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Ratten in Koushk
Halb verbrauchte Magie schwappt aus dem Keller der Nekromantengilde von Koushk. Sie scheren sich nicht darum. Experimentieren weiter mit Leben, Tod und allem dazwischen. Die Stadt am Dopunor-Sumpf stinkt weiter vor sich hin, seit Orfu der Grüne sie gegründet hat, um den Reisenden nach Norden einen letzten Unterschlupf zu bieten, bevor sie die Graugrünen Sümpfe durchqueren müssen.
Ko-ka ist eine intelligente Ratte. Seit sie in ein Fass magisch verseuchter Abwässer gefallen ist, hat sie einen Namen, versucht sich gelegentlich an einfachen Zaubersprüchen und beißt alle Männchen tot, die sie begatten wollen. Drei Junge ihres letzten Wurfes hat sie bei einem magischen Ritual geopfert, um selbst ein Mensch zu werden. Es hat nicht ganz funktioniert.
Sie benötigt neuen Nachwuchs für den nächsten Versuch. Dafür braucht sie ein Männchen. Aber sie ist nicht die einzige Ratte in Koushk, die einen Namen trägt und mehr als rudimentäre Intelligenz besitzt. Deshalb machen die intelligenten Männchen einen großen Bogen um sie.
Sie muss ein dummes finden, das noch ein Tier ist.
Wie sie es hasst, es mit einem Tier zu tun!
Ko-ka macht sich auf die Suche.
In der Robe des Regens,
da liegt ein Pferd, schläft ein Bettler,
faulende Äpfel, dunkler Wein,
Koushk,
Heimat mein, Heimat mein.
Friedvoll krabbeln Ratten,
gekleidet in Schmutz und Schein,
Koushk,
Heimat mein, Heimat mein.
Der Sänger an der Ramschplatz-Ecke verstummt. Das kleine Mädchen, das ihm zugehört hat, lächelt schüchtern. Der Sänger grinst zurück und winkt das Kind heran.
Ko-ka findet einen frischen Abfallhaufen an einem Pfeiler der Kmies-Brücke. Ein ausgeweideter Pferdekadaver liegt daneben. Sie kriecht in ein gesplittertes Tongefäß und wartet.
Sie hat Zeit.
Währenddessen überdenkt sie gründlich ihre magische Formel. Vielleicht hätte sie vier oder fünf Junge opfern müssen. Aber zwei ihrer Nachkommen sind verkrüppelt zur Welt gekommen. Ko-ka befürchtet, dass die Missbildungen negative Auswirkungen auf ihre Magie gehabt hätten.
Die Ratte schnüffelt. Zwischen verwesten Essensresten nimmt sie etwas wahr – ein Männchen? Ja. Ein geiles noch dazu. Auch ihre Erregung steigt. Aber noch wartet sie. Das Männchen muss zu ihr kommen. Sanft betastet sie die Schärfe der Tonscherbe, die neben ihr aus dem Unrat ragt.
»Ich bin eine Ratte«, krächzt der Sänger. Er greift das Tier am Schwanz und lässt es zappeln. Mit leuchtenden Augen beobachtet er das Fellknäuel. Es zuckt, will sich befreien, will ihn beißen. Sieht ihn scheinbar böse an.
Der Sänger senkt seinen Blick. Weiße Gliedmaßen winden sich. Das Mädchen stemmt sich gegen seine Fesseln. Seine Augen sind verbunden, damit es nicht sieht, was der Sänger tut. Es würde doch nur schreien. Und er braucht es lebend, um sein eigenes Leben zu verlängern.
»Du bist mein Leben«, haucht der Mann. Sein Umhang klebt an ihm. Langsam lässt er die Ratte sinken. »Ich nehme dich auf, und wir werden eins.«
Die Ratte baumelt über dem Gesicht des Mädchens. Die freie Hand des Sängers greift nach ihrem Mund, drückt die Zähne auseinander. Die Ratte schnuppert.
Das Männchen ist jetzt ganz nah. Ko-ka kann es hören. Ihre Lust steigert sich. Endlich taucht er vor ihr auf. Sie senkt den Blick, er darf keinen Verdacht schöpfen. Er schnuppert an ihr. Sie spürt ihn. Sein Fell berührt ihres. Das Männchen schnauft. Sie hebt ihr Hinterteil, ein klein wenig nur. Das Tier springt auf ihren Rücken und dringt in sie ein, stößt zu.
Es geht sehr schnell.
Ruckartig wirft Ko-ka sich herum. Ein Schubser, und das Männchen verliert das Gleichgewicht. Sie verbeißt sich in seinem Hals, wirft ihn mit aller Kraft auf die scharfe Kante der Scherbe. Sie flüstert lautlos den Zauberspruch der Übertragung des Lebens.
Blut spritzt, als das Männchen ein letztes Mal quiekt.
Ko-ka spürt, wie die Magie sie durchdringt. Neues Leben gedeiht in ihr. Die Zutaten wachsen heran.
Sie sitzt zufrieden auf dem erschlafften Männchen und beginnt ihre wohlverdiente Mahlzeit.
Als sie eine zauberhafte Melodie vernimmt, erstarrt sie.
Im weißen Gewand tritt Aris auf den Balkon des Turms. Draußen herrschen Dunkelheit und Gestank der Metropole am Dopunor-Sumpf. Er schließt die Augen, und Funken sprühen vor seinem zweiten Gesicht. Er sieht die Magie der Stadt fließen, Knoten bilden und explodieren.
Dann verzieht er das Gesicht. Er fixiert einen der Knoten. Er ist falsch. Er bereitet ihm Übelkeit. Die Gesetze der Magie des Lebens werden gebrochen. Er wird das nicht dulden. Er ist der Herr der Stadt am Sumpf, der Richter über die unzähligen Magier, Hexer und jene, die es sein wollen.
Aris breitet seine Flügel aus, lässt die dünnen Knochen krachen. Steigt auf die Brüstung, hebt die Arme. Und stürzt sich in die Nacht.
Das betäubte Mädchen liegt schwer über der Schulter des Sängers. Er bahnt sich seinen Weg am glitschigen Ufer des Flusses entlang. Hier gibt es keine Lichter, nur an der nächsten Brücke glimmen ein paar Lampen. Die Augen des Sängers huschen hin und her.
Ab und zu hört er ein Rascheln. Er grinst. Die Ratten sind überall. Ihre tierischen Instinkte lassen sie die Flucht ergreifen. Aber er sucht eine intelligente Ratte, die für seine Magie empfänglich ist. Leise beginnt er zu singen.
Ich bin ein fahrender Sänger,
am grauen Kleid werd ich erkannt,
und spiel für euch zum Tanz,
kommt fröhlich her zu mir.
Das magische Lied wabert über den Matsch, vermischt sich mit dem braunen Wasser des Kmies. Magie-Reste verstärken die Wirkung wie Schmutz Schmutz anzieht.
Dann entdeckt der Sänger die Ratte.
Ein schneller Griff genügt, und sie zappelt hilflos in seiner Tasche. Dass sie ihre nutzlosen Befreiungsversuche kurz darauf aufgibt, nimmt der Sänger als Beweis ihrer Intelligenz. Sein Lachen tönt über den Fluss, als er mit dem Mädchen und der Ratte seinen Weg fortsetzt.
Aris gleitet durch die Mauer. Er steht hinter dem stinkenden Mann, der gerade dabei ist, einem gefesselten Mädchen eine Ratte in den Mund zu schieben. Langsam hebt er die Arme, um die Kräfte heraufzubeschwören, die diesen Mann für sein Tun bestrafen werden.
Endlich bemerkt der Sänger den Herrn der Stadt. Fährt herum. Hebt abwehrend die Hände vors Gesicht. Lässt die Ratte fallen.
Magie der Reinheit strömt aus Aris Fingerkuppen und vertreibt alles Nichtmenschliche. Funken fliegen, es riecht angebrannt. Licht flackert. Leben flackert. Die Reinheit durchdringt alles.
Röchelnd liegt der Sänger auf dem Rücken. Seine Augen glänzen, sein Körper zuckt. Dann wird er eins mit dem Nichts.
Aris kniet sich hin und bindet das Mädchen los. Nimmt ihm die Augenbinde ab. Es kann sein Lächeln nicht erwidern.
»Geh nach Hause«, sagt Aris, berührt mit dem Finger die Nase des Mädchens. Es dreht sich um, rennt, ist schon verschwunden.
Eine weiche Hand streicht durch Aris Schopf. Berührt seinen Nacken. Er spürt einen Hauch von Wärme an seinem Ohr. Langsam dreht er sich um.
Er weiß nicht, woher die Frau kommt. Aber er fragt auch nicht. Ihre Liebesmagie erfüllt sein ganzes Ich.
Seine Lippen finden ihre. Langsam wandern ihre Hände über seinen Rücken, seine Zauberflügel, liebkosen ihn. Sein Kopf sinkt an ihre Schulter.
Ko-ka hat ihr Ziel erreicht. Sie weint Tränen der Freude, als er sie festhält.
Ihr neues Leben beginnt jetzt.
Eine vorwitzige Ratte schnuppert an der Leiche des Sängers. Schnell findet sie die Augen und beginnt, sich an ihnen zu laben.
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25.5.-14.8.2005