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Rapunzel
Der Regen prasselte gegen die Scheibe, perlte an ihr ab und lief in Streifen an dem traurig in die Welt schauenden Jungen vorbei. Die einzelnen Tropfen schienen ein Wettrennen zu veranstalten, wer als erster am Boden ankommen würde und sein Blick folgte dem Führenden wie ein faszinierter Zuschauer. Es war spät am Abend, draußen dunkel und schon den ganzen Tag über hatten dichte und dunkle Wolken den Himmel verdeckt, ihn in den Bann gezogen und nicht mehr losgelassen. Der Bus war nicht sehr voll, nur vorne saßen ein paar ältere Damen und zwei Plätze vor ihm ein Mann entgegen der Fahrtrichtung, der ihn die ganze Zeit über anstarrte. Frederik versuchte wegzusehen, weiter aus dem Fenster die hell beleuchtete Stadt vorbeiziehen zu lassen. Etwas drückte gegen seinen Magen. Er versuchte sich einzubilden, er hätte etwas Falsches gegessen. Und am Fenster, da zogen weiter die Regentropfen ihre Bahnen.
„He Kleiner", sagte der Mann auf einmal.
Frederik drehte sich um. Der Kerl sah arm aus. Seine zu kurze Hose war durchnässt, unter ihm hatte sich eine kleine Pfütze gebildet. Seine Jeansjacke war alt und von schlecht aufgenähten Flicken übersät. Die Haare hingen ihm wirr im Gesicht. Erst traute er sich nicht, dem Mann ins schmutzige, faltige Gesicht zu sehen. Doch das Schlimmste bemerkte er erst, nachdem der Mann plötzlich lange und ausgelassen zu gähnen anfing. Frederik überlegte schon, ob er ihn bitten sollte, die Hand vor den Mund zu halten, da sah er, das der Kerl keine Zähne mehr hatte. Keinen Einzigen.
„Ja?" sagte Frederik und schaute verlegen auf seine Füße.
„Kleiner, hast du ne Freundin?"
Frederik überlegte kurz, ob er die Wahrheit sagen oder ob er lügen sollte.
„Nein, leider nicht", sagte er.
Der Mann lachte auf und Frederik bemerkte plötzlich, dass er sich geirrt hatte. Sein Gegenüber war nicht komplett zahnlos. Ein einzelner Zahn hielt sich wie ein überlebender Soldat im Niemandsland hinter der unteren Lippe versteckt.
„Weißt du, mein Junge. Ich habe in meinem Leben viele Frauen gehabt. Wirklich sehr viele. Und viele davon waren wirklich wunderschön."
Er stoppte kurz, kramte in einer seiner Hosentaschen herum und holte ein Bild heraus, das er ein paar Sekunden betrachtete. Als wäre es eine Katze streichelte er das Bild liebevoll und flüsterte irgendwelche Worte. Frederik versuchte, auch einen Blick auf das Foto zu erhaschen, aber bevor er das konnte, hatte der Penner es auch schon wieder weggesteckt.
„Aber keine konnte so gut ficken wie Sarah!"
Frederik hatte nicht damit gerechnet, dass der Mann so etwas sagen würde. „Da denk ich zum Beispiel an Maria. Mensch, hatte die tolle Brüste und Augen wie Diamanten. Aber im Bett war sie steif wie ein Brett."
Er lachte wieder und diesmal klang es noch dreckiger. Am liebsten wäre Frederik sofort ausgestiegen, hätte dem Mann noch die Augen mit seinem Taschenmesser ausgestochen und den letzten Zahn ausgeschlagen. Solch herrliche, befreiende Gedanken taten ihm gut. Sie wuschen seinen Kopf besser als es der Regen draußen hätte tun können.
Stattdessen strich er sich durch die nassen Haare. Es spürte Wasser auf seinen Händen.
„Aber weißt du, Kleiner. Sarah ist vielleicht nich so schön wie Maria, aber wie die ficken kann... Wie eine Göttin."
Der Penner sah ihm in die Augen und Frederik hätte sich dabei am liebsten übergeben. Sein Atem wurde unregelmäßig, der Junge musste sich überwinden, nicht gleich loszuschreien. Bilder kamen vor seinen Augen auf. Er sah diesen widerlichen Menschen beim Sex mit einem Mädchen, vielleicht fünfzehn Jahre alt. Sah, wie er mit seinem fetten Bauch über ihr Gesicht streifte, wie er ihr die Kleider vom Leib riss und sie an den langen Haaren runter zog. Seine verkrusteten Lippen über ihre samtweiche Haut streichen. Und in diesem kurzen Tagtraum konnte er nicht wegsehen. Und plötzlich hörte er auch ihr Schreie. Ihre leisen, fast quiekenden Schreie, die wie ein tausendfaches Abbild ihrer Selbst durch seine schmutzigen Hände drangen, mit denen er ihren Mund zuhielt. Einen Namen, sie schrie einen Namen. Aber bevor er glaubte, ihn verstehen zu können, waren die Bilder auch schon wieder verschwunden.
Frederik atmete tief durch.
Der Mann hatte aufgehört zu reden.
„Alles in Ordnung mit dir?"
Er gab keine Antwort, blinzelte stattdessen und ballte seine Fäuste. Spucke sammelte sich in seinem Mund.
„Ja, ich denke schon. Weiß auch nicht, am besten, ich steig hier aus."
Frederik sprang von seinem Platz auf. Es widerstrebte ihm, an dem Kerl vorbeizugehen. Und als er auf einer Höhe mit ihm war, wünschte er sich wieder sehnlichst, ihm beide Augen auf einmal auszustechen, solange auf ihn einzuschlagen, bis kein einziges Wort mehr aus seiner Fresse herauskommen könnte.
Als er ausstieg, krachte die ganze Grausamkeit des Himmels auf ihn herab.
Er hatte den Bus fünf Haltestellen vor seinem Ziel verlassen. Doch war Frederik schon in der Wohnsiedlung, in der sie wohnte, angekommen. Er würde jetzt einfach nur noch der zweispurigen Straße folgen müssen.
Er trug nur eine Jeansjacke, hatte also keine Kapuze. Dazu wehte es stürmisch, doch trotzdem würde er den Rest des Weges zu Fuß fortsetzen. In den nächsten zwei Stunden würde kein Bus mehr kommen. Dann erst wieder der Nachtbus, mit dem er nach Hause zu fahren gedachte.
Frederik wollte eigentlich noch vor zwei Uhr nachts wieder zuhause im Bett liegen. Aber vorher musste er einfach zu ihr. Vor einer Straßenkreuzung blieb er kurz stehen. Es war nicht viel Verkehr und die Ampel stand auf grün. Dennoch ging er nicht hinüber.
Unsicher blickte er sich um und wartete, ob sich etwas menschliches bewegte, wartete eigentlich nur darauf, dass überhaupt etwas passierte. Hätte er sich doch bloß ein wenig mehr angezogen, dachte er unzusammenhängend und ging erst über die Ampel, als diese endlich auf rot umgeschlagen hatte.
Nicht die Kälte und der Regen waren es, die ihm so zu schaffen machte, es war vielmehr die Dunkelheit, die ihn dazu zwang, immer wieder kurz stehen zu bleiben. Plötzlich glaubte er, das Lachen des Mannes aus dem Bus zu hören. Er drehte sich um, doch da war niemand. Nur in etwa dreihundert Metern Entfernung konnte er eine einzelne Gestalt mit einem gelben Regenumhang ausmachen. Mit dem Bus wäre er schon lange bei seinem Ziel angekommen.
Seine Turnschuhe und Strümpfe hatten sich mit Wasser vollgesogen. Er fühlte sich, als würde er durch ein Wattenmeer laufen, aber ohne etwas an seinen Füßen zu tragen. Und, als würde er aufpassen, nicht auf eine Qualle zu treten, suchte er den Boden ab.
Wieder das Lachen. Wieder drehte er sich um und suchte in allen Häusereingängen. Doch da war nichts.
Natürlich, dachte er, es kommt aus deinem Kopf. Diese widerliche Scheiße hat sich bei dir eingebrannt. Und auf einmal dachte er wieder daran, was er in den Augen des Mannes gesehen hatte. Er zitterte kurz und sah nach oben. Regentropfen fielen ihm ins Gesicht, liefen die Wangen herunter.
Und plötzlich wusste er, wen er in seinem Tagtraum gesehen hatte. Das Mädchen, sie war es gewesen.
Er lief und spürte weder Kälte noch Nässe oder die Dunkelheit um ihn herum. Auf dem Bild, welches der Penner mit seinen vergilbten Fingern begrapscht hatte, konnte nur sie gewesen sein. Alles bekam seinen Sinn.
Sie hatte seinen Namen gerufen. Als der Kerl seine Hand über ihren Mund gehalten hatte, da hatte sie nach ihm, Frederik, geschrieen und er hatte sie nicht verstehen können. Das Arschloch würde sie vergewaltigen. Er würde ihre Brüste mit seinen widerlichen Händen begrapschen, er würde ihr den Slip herunterreißen. Frederik wagte gar nicht mehr, weiterzudenken. Seine Hand fühlte beim Laufen in seine Hosentasche und fand sein Klappmesser. Es war ein beruhigendes Gefühl.
Eine einzelne Straßenlampe beschien den durch Gestrüpp abgegrenzten Weg vor ihrem Haus. Frederik wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Er sah sich um, suchte in den Schatten, die sich hinter den Mülltonnen erstreckten nach einem Zeichen.
„Hallo", sagte er schließlich. Er glaubte aber nicht an eine Antwort.
In einem Gebüsch vor ihm bewegte sich etwas. Nur der Wind, sagte das logische Denken in Frederik, aber der hörte wie so oft nicht auf jenes.
„Ich kann dich sehen!"
Das Gebüsch vor ihm hörte auf, sich zu bewegen. Und dann konnte er den Penner auch da liegen sehen. Er war es wirklich. Da vor ihm lag der Typ aus dem Bus, unter einem Baum, zwischen mehreren Büschen.
„Ah du, was willst du von mir, Kleiner?"
Frederik lächelte.
„Mich würde eher interessieren, was du von ihr willst. Sarah gehört nämlich mir!"
Der Mann blickte verdutzt zu ihm hoch, als würde er weder Sinn noch Klang der Worte verstehen. Dann stand er gemächlich auf. Frederik konnte sehen, wie er zitterte.
„Also Kleiner, ich glaub, du hast dir deinen Kopf mal irgendwo eingeklemmt..."
Frederik holte sein Taschenmesser aus der Hosentasche und zückte es. Das Geräusch der hervorschnellenden Klinge zuckte wie ein kleiner Blitz durch die Nacht.
„Ich bring dich um, du Parasit! Sarah gehört nur mir!"
Der Mann konnte nicht anders, als verdutzt zu schauen, als Frederik auf ihn zuschnellte. Er wollte wohl laut schreien, aber wie seine Gelenke war alles an ihm erstarrt. Als hätten sich seine Sinne verlagert, spürte er stattdessen jeden einzelnen Regentropfen, der gegen sein Gesicht prasselte.
Dann stach Frederik zu. Selbst das laute Aufheulen des Mannes konnte ihn nicht beruhigen. Alles drehte sich um ihn und doch sah er die ganze Zeit nur den fetten, ekelhaften Körper des Penners vor sich. Seine Hände wurden plötzlich mit einer roten, warmen Flüssigkeit bespritzt. Es fühlte sich gut an, da sie von der Kälte fast vollkommen taub waren. Starker Wind schob ihn für Sekunden von seinem Opfer weg, aber er fühlte sich stark, so unglaublich stark. Als wäre er ein Ritter, der seine Prinzessin vor dem Monster rettet. Sarah hatte nach ihm gerufen und er war zu ihrem einsamen Kerker gekommen und hatte sie gerettet. Am Ende würden sie heiraten und glücklich bis ans Ende leben.
Irgendwann stand Frederik auf. Er sah runter auf die zusammengekauerte Gestalt. Der Kerl lebte noch, dachte Frederik und hörte das leichte, unregelmäßige Atmen seines Opfers. Dieses Leid hatte er verdient.
Der betäubende Wind verdeckte sein leises Knurren, das sich langsam in ein Stammeln verwandelte.
„Hast du mir noch was zu sagen?", fragte Frederik und tippte mit seiner Fußspitze gegen den Brustkorb des Penners.
Blut vermischte sich auf der Straße immer mehr mit dem Regenwasser und sickerte in den nahen Kanalisationsabfluss ab.
„Was soll ... das ... ich kapiere das alles nicht", antwortete er leise. Frederik musste sich herunterbücken, um ihn zu verstehen.
„Ich weiß ganz genau, was du meiner Sarah antun wolltest. Ich hab deutlich vor mir gesehen, wie du sie ausgezogen und deine ekelhaften Lippen auf sie gepresst hast."
Der Mann schien einzuschlafen, anders konnte Frederik seinen Gesichtausdruck nicht deuten. Dann kam wieder ein wenig Leben in ihn.
„Aber ... Aber Sarah ist doch schon seit Jahren tot."
Frederik lachte und plötzlich sah er etwas kleines, viereckiges in einer Pfütze schwimmen. Er bückte sich und lachte leise, als er das Bild untersuchte.
Dann stürzte er sich wieder auf den Penner. Frederik spürte gar nicht, wie sich seine Beine in Bewegung setzten. Er war in seinem Leben erst einmal betrunken gewesen und dieses Gefühl der Schwerelosigkeit erinnerte ihn im Nachhinein an diesen Moment. Alles war so leicht. Es war so einfach, seine Fäuste zu ballen, sie durch die Luft zischen zu lassen. Und als sie hart auf das Gesicht des Mannes prallten, glaubte er keinen Widerstand mehr zu spüren, als wäre der Mann nun auch zu Luft geworden.
Wieder sah Frederik nach rechts, auf das regennasse Foto. Das fahle Licht der Straßenlampe fiel genau auf es. Ein schwarzweiß Bild, darauf eine fette, ältere Frau. Das war nicht Sarah.
In der anderen Hand hielt er den einen, letzten Zahn des Mannes.
Marburg, 12.12.2005