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Rauchen
Warum rauchen Menschen? Es stinkt, es schmeckt widerlich, es kostet Geld und es macht krank. Reicht Coolness als Motor? Für meinen Vater bestimmt nicht. Vielleicht war es für meinen Vater eher die Wandfarbe oder die Tatsache, dass er Mama durch die Nebelschwaden nicht mehr sehen musste. Vielleicht hat er es bereut sich damals für Eierschale entschieden zu haben, statt für weiß, als Mama nach dieser Vorauswahl meinen Vater am Einrichtungsprozess beteiligen wollte. Mama hat es letztendlich übrigens doch weiß gestrichen, weil sie wusste, dass er es ohnehin nicht merkt. Vielleicht hat mein Vater diesen Betrug doch festgestellt und sich für einen umständlichen Anstrich über die Lunge entschieden und Mama hat einfach nicht mit dem langen Atem meines Vaters gerechnet, den er schon ewig nicht mehr hat. Was die ursprüngliche Farbe dieser Wand war, kann aber ohnehin niemand mehr sagen weil, wenn der väterliche Nebel die Wand nicht verschwinden lässt, er sie mit seinem satt nikotingelben Schleier schmückt. Diese Momente der Klarheit hat mein Vater nur zugelassen, wenn er außer Haus war und es Mama damit gestattet war, das Haus zu lüften. So konnte ich immer schon von Weitem sehen, wenn zu Hause im wahrsten Sinne des Wortes die Luft rein war. Habemus papam. Ich war auf ärztlichen Rat irgendwann nur noch selten zu Hause, wenn mein Vater da war. Mein Arzt fand das Rasseln meiner Atmung bedenklich. Über die blauen Flecke hat er hinweg gesehen. Kinder sind wild, Kinder spielen, Kinder verletzen sich. Das sei ganz normal, höre ich ihn noch immer sagen, mehr zu sich selbst als zu mir. Wissen Raucher eigentlich nicht, dass Rauchen tödlich ist? Die Zeit hat es meinem Vater gezeigt, also, sie hat es versucht. Als ich vierzehn war, hat er aufgehört zu rauchen. Das war die Auflage unter der er das Sauerstoff-Gerät bekommen hat. Aber das hat nicht lang gehalten. Vielleicht steckt hinter allem Rauchen die Gewissheit, dass es tödlich ist; mehr Todeswunsch als Unwissenheit. Nach kürzester Zeit war er wieder bei alten Bestleistungen angelangt und war, angetrieben vom Sauerstoff, drauf und dran neue Nebel-Rekorde zu brechen. Rituale ungeahnter Sorgfalt vor den Routineuntersuchungen durchgeführt. Dass eine solche anstand, konnte ich daran erkennen, dass die Spedition wieder Mengen an Weichspüler und Mundspülung lieferte, die den Jahresverbrauch von Luxemburg decken konnten. Mama wollte immer nur sein Bestes und hat ihn in allem unterstützt. Hätte er nur noch daran ziehen können, hätte sie ihm die Zigaretten angezündet und gehalten. Das ist wahre Liebe. Aber so weit kam es nicht. Seit ich zehn war, war ich darauf vorbereitet, dass mich statt einer warmen Mahlzeit, Naja, ein Trauerfall zu Hause erwartet. Aber als es dann so weit war, war ich alles andere als vorbereitet. Wir hatten nach meinem Auszug nur selten gesprochen. Würde ich jetzt um diesen Mann trauern? Zuerst hatte ich wichtigere Dinge zu tun. Ich tröstete meine Mutter und kümmerte mich um all die Personen, die sich für wichtig genug hielten, meine Zeit mit ihren Beileidsbekundungen zu verschwenden.
Ich habe nicht herausfinden können, wer die vorderen zwei Reihen für die engsten Vertrauten des Verstorbenen freigehalten hatte. Wollte diese Person mir Platz schenken oder kannte sie einfach meinen Vater nicht? So saßen wir dort, zu viert auf sechzehn Plätzen, meine Mutter, der Kneipenbesitzer, der Spediteur und ich. Weit abgeschlagen die Verwandtschaft, vom Pflichtgefühl getrieben. Zwei Meter und fünfhundertzweiunddreißig langweilige Worte später bin ich wieder allein. Aber ich bin anders allein, als ich es früher war. Wie stopft man dieses Loch, frage ich mich, und füllte meine Lunge mit warmem Qualm.