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Rauch
Stechender Rauch liegt wieder auf der Straße. Es ist nachts um fünf. K. auf. Er muss dann aufstehen um pünktlich zur Fabrik zu kommen. Wie jeden Morgen geht er durch die Straßen von L., sieht dort verbrannte Läden, kommt vorbei an verquälten Gesichtern, die einen mit ihren toten Augen durchstechen. Manchmal sieht er alte Kollegen, die jetzt als Krüppel vor sich hin vegetieren.
Er geht vorbei an Soldaten und Offizieren. Von weiten sieht man schon die Fabrik, die wie ein schwarzes rauchendes Ungetüm aus der Ferne von ihrer Anwesenheit berichtet. Er will nicht. Will nicht Schuld sein, an dem, was passieren wird und passiert ist. Er will es wirklich nicht, doch er muss. Er hat Kinder und eine Frau. Die Frau ist krank. Sie hat auch in der Fabrik gearbeitet, bis es passierte. Es gab einen Knall und Rauch stieg auf. Die Explosion riss ihr die Hand weg. Seitdem ist Sie ein Krüppel. Seit K.`s Frau zu Hause ist, ist sie krank. Zumindest glaubt man das, aber interessieren tut das niemand, weder die alten Kolleginnen, noch die alten Freunde. Ein Arzt? Arzt? Nein! Von was soll man den bezahlen? Er muss weiter, schon ihretwegen.
Die Fabrik ist mit Stacheldraht umzäunt. Niemand Fremdes soll Einblick bekommen. Soldaten laufen am Stacheldraht auf und ab, mit Hunden die alles scheinbar Unsichtbare entdecken. Sie durchschreiten den stechenden Rauch, der das ganze Fabrikgelände umgibt, wie auch die ganze Stadt. In der Fabrik sieht er keinen traurigen Menschen. Sie lachen, spaßen und begrüßen sich. Sie arbeiten alle für die große Sache. Sie alle treiben etwas voran, aber was? Fragt man nach, so kommt die Antwort: „ Die große Sache!“. Wer genauer nachfragt verstummt und verschwindet im Rauch. Aber wieso auch genau nachfragen, es gibt die großen Köpfe, die ihnen vordenken. So ist es doch fein! Sie leben ihr Leben und nichts mehr. Und wer nachfragt verschwindet im Rauch.
16 Stunden später kehrt K. aus L. zurück. Geht zurück durch die Straßen. Weg sind die Krüppel, entsorgt für die lachenden Menschen. Lachen und dabei sein an der großen Sache, das wollen alle „Normalen“. Da stören Krüppel, die einen ansehen mit ihren toten Augen und fragen. Ab in den Rauch! Er geht rasch weiter, um den Blicken der Anderen zu entkommen. Er kehrt zurück nach Hause, zu Frau und Kindern. Er freut sich, da zu sein. Weg vom stechenden Rauch, den er so sehr hasst. Weg von den Leuten, die sich im Blut baden. Aus dem Empfänger brüllt eine Stimme von der großen Sache. Er schaltet den Empfänger ab.
Stechender Rauch liegt wieder auf der Straße. Jenseits der Fabrik erwacht P. aus dem Schlaf. Noch etwas verwirrt sucht er nach seiner Brille, aber auch durch diese sieht er vieles nicht richtig. Die Nacht war lang, der Rum etwas zu viel. Aber wen stört das? Er lebt nicht im Rauch, er verursacht ihn nur. Er umgibt sich mit den Reichen und Mächtigen. Die Großen der großen Sache. Ihm ist der Rauch egal, denn er sieht ihn nicht. Er ist weit weg. Planungen für die Zeit nach der großen Sache erfüllen seinen Tag. Was ist, wenn er scheitert? Nein, solche Fragen werden mit einem Korn runtergespült und ausgeschieden. Er wird durchkommen, egal was passiert.
Er geht auf den Balkon und sieht von der Ferne das Ungetüm, rauchend und erhaben. Genießend lehnt er sich gegen das Geländer. Stellt sich vor, wie es war, damals, als es die große Sache noch nicht gab und den Rauch. Aber die Gedanken verfliegen schnell. Ein Knall zerstört die Ruhe. Ihm ist es egal. Sorge? So was kennt er nicht. Er hat viel durchgemacht. Früh verlor er alles. Die Skrupel, das Mitgefühl und das Herz. Alles verrauchte und nichts blieb übrig. Mit Tunnelblick geht er seinem Ziel entgegen. Er will verantwortlich sein für die Dinge die passiert sind und noch passieren werden. Er will unbedingt, aus tiefsten Herzen.
Er schwingt sich in sein Auto und lässt sich wohl gelaunt nach L. fahren. Schon beim Anblick dieser Stadt überkommt ihn ein Gefühl der Stärke und der Macht. Er ist stolz, sehr stolz. Die lachenden Menschen hingegen lassen ihn kalt. In der Stadt fragt ihn eine Frau:“ Was ist mit der großen Sache?“ Eine Zweite schaltet sich mit ein: „ Ja, was ist denn nun?“. Er sagt das, was er jedes Mal sagt: „ Die Zeit ist bald reif für die große Sache!“. Im nächsten Augenblick steigt er wieder in den Wagen und fährt zurück. Dieses Pack ist ihm dann doch zu wider. Bei der Rückfahrt fährt er auch an seiner Fabrik vorbei. Das ein Teil fehlt, fällt ihm nur beiläufig auf.
Am Nachmittag hat er noch einen Termin, den er wahrnehmen sollte. Arbeiter 105 war bei der Explosion ums Leben gekommen und er sollte eine Rede halten. In Vorbereitung auf dieses Ereignis steht er wohl vor der schwierigsten Entscheidung des Tages. Sollte es die Rede vom letzten Mal sein, oder sollte es lieber die Rede von vor 9 Wochen sein. Die Entscheidung fiel auf die Letztere, es sollte ja nicht zu eintönig für ihn sein. Auf der Trauerfeier spricht er dann von einem „großen Verlust für die große Sache“ und drückte „persönliche Bestürzung über den Verlust dieses Menschen aus“. Gekannt hatte er ihn nie. Danach geht es nach Hause. Dort warten die Mächtigen und Reichen. Er schaltet den Empfänger ein.
Stechender Rauch liegt wieder auf der Straße. Jenseits der Fabrik erwacht P. aus dem Schlaf. Er hatte gut geschlafen, alle anderen um ihn auch. Die werden auch weiterhin schlafen, bis in die Unendlichkeit. Vorsichtig erhebt er sich und betrachtet seine Umgebung. Es hatte heute Nacht keine Luftangriffe gegeben Überall steigt Rauch auf und Maschinengewehrsalven sind überall zu hören. Der große Plan, welcher durch P. und seine Freunde entworfen wurde, ist zurückgekommen. Es sollte nicht hier rauchen, sondern im Westen, im Osten, im Süden und im Norden. Aber nicht hier. Er geht in die Stadt. Dort sieht er die einst lachenden Damen. Sie gaffen ihn wie Schafe an und wollen fragen, aber er winkt ab. Sie wollten es doch alle so. Und die es nicht wollten verschwanden im Rauch. Ihm ist die ganze Sache egal, so egal. Er wird gehen. Weit weg von hier. So will er nicht leben, nicht so. Also geht er.
Jahre danach lebt er immer noch. Dabei denkt er oft an die lachenden Menschen, die ihm einst zu gewunken haben und nach dem großen Plan fragten. Sie haben ihren großen Plan. Er hat zwar nicht geklappt, aber was soll’s! Er hat mehr als zuvor und das ist gut so. Seine alte Fabrik ist zwar im Rauch versunken, aber dafür hat er 7 neue. So lässt`s sich leben, denkt er sich und lacht.
Stechender Rauch liegt wieder auf der Straße. Um fünf steht K. auf. Er muss in den stechenden Rauch. Er rennt durch die Straßen. Rennt vorbei an verbrannten Läden, an verquälten Gesichtern, die mit ihrem toten Augen einen förmlich durchstechen. Früher störten diese Fracks die „Normalen“, aber wer ist heute „NORMAL“. Heute ist keiner mehr „NORMAL“. Er rennt vorbei an Soldaten und Offizieren, die leblos am Wegrand liegen. Die alte Fabrik ist mit Stacheldraht umzäunt, wie einst als noch die Schornsteine rauchten. Er sah sich um. Kaum jemand oder etwas wirkt noch lebendig. Und überall der Rauch, das macht ihn fuchsig. Wenn er nur sehen könnte, gegen was er rennt. K. hat nur streng geschminkte Ahnungen vom Verfall. Er hat alles verloren, seine Frau, seine Kinder, sein Haus und seine Unschuld. Nur das Schlagen in seiner Brust hat er noch. Doch es verlosch in den nächsten Stunden und er folgte seinen Verwandten in den Rauch...