Was ist neu

Rainer hat schließlich studiert

Mitglied
Beitritt
16.08.2003
Beiträge
23
Zuletzt bearbeitet:

Rainer hat schließlich studiert

Rainer hat schließlich studiert

Rainer sitzt in seiner Stammkneipe. Es ist Donnerstag, denn er sitzt jeden Donnerstag dort. Und montags auch. Überhaupt sitzt Rainer ständig in seiner Kneipe. Rainer hat eine Stammkneipe im wirklichen Sinne, alle anderen, sagt Rainer immer, die nur drei Mal in der Woche oder gar weniger ihre selbsternannte Stammkneipe auf ein Bierchen aufsuchen, haben gar keine solche, sondern einfach nur eine Kneipe, in der sie regelmäßig ein Bierchen trinken. Echte Stammkneipenbiertrinker gehen jeden Tag in ihre Stammkneipe. Sagt Rainer und bestellt ein Weizen. Es ist sein viertes heute.
Rainer ist Mitte fünfzig. Er ist nicht dumm, keineswegs. Denn Rainer hat studiert, damals, in Tübingen, erzählt er immer wieder, hat er Jura studiert. Niemand hat je Dokumente darüber gesehen, doch alle glauben ihm, denn er ist immer derjenige, der Bescheid weiß. Über Rechtslagen ganz besonders.
Hey Jochen, sagt Rainer immer, du darfst den Jungs keine Kurzen ausschenken, sind noch keine achtzehn, nuschelt Rainer durch seinen Vollbart. Wenn ihr, sagt Rainer dann zu den Jungs, einen Kurzen wollt, bestelle ich einen für euch. Das ist dann rechtlich ein Grenzfall, sagt Rainer, aber irgendwie doch okay. Denn die Kneipe wird nicht geschlossen, weil Jochen die Kurzen ja nicht an die Jungs ausgeschenkt hat. Und mir, sagt Rainer immer, können sie eh nichts. So ein kleiner Fisch wie ich bin, sagt Rainer.
Rainer ist ein Linker der ersten Stunde. Rainer ist sogar Mitglied der SPD. Aber dort, sagt er immer, mögen sie ihn nicht. Die sind nicht mehr SPD, die sind alles, nur nicht das. Man hat Rainer bei der SPD nie gesehen, und auch der Ortsvorsitzende kennt keinen Rainer, der Jura studiert hat und gerne Weizen trinkt. Niemand hat je seinen Mitgliedsausweis gesehen, aber alle glauben ihm, dass er bei den Sozis ist. Schließlich ist er ein guter Freund von Helmut Schmidt. Das sagt er nämlich immer.
Heute kommt Rainer später als sonst. Er hatte noch wichtige Termine, wie er sagt. Dein Weizen ist schon abgestanden, sagt Jochen, als er Rainer durch die Tür gehen sieht. Dann mach ein neues, erwidert Rainer. Ich habe Durst, sagt Rainer.
Rainers Stammplatz an der Theke ist besetzt. Hey, sagt Rainer, mach Platz, das ist mein Stuhl. Das ist immer schon mein Stuhl gewesen, sagt Rainer. Genau, sagt Jochen. Das stimmt, ist immer schon sein Stuhl gewesen, sagt Jochen. Mach Platz.
Die vier anderen Männer schauen auf den Fremden. Er ist noch nie hier gewesen. Und jetzt nimmt er auch noch Rainer, der eigentlich schon immer hier gewesen ist, seinen Stuhl an der Theke weg. Rainer wird etwas böse. Mach Platz, sagt Rainer etwas lauter. Genau, nuscheln Jochen und die anderen. Das ist schon immer sein Platz gewesen, und Rainer ist eigentlich auch immer schon hier gewesen.
Der Fremde steht maulend auf. Haltet doch die Schnauze, sagt der Fremde. Ist das ein Stress hier, sagt der Fremde und trinkt sein Bier aus. Stimmt so, sagt er, schmeißt fünf Mark auf den Tresen und geht. Danke, sagt Jochen. Danke, sagt auch Rainer und setzt sich auf seinen Stuhl. Der ist ja warm, sagt er und trinkt sein Weizen mit einem Zug halb leer. Ahh, macht Rainer. Das war ein harter Tag.
Wieso, wollen Jochen und die Anderen wissen. Das wollen sie immer wissen, denn niemand weiß, was Rainer macht. Die einen behaupten, er sei Hehler. Doch dann, sagen die anderen, hätte er ja nicht Jura studiert. Anwälte sind keine Hehler. Die anderen behaupten, er ist ein ganz hohes Tier irgendwo bei der Conti oder so. Stimmt, sagen dann die anderen, Rainer hat schließlich studiert.

 

Hi Marco,

lange nicht da gewesen. :)
Wir kennen sie glaube ich alle, diese Typen, über die wir nichts und alles wissen, die irgendwie dazu gehören, auch wenn uns nichts mit ihnen verbindet.
Das gefällt mir an deiner Geschichte. Der naive Tonfall passt dazu und die Atmosphäre schien mir stimmig.
Leider habe ich nicht so ganz begriffen, worauf du hinaus willst. Letztlich finde ich es in Ordnung, wenn die Angaben, die man in der Kneipe macht, nicht alle überprüft werden. Wenn Rainer kein Sozi ist und nicht studiert hat, muss er das mit sich allein abmachen. Vielleicht würde er von seiner Fassade etwas verlieren, wenn die juristischen Aussagen mal überprüft würden, und es schadet sicherlich nicht, sich mit seinen Inhalten auseinanderzusetzen, auch wenn Rainer studiert hat. Vielleicht wolltest du auf diese kritiklose Haltung gegenüber Autoritäten hinaus.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Marco14,

hat mir ganz gut gefallen. Genau wie sim finde auch ich, dass du einen typischen Menschen beschrieben hast, der einfach da ist und zum Alltag gehört. Ich hatte einen Arbeitslosen vor Augen, der sich nicht ganz mit der Gegenwart abfinden kann, in der das Jurastudium nicht gebraucht und die SPD nicht mehr links ist. Die Anonymität in der Stammkneipe hat mich an´s Internet erinnert, in dem die vorgespielte Realität auch erstmal nicht überprüft wird. Gefehlt hat mir der eigentliche Plot, inklusive Auflösung und Handlungsumschwung. Denn es passiert eigentlich nichts - was natürlich zur Stammkneipenatmosphäre passt, klar.

Kleinigkeiten:

Es ist Donnerstag, schließlich sitzt er jeden Donnerstag in dieser Kneipe.
Das "es ist Donnerstag" könntest du für meinen Geschmack streichen, so wälzt du mir die Tatsache etwas zu sehr aus.
alle anderen, sagt Rainer immer, die nur drei Mal in der Woche oder gar weniger ihre selbsternannte Stammkneipe auf ein Bierchen aufsuchen, haben gar keine Stammkneipe sondern einfach nur eine Kneipe
auch hier ein Streichvorschlag, nämlich das letzte "Stammkneipe". Aus demselben Grund.
Warum setzt du die wörtliche Rede nicht in Anführungszeichen?

Liebe Grüße
Juschi

 

Die Frage habe ich mir auch gestellt, als ich vor der Entscheidung stand, Anführungszeichen ja oder nein. Ich habe mich dagegen entschieden, weil die Belanglosigkeit der Gespräche nicht weiter betont werden sollte.
Ja, der Text plätschert nur so vor sich her. Das ist jedoch auch so gewollt. Denn was passiert denn in einer Kneipe? In der Kneipe an der letzten Ecke? Nichts. Natürlich - und das habe ich mir auch überlegt, in Ansätzen mag es sogar zu erkennen sein - hätte ich ein Gespräch anfangen können. Ich bin jedoch der Meinung, dass ein kompletter Dialog nicht passt. Damit aber überhaupt etwas gesagt wird (und das ist in literarischen Texten meiner Ansicht nach von großer Bedeutung) habe ich "Gesagtes" so eingefügt, dass in in die langweilige Regelmäßigkeit des arbeitslosen "Schnackers" passt ("immer", "nie", "niemand", "alle").
Vielleicht kann ich an dieser Stelle auch noch einmal sagen, was ich mit dieser Geschichte ausdrücken möchte; und dies geht schon in die Richtung, die sim eingeschlagen hat.
Rainer lebt in einer Traumwelt, an die er fest glaubt. Diese Traumwelt ist für ihn zur Realität geworden. Natürlich hat er nicht Jura studiert. Natürlich ist er nicht "ein hohes Tier bei der Conti", auch die SPD-Mitgliedschaft ist schlichtweg nicht wahr. Rainer glaubt aber daran, um sein trauriges Leben (er muss ja nicht einmal arbeitslos sein) zu vergessen. Und die anderen (bewusst habe ich ihnen bis auf Jochen keinen Namen gegeben)? Sie sind in der selben Situation und finden ihre Stütze in Rainer, der ja studiert hat und bei der Conti in der Führungsetage sitzt. Mensch, der hat ja was erreicht und sitzt trotzdem mit uns an der Theke. Die anderen finden ihren Halt an einer Lügengeschichte und fragen deswegen auch nicht nach, ob Rainer wirklich ein guter Freund von Schmidt ist. Er ist es einfach.

 

Hallo Marco.

Ich weiß, eigentlich soll man sich nicht auf das Alter eines Schreibers beziehen, sondern die Geschichte an für sich kritisieren. Dennoch finde ich es erwähnenswert, dass du in diesem Alter bereits einen sehr angenehmen Stil und Geschichten mit Tiefgang vorweisen kannst.
Ich meine, von dir schon einmal etwas unter Humor oder Satire gelesen zu haben, was mir auch ganz gut gefallen hatte.

Diese kurze Kurzgeschichte jedenfalls gefällt mir. Die nüchterne, teilweise naive Sprache passt sehr gut zu Rainer.
Der Verzicht auf wörtliche Rede ist mir anfangs unangenehm aufgestoßen, im Nachhinein betrachtet ist es aber ein schöner Kunstgriff.

Dennoch: Du verhedderst dich manchmal in den Sätzen; fängst neue an, wo eigentlich ein Komma stehen sollte.

Davon abgesehen aber wirklich ein schöner Text.

Grüße

Cerberus

 

Weitere Beanwortung

Hallo,

würde mich über weitere Kritik sehr freuen.

Marco

 

Ja Herrschaftszeiten, gibt es denn kein Synonym für "Stammkneipe"? Allein im ersten Absatz bombadierst du uns siebenmal mit diesem Wort und bringst auch noch zwei "Kneipen" unter. Dass du damit den eingeschränkten Wortschatz der dargestellten Gesellschaft charakterisieren willst, ist natürlich möglich, kaufe ich dir aber nicht ab. ;)

Die Wiederholungen ganzer Sätze im späteren Verlauf, finde ich hingegen amüsant.

Hey, sagt Rainer, mach Platz, das ist mein Stuhl. Das ist immer schon mein Stuhl gewesen, sagt Rainer. Genau, sagt Jochen. Das stimmt, ist immer schon sein Stuhl gewesen, sagt Jochen. Mach Platz.
Alles hat gefälligst so zu sein wie immer. Warum? Egal. Ist halt so. :)

Der Erzählstil kommt mir irgendwie vom Deutschunterricht in der Schule bekannt vor. Ich weiß den Namen der Geschichte aber nicht mehr. Macht aber nichts: Deine Geschichte gefällt mir.

Gruß,
Jay

 

Gern gelesen

Hallo Marco.


Jo, dein Können ist nicht altersgemäß, alle Achtung! Aber nicht, dass du es nicht weiter vervollkommnen könntest, klar. In dir steckt Potenzial, wenn ich das mal so einfach beurteilen darf.

Zuerst was Formales: Du brauchst den Titel nicht nochmal zu Anfang des Textes wiederholen, es reicht, wenn du ihn nur in das "Titel:"-Feld einträgst.

::{ Rainer sitzt in seiner Stammkneipe. Es ist Donnerstag, schließlich sitzt er jeden Donnerstag in dieser Kneipe. }
- Ersteres wurde schon weiter oben gesagt, und letzteres würde ich wirklich durch "dort" ersetzen und die Sache ist flüssiger.

::{ oder gar weniger ihre selbsternannte Stammkneipe auf ein Bierchen aufsuchen, }
- Sagt man nicht eher "zu"? Den Bierchenzusatz würde ich überhaupt streichen, da er später nochmal auftritt.

::{ haben gar keine Stammkneipe[,] sondern einfach nur eine Kneipe, }
- Komma fehlt.

::{ Denn Rainer hat studiert, damals, in Tübingen, erzählt er immer wieder, hat er Jura studiert. }
- Dieser Satz funktioniert grammatisch nicht. Entweder aufsplitten: Denn Rainer hat studiert. Damals, ... Oder mit einer Anapher nachhelfen: Denn Rainer hat studiert, damals, in Tübingen, erzählt er immer wieder, da hatte er Jura studiert.

::{ sind noch keine achtzehn, nuschelt Rainer durch seinen Vollbart. }
- Auch hier verlängerst du einen Satz nur unnötig durch die Wiederholung.

::{ Die sind nicht mehr SPD, die sind alles[,] nur nicht das. }
- Komma fehlt.

::{ Dein Weizen ist schon abgestanden, sagt Jochen, als er Rainer durch die Tür gleiten sieht. }
- Hmm, du glaubst wirklich, ein 50-jähriger von Rainers Machart "gleitet" durch die Tür?

So wie ich die Geschichte verstehe, stellst du hier zum einen die Nichtreflexion, das Desinteresse am Menschen, und zum anderen die Selbstverfremdung der Menschen dar, wodurch sie glauben, ihr leeres Leben füllen zu können. Irgendwie ertrinkt die von dir beschriebene Gesellschaft in lügenschwangeren Belanglosigkeiten.


FLoH.

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom