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Regensonntag
Wieso regnet es an einem Sonntag? An einem Sonntag muss doch die Sonne scheinen. Das sagt doch schon der Name, dachte Tommy.
So gerne hätte er mit seinen Freunden weiter Fußball gespielt. Doch das Unwetter machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er war, ebenso wie die anderen Jungs nach Hause gelaufen, und stand jetzt alleine in der offenen Hoftür des Mietshauses. Gebannt schaute er mit seinen braunen Augen zu der Pfütze links von ihm, in die laut plätschernd das Wasser aus einer löchrigen Regenrinne stürzte.
Die wird von Jahr zu Jahr größer. Wenn das so weiter geht, dann wird dort irgendwann ein kleiner Teich mit Schilf und Enten sein.
Darauf sah er zu dem hohen Kastanienbaum in der Mitte des Hofes. Dort wirbelte gerade ein scharfer Windstoß glänzende Regentropfen um die dunkelgrünen Blätter, die Tommy an einen Schwarm silberner Babyfische erinnerte, die aufgeschreckt eine Wasserpflanze umkreisen.
Er blickte zum Himmel und bemerkte, dass sich die schweren Regenwolken mittlerweile zu einer einheitlichen, fast schwarzer Decke zusammengeschoben hatten, die nur noch sehr spärlich das Licht der Sonne passieren lies. Er streckte seine Hand in den dichter werdenden Regen, die sofort platschnass wurde. Ein Blitz blendete ihn, und krachender Donner lies ihn erschrocken zurückweichen.
Gott hat mich fotografiert, dachte Tommy, riss die Arme nach oben und rief: „Arielle, die Meerjungfrau.“
Seine Mutter hatte ihn gehört und öffnete das Küchenfenster im 1. Stock.
„Das Essen ist gleich fertig. Komm doch nach oben“, sagte sie und hielt sich schützend eine Zeitung über den Kopf.
„Nein Mama, ich muss gleich gegen einen Hai kämpfen. Wenn es noch dichter regnet, dann kommt bestimmt ein Hai. Oder?“
„Es kommt ganz sicher kein Hai“, antwortete seine Mutter.
„Ich bin Arielle Mama. Ich muss gleich gegen einen Hai kämpfen.“
„Arielle ist doch ein Mädchen.“
„Na und!“
„Komm schon hoch. Vielleicht läuft etwas im Fernsehen.“
„Ich bin Arielle“, rief er.
Sie schloss kopfschüttelnd das Fenster.
Ob was mit dem Jungen nicht stimmt, dachte sie und wendete die Schnitzel. Sie dachte an Bree aus der Wisteria Lane, die ihren verquerten Jungen in ein Bootcamp gesteckt hatte.
Gibt es in Deutschland eigentlich Bootcamps? Aber gestern war er ja Harry Potter und nicht Hermine. Und letzte Woche, als er mit den Fingerspitzen die Wand hochklettern wollte, war er Spiderman. Vielleicht mache ich mir zuviel Sorgen.
Gerade will Tommy nach oben gehen, da bemerkte er etwas aus dem Augenwinkel heraus. Etwas Kleines, einen Punkt, der sich über den Boden bewegte. Er schaute genauer hin und erkannte einen Weberknecht, der ahnungslos mit seinen langen Beinchen direkt auf ihn zustakste. Er hob einen Fuß und deutete mit ihm an den Weberknecht zu zertreten.
„Godzilla“, knurrte er böse. „Uaaahhhh! Godzilla.“
Das Spinnentier schien dies nicht zu interessieren, und krabbelte weiter auf ihn zu. Als es seinen Schuh erreicht hatte bückte er sich, und packte mit Daumen und Zeigefinger eines seiner Beinchen.
„Uaaaahhhhh! Godzilla.“
Der Weberknecht zappelte kurz und fiel zurück auf den Boden. Verwundert schaute Tommy ihm dabei zu, wie er auf den schmalen Spalt zwischen Kellertür und Boden zueilte. Dann betrachtete er das zitterndes Beinchen zwischen seinen Fingern, dass den Eindruck erweckte, als wolle es auf eigene Faust fliehen. Erneut packte er zu, aber mit dem gleichen Resultat.
Komisch. Irgendwann wird er zufällig lesen, dass Weberknechte bei Gefahr ein Beinchen abwerfen können. Ein Schutzmechanismus der als Autotomie bezeichnet wird.
Doch jetzt fing er ihn erst einmal wieder ein. Hielt ihn aber diesmal mit der ganzen Hand umschlossen. Als er sie vorsichtig öffnete, sah er ihn dort kauern. Er packte ein weiteres seiner sechs verbliebenen Beinchen, und riss es heraus.
Aber noch immer konnte der Weberknecht laufen. Schaffte es bis zum Rand von Tommys Hand, stürzt sich von dort aus auf den Boden, und als wäre nichts gewesen, krabbelte er auf die Kellertür zu.
Doch er erreichte sein Ziel nicht.
Tommy zog ihm abermals ein Beinchen heraus, dann noch eins und wieder eins, bis der Weberknecht nur noch zwei, und dann nur noch eins hatte.
Jetzt kann er nicht mehr laufen, dachte er und betrachtete eine Weile den Weberknecht, dem sein verbliebenes Beinchen vom Körper abstand. Dann riss er auch dieses heraus.
Er kniete sich auf den Boden, legte behutsam den Torso des Tieres vor sich hin, schob sein Gesicht ganz nah heran, und schaute in die schwarzen staubkorngroßen Augen.. Er wusste, dass der Weberknecht noch lebte. Er sah ihn zwar weder atmen, noch bewegten sich seine winzigen Äuglein. Aber er lebte.
Hhm, am besten ich baue ihm ein Papierschiffchen. Dann kann er auf der Pfütze im Hof eine Seereise antreten, und ein paar Abenteuer erleben.
„Mittagessen“, rief seine Mutter aus dem Fenster.
Endlich! Er lief die Treppe nach oben: „Spiderman! Spiderman! Wo bist du nur? Wir brauchen dich!“, sang er und lies den Weberknecht auf dem kühlen Steinboden zurück.