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Rauchen kann tödlich sein
Rauchen kann tödlich sein
Edward Becker, der jeden Morgen um sieben Uhr dreißig mit dem Bus Nummer 12 zur Schule fuhr, kam mit bepacktem, schwerem Rucksack aus der Haustür heraus. Edward Becker rückte die Riemen etwas zurecht und ging mit großen, Schatten werfenden Schritten auf dem Gehweg die Straße hinunter. Im Ohr steckte ein Minikopfhörer von Phillips, aus dem Elvis Presleys Stimme tönte.
Er bog um die Ecke. Noch sechzig, vielleicht siebzig Schritte, dann wäre er an der Haltestelle, deren Schild einen riesigen Schatten auf den Asphalt warf. Die Sonne schien, der Wind wehte, die Vögel zwitscherten und Edward Becker ging die Straße entlang.
Raddock City ist, wie schon gesagt, eine versmogte Stadt.
Edward Becker hat noch nie in seinem Leben eine Zigarette auch nur angefasst. Er ist dreizehn. Rauchen kann tödlich sein, Rauchen macht abhängig, fangen Sie gar nicht erst an, Rauchen in der Schwangerschaft schadet ihrem Kind, Auch Passivraucher werden geschädigt, Raucher sterben früher. All diese Warnungen und Prophezeiungen kannte Edward Becker ebenso gut, wie alle diese Raucher auf der Welt, von der er in seinem bisherigen Leben nur Raddock City gesehen hatte. Aber dieser Smog!
Edward Becker kam zur Bushaltestelle und sah auf die Anzeigentafel: 7 Minuten bis zur Ankunft seines Busses.
Sieben Minuten später kam der Bus Nummer 12 quietschend vor ihm zum Stillstand. Die Klapptüren öffneten sich und er stieg, zwei Stufen mit einem Schritt nehmend, ein. Es stank fürchterlich in diesem Fahrzeug und…
Moment mal. Wieso war er leer? Normalerweise drängelten sich Leute im engen Innenraum des Busses, um auch nur einen Platz zu ergattern, aber an diesem Morgen befand sich keine Menschenseele dort. Jeder Sitz, jede Stange, jeder Quadratmeter Platz war leer. Aber der Gestank war trotzdem fürchterlich, als hätte der Bus kurz zuvor eine Horde Abschlusspartyfeiernder transportiert.
Edward kümmerte sich nicht weiter darum. Ihm konnte es recht sein, schließlich fuhr er am morgen nicht gerne im Stehen zur Schule. Er ging schnellen Schrittes nach rechts und setzte sich links von ihm auf einen Zweierplatz ans Fenster und lehnte sich mit dem Ellenbogen dagegen.
Elvis war einem Hip - Hop singenden Typen in seinem Kopfhörer gewichen, der laut in sein Ohr schrie. Er wühlte den MP3 – Player aus seiner rechten Jackentasche und wechselte zum nächsten Song. Der Bus setzte sich in Bewegung. Zuerst ein kleiner Ruck, dann kam lautes Motorenbrummen.
Was lag da neben ihm? Eine rote Schachtel. Er sah es sich genauer an. Zigaretten. Aber er konnte keine Marke sehen. Nur das weiße Hinweiskästchen auf dem unteren Teil der Schachtel. Die Klappe war einen halben Zentimeter geöffnet und er konnte vier Zigaretten erkennen.
Wer ist schon so blöd und lässt seine teuren Ziggis irgendwo liegen? fragte er sich. Mit gerunzelter Stirn sah er sich das Kästchen mit der schwarzen Schrift darin an.
Auch der, der in
Versuchung ge-
rät ist schuldig.
Auch nur der
Gedanke daran
ist strafbar.
Don’t touch.
„Was ist denn das für eine Scheiße“, sagte er leise, es hätte ihn schließlich jemand hören könne, wie er Selbstgespräche führte. Der Bus war nicht an der nächsten Haltestelle angehalten. Er nahm die Schachtel in die Hand, drehte sie um, suchte nach einem weiteren Hinweiskästchen auf der Rückseite, sah keins und legte die Schachtel wieder auf den Sitz neben ihm. „Soll das ein Scherz sein, oder was?“
Die nächste Haltestelle war „Raddock City Middleschool“. Quietschend kam das Fahrzeug in dem er sich befand zum Stillstand und öffnete die Türen. Er stand auf, warf einen letzten Blick auf die Zigarettenschachtel, ließ sie liegen und stieg aus. Hinter ihm schlossen sich die Türen wieder und Nummer 12 fuhr davon.
Wieder griff er in seine Mp3 – Playertasche um umzuschalten, fand dort aber nicht nur das kleine schwarze Ding. Dort befand sich noch etwas anderes, etwas Rechteckiges. Er nahm es heraus.
Es war die rote Schachtel mit derselben Aufschrift. Staunend, mit zweifingerbreit geöffnetem Mund sah er dem, um die Ecke biegenden, Bus hinterher.
Plötzlich hatte er das Verlangen sich einen Giftstängel zu nehmen, ihn sich in den Mund zu stecken und anzuzünden. Erstens: Einmal Nichtraucher, immer Nichtraucher. Zweitens: Er hatte kein Feuer.
Er warf die Schachtel in den gelben Mülleimer neben ihm.
Zwei Schritte später bemerkte er wieder die Ausbeulung seiner Tasche und ertastete wieder dieses rechteckige Teufelsding.
Na gut, na gut, dachte er. Gut, gut, gut. Er öffnete die Klappe, und sah nicht mehr nur vier Zigaretten, sondern noch ein Feuerzeug. Es war ebenfalls rot mit der schwarzen Aufschrift: Smokin’ to hell. Danach nahm er sich eine Zigarette und steckte sich diese in den Mund. Er drehte am Feuerstein des Feuerzeugs und eine kleine Flamme entstand, an der er sich den Tabak anzündete und kräftig zog. Er musste nicht husten oder keuchen, wie er es erwartet hatte. Im Gegenteil. Es fühlte sich herrlich, wunderbar an. Wie ein Segen.
Das Feuerzeug verstaute er an seinem ursprünglichen Platz und die Schachtel wieder in die Tasche.
Er rauchte die ganze Zigarette bis zur Schrift, die er erst jetzt erkannte: Hell.
Schnell schmiss er sie auf den Asphalt und trat mit dem Absatz seines Turnschuhs drauf. Mit kreisenden Bewegungen trat er sie aus und ging ein paar Schritte auf die Raddock City Middleschool zu. Er fühlte sich erleichtert, gut, herrlich-
Er fühlte sich mies, übel, schlecht und zum kotzen.
Zum kotzen.
Und es kam seine Speiseröhre hoch gekrochen wie eine Ratte durch den Abfluss einer Toilette. Der eigenartige Saft landete zuerst in seiner Mundhöhle, wo er einen Augenblick ins stocken geriet und sprühte dann über den Asphalt direkt vor ihm. Edward hatte nicht einmal Zeit seine Hände vor den Mund zu halten. Wie aus einem Feuerwehr schlauch sprudelte das gelbliche Wasser aus ihm hervor und landete spritzend auf dem Boden vor ihm. Kleine Tröpfchen befleckten seine weißen Reebok Turnschuhe. Er konnte nicht einmal Luft holen, weil der Wasserfall keine Pause einlegte und ihm keine gönnte. Inzwischen hatte sich vor ihm eine riesengroße Pfütze gebildet. Seine Wangen fielen ein, seine Augen verkrochen sich in ihren Höhlen, seine Arme wurden dünner, wie der Stiel einer ausgetrockneten Rose. Mit aufgeblähten Backen, als würde er pusten erbrach er sich und erbrach sich und erbrach sich. Doch was er da erbrach wusste er nicht. Doch eines wusste er: Es war viel zu viel. So viel konnte er niemals in sich haben. Mindestens zehn Liter war er schon losgeworden. Die gelbe Flüssigkeit verfärbte sich rot. Die rote Flüssigkeit wurde rosa und diese wiederum weiß. Dann brach er zusammen und sah aus wie ein mit Haut umhülltes Skelett.
Niemand war in der Nähe gewesen, als Edward Becker zuerst Nikotin in gruseligem Ausmaß, dann Blut, dann beides vermischt und schließlich Unmengen Spermien erbrochen hatte und dann tot zusammengesackt war.