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Regeln
Weil Devin dachte, dass jeder Mensch ein Talent besitze und seines sicherlich im Schreiben liege, denn wo sollte es auch sonst sein, glaubte er an sich und sein Können und strich deswegen den ersten Satz seiner Kurzgeschichte nur sehr zögerlich, aber doch mit Nachdruck durch, denn eine Kurzgeschichte musste einen plötzlichen Einstieg haben.
Eigentlich fand er ihn nicht schlecht, vielleicht sogar gut, doch wahrscheinlich war er doch etwas zu langsam oder langweilig.
Den Rücken über den Holztisch am Fenster gebeugt, vor sich auf das weiße Papier starrend, saß er da und dachte nach. Dann, mit der Energie einer neuen Idee, kritzelte er etwas hin, nur um danach wieder minutenlang zu überlegen. So ging es eine ganze Weile. Immer wieder hielt er inne, setzte neu an, dachte nach, schrieb, strich durch, formulierte, pausierte, schrieb. Irgendwann legte er zufrieden seinen Füller nieder und begutachtete seine Einleitung.
Er blickte auf das bedruckte Papier, das er immer neben sich liegen hatte, wenn er schrieb. Was darauf stand, hatte er selbst zusammengetragen. Das meiste aus Ratgebern, Websites oder Lehrbüchern. Manches stammte aus nützlichen Kommentaren zu früheren Geschichten von ihm, anderes aus Unterhaltungen mit anderen Schreibenden.
Sie alle gemeinsam beschrieben, wie man eine gute Kurzgeschichte schreibt. Es waren Regeln, Tipps, Anmerkungen und Beispiele, die keinen Aspekt ausließen, beschrieben, wie man eine Figur einführt, charakterisiert und entwickelt, erklärten Dramaturgie und Spannungsbogen und diskutierten alle möglichen Handlungselemente.
Und anhand dieser Punkte, überprüfte er jetzt seinen Text.
Ja, er hatte Spannung geweckt, seine Figur eingeführt, die Grundemotion etabliert, Fragen aufgeworfen und Handlungsort und -zeit geklärt.
Also schrieb er weiter. Immer wieder hörte er auf, schaute sich einige Stichpunkte auf der Liste neben sich an, und machte dann weiter.
Er schrieb mit Absicht per Hand, denn genug Studien hatten gezeigt, dass dies die Kreativität beim Schreiben fördere.
Als Devin meinte fertig zu sein, legte er seinen Text weg, blickte nach draußen und probierte sich von seiner Geschichte zu lösen. Er atmete ein paar Male tief durch, versuchte sich zu entspannen und Distanz zu gewinnen.
Mit neuer Objektivität las er seine soeben fabrizierte Kurzgeschichte erneut durch. Ja, sie war gut. Sie las sich flüssig, sorgte ab und zu für ein Schmunzeln und fiel nicht selten mit besonders kreativen Phrasen auf, doch vor allem, hielt sie alle Regeln ein. Mit einem Bleistift setzte Devin Häkchen hinter die einzelnen Stichpunkte, die er meinte erfüllt zu haben.
Vielleicht war sie es wirklich. Vielleicht war dies die Kurzgeschichte, die ihn endlich zu seinem wohlverdienten Ruhm führen würde. In ihr würde man sein Genie erkennen und Schriftsteller weltweit würden über ihn reden und bewundern. Seine Leidenschaft würde er zum Beruf machen können und sein bisheriges fruchtloses, ja gewöhnliches Leben hinter sich lassen. Man würde über seinen Tod hinaus über ihn reden, Straßen nach ihm benennen, denn er würde etwas hinterlassen, das noch niemand je so gesehen hatte.
Also zeigte Devin in den nächsten Tagen seine Geschichte herum. Freunde, Kollegen und Familie fanden sie alle gut, lobten sie, doch waren sie nicht völlig betäubt vor Bewunderung. Da sie aber keine Fachexperten waren und er bezweifelte, ob sie das Genie Kafkas, Brechts oder Goethes erkannt hätten, maß Devin ihnen nicht viel Bedeutung bei und veröffentlichte seine Kurzgeschichte.
Stolz, aber gespannt, hatte er sie abgeschickt und wartete jetzt unruhig. Den Laptop vor sich, die inzwischen kalt gewordene Tasse Kaffee daneben, begann er erste Kritiken, Kommentare und Rezensionen zu lesen. Sie alle waren wohlwollend, fanden nicht wirklich etwas auszusetzen und die Geschichte im Allgemeinen gut.
Da breitete sich ein seltsames Gefühl in ihm aus, das er nicht ganz deuten konnte. Vielleicht war es Enttäuschung, vielleicht Ratlosigkeit oder einfach Ernüchterung. Obwohl er alle Regeln eingehalten, alle Tipps befolgt, alle Ratschläge beachtet hatte, war sein Text nicht das, was er erhofft hatte. Man las ihn zwar, doch sprach nicht darüber. Er war ein niemand, der in der Masse unterging, verzweifelt nach Leben ringend.
Jahrelang hatte er versucht eine fehlerfreie Kurzgeschichte zustande zu bringen, hatte jede Kritik dankbar angenommen, aufgesogen und Fehler korrigiert und aus ihnen gelernt, aber jetzt, da es ihm gelungen war, war seine Geschichte nicht viel besser als die vorherigen.
Was hatte er also falsch gemacht? War es die Grundidee? Was war es?
Mit diesen Fragen strich Devin müde, aber schlaflos, gedankenverloren die nächsten Wochen durch sein Leben. Er aß nichts, sagte nichts, tat nichts, war abwesend. Eines Abends saß er planlos auf seinem Sessel, starrte mit leeren Augen nach draußen. Stunden verstrichen, es wurde dunkel und er regte sich nicht.
Bis plötzlich ein Gedanke zwischen seinen Synapsen hervorkroch. Wie im Rausch schritt er an seinen Schreibtisch und begann sofort zu schreiben. Es war der erstbeste Stift, das erstbeste Papier und die Worte sprudelten nur so aus ihm hinaus. Sein Kopf dachte und seine Hand schrieb. Sätze kamen von selbst, wurden nicht geprüft und abgewogen, nur auf Papier gebracht. Und Devin wusste, dass diese Geschichte anders würde als alle anderen zuvor und dass sie gut sein würde. Wirklich gut. Als er fertig war und sie durchgelesen hatte, freute er sich, sprang auf, tanzte im Zimmer, denn er erkannte sich selbst in der Geschichte. Sah, dass es wahrhaftig seine war.
Ekstatisch und voller Glück zeigte er die Geschichte niemandem, sondern tippte sie direkt ab und veröffentlichte sie. Den ganzen Abend saß Devin vor seinem Computer, las die Begeisterung in den Kommentaren, die Bewunderung in den Kritiken und das Staunen in den Rezensionen.
Fröhlich schaute er sich sein Papier mit der Liste an Regeln an. Wo er früher Häkchen gesetzt hatte, fanden sich jetzt nur vereinzelt welche. Manche Stichpunkte hatten überhaupt kein Zeichen hinter sich und andere hatten sogar ein kleines Kreuz. Hatte er früher seiner Liste wie der Gläubige seinen Gott angeschaut, sah er sie jetzt wie Fesseln, von denen er sich freigemacht hatte. Fesseln, die ihn nicht nur eingeschränkt, stumm gequält und festgehalten hatten, sondern gestohlen hatten.
Gut waren sie gewesen, denn an ihnen hatte er gelernt und irgendwann auch verstanden.
Doch jetzt verstand er, dass Regeln nicht immer blind befolgt und eingehalten werden sollten, sondern hinterfragt, auch ignoriert, gebrochen oder neu definiert werden sollten. Ist jeder Einstieg plötzlich, jedes Ende offen und jedes Problem alltäglich, wer war da noch neugierig auf neue Geschichten? Etablierte sich nicht ein Stil, an den sich alle hielten, wie es eine Gesellschaft an Werte und Normen tut, der langfristig zu Monotonie, ja zum Tod des Schreibens, und auch Lesens, führte? War das etwa das Leben?
Manchmal, dachte Devin, brauchte ein Satz keine Stilmittel, musste nicht schön klingen oder interessant wirken, sondern nur ein Gefühl transportieren, eine Idee pflanzen, einen Gedanken leben lassen.