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Regentropfen
Das Geräusch der Regentropfen, die gegen die Fensterscheibe trommeln, ist laut und durchdringend. Wie Kanonenkugeln gegen eine Mauer, so knallen sie gegen das Glas und zerspringen zu kleinen Sturzbächen, die schnell nach unten aufs Fensterbrett und in die Vergessenheit fließen.
Arthur steht in dem kleinen Zimmerchen, in dem er wohnt und beobachtet die Regentropfen. Kaum, dass er dabei atmet, so gebannt starrt er diese Invasion des Himmels an. Und wartet. Aber das Warten ist längst Teil seines Lebens geworden. Manchmal vergisst Arthur, worauf er eigentlich wartet und dann redet er sich ein, er warte auf seine Tochter, deren Besuche bei ihrem alten Vater immer seltener werden und die auch keine besonderen Gefühle für ihn hegt.
Doch es ist nicht Arthurs Tochter, auf die er wartet und es ist auch nicht der freundliche Briefträger, dem es immer sehr Leid tut, dass er Arthur nie private Briefe mitbringt. Ebenso wenig ist es die nette, junge Nachbarin von unten, die für Arthur miteinkauft, wenn ihm sein Ischias zu sehr zu schaffen macht.
Arthur wartet auf etwas ganz anderes, auf etwas, das vielleicht nie eintreffen wird und nur wenigen Menschen in ihrem Leben vergönnt ist. Manche nennen es Glück, andere Zufriedenheit und oft wird es gar zum Sinn des Lebens erhoben.
All diese Worte bedeuten Arthur nichts. Das, worauf er wartet, lässt sich nicht mit Worten beschreiben, es ist einfach DA – oder auch nicht.
Arthur seufzt, zieht seine alten Gummistiefel an und greift zu seinem Regenmantel. Eigentlich hat er keine Lust auf einen Spaziergang, aber was macht das alles schon. Arthur hat zu nichts mehr Lust.
Draußen sind nicht viele Menschen unterwegs und die, die es doch sind, haben alle einen dringenden Grund dafür. Sie hetzen mit gesenkten Köpfen an Arthur vorbei, ohne ihn richtig wahrzunehmen. Autos schlängeln sich durch die Straßen und spritzen Arthur voll mit Schlamm und Wasser.
Und beständig ist das Geräusch der Regentropfen zu hören, die wie unzählige kalte, nasse Nadeln auf alles niederprasseln: Auf die Hausdächer, auf die Autos, auf die Menschen, auf die Straße, auf Arthur.
Arthur steht allein vor einer roten Ampel. Die Regentropfen setzen sich an seiner dicken Brille fest, nehmen ihm die Sicht. Und Arthur ist dankbar dafür. So muss er es nicht ertragen, diese graue und schreckliche Stadt noch einmal zu sehen, diese Stadt, die er schon seit so vielen Jahren anzuschauen gezwungen ist. Die Regentropfen haben Mitleid mit ihm.
Ein leises Lächeln schleicht sich in Arthurs Gesicht. Er ist am Ende seiner Suche angelangt. Ein Gefühl durchdringt seinen ganzen Körper, ein Gefühl, das andere vielleicht als „Glück“ oder „Zufriedenheit“ bezeichnet hätten, doch all diese Worte bedeuten Arthur nichts. Wichtig ist nur, dass dieses Gefühl DA ist.
Zitternd fängt Arthur an zu laufen, genießt die innere Wärme, die ihn durchdringt. Und bemerkt nicht mehr den Lastwagen, dessen Fahrer verzweifelt hupend und auf die Bremse tretend versucht, den unvermeidlichen Zusammenstoß noch irgendwie zu verhindern.
Doch dafür ist es längst zu spät. Arthurs rotes Blut spritzt gerade in dem Moment auf den grauen Asphalt, als die Fußgängerampel wieder grün wird. Sein letzter Gedanke gilt all den Menschen, die durchs Leben hetzen, ohne die Schönheit der Regentropfen zu erkennen.
Die Regentropfen fallen auf Arthurs Leiche wie die kühlen Blütenblätter einer wunderschönen, farblosen Blume. Wenn jemand sich die Zeit nähme, könnte er hören, wie sie leise flüsternd versuchen, den Menschen Trost zu spenden.
Doch die Menschen hetzen weiter durchs Leben, ohne die Schönheit der Regentropfen zu erkennen.