ist er ein guter Freund von Helmut Schmidt. Das sagt er nämlich immer.
Heute kommt Rainer später als sonst. Er hatte noch wichtige Termine, wie er sagt. Dein Weizen ist schon abgestanden, sagt Jochen, als er Rainer durch die Tür gehen sieht. Dann mach ein neues, erwidert Rainer. Ich habe Durst, sagt Rainer.
Rainers Stammplatz an der Theke ist besetzt. Hey, sagt Rainer, mach Platz, das ist mein Stuhl. Das ist immer schon mein Stuhl gewesen, sagt Rainer. Genau, sagt Jochen. Das stimmt, ist immer schon sein Stuhl gewesen, sagt Jochen. Mach Platz.
Die vier anderen Männer schauen auf den Fremden. Er ist noch nie hier gewesen. Und jetzt nimmt er auch noch Rainer, der eigentlich schon immer hier gewesen ist, seinen Stuhl an der Theke weg. Rainer wird etwas böse. Mach Platz, sagt Rainer etwas lauter. Genau, nuscheln Jochen und die anderen. Das ist schon immer sein Platz gewesen, und Rainer ist eigentlich auch immer schon hier gewesen.
Der Fremde steht maulend auf. Haltet doch die Schnauze, sagt der Fremde. Ist das ein Stress hier, sagt der Fremde und trinkt sein Bier aus. Stimmt so, sagt er, schmeißt fünf Mark auf den Tresen und geht. Danke, sagt Jochen. Danke, sagt auch Rainer und setzt sich auf seinen Stuhl. Der ist ja warm, sagt er und trinkt sein Weizen mit einem Zug halb leer. Ahh, macht Rainer. Das war ein harter Tag.
Wieso, wollen Jochen und die Anderen wissen. Das wollen sie immer wissen, denn niemand weiß, was Rainer macht. Die einen behaupten, er sei Hehler. Doch dann, sagen die anderen, hätte er ja nicht Jura studiert. Anwälte sind keine Hehler. Die anderen behaupten, er ist ein ganz hohes Tier irgendwo bei der Conti oder so. Stimmt, sagen dann die anderen, Rainer hat schließlich studiert.