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RELICTAE - Zurückgelassen
Wer bin ich?
Keine Ahnung.
Bin ich tot?
Nein.
Ich fühle Schmerzen, also muss ich am Leben sein.
Wo bin ich?
Ich liege auf hartem, unbequemem Untergrund. Meine gebundenen Handgelenke sind aufgescheuert. Ich fühle das kratzige Brennen von grobem Hanfseil. Auch an meinen Fussknöcheln.
Meine Arme sind am Rücken zusammengebunden und ich fühle das dumpfe Pochen des Herzschlages in meinen Schultern.
Ausgekugelt?
Ich versuche mich zu drehen, schaffe es aber nicht. Es tut weh. Ein Stöhnen entfleucht meiner Kehle. Schmerzerfüllt.
Alle Kraft muss ich zusammennehmen, um mich aufzurichten. Ich beisse krampfhaft auf meine Zähne und spüre wie ein Backenzahn splittert. Verdammt!
Sitze ich schon aufrecht? Ich versuche meine Augen zu öffnen. Zuerst ist alles schwarz, dann sehe ich Umrisse. Senkrechte, vertikale Umrisse. Über ein Dutzend, direkt vor mir. Hinter den Umrissen ein winziger Schimmer Licht in weiter Ferne.
Gitterstäbe?
Eine Zelle.
Ich bin eingeschlossen.
Wer hat mich eingesperrt? Und weswegen?
Ich kann es nicht sagen.
Ich versuche aufzustehen, doch mit zusammengebundenen Knöcheln verliere ich das Gleichgewicht und stürze nach hinten zu Boden. Ein weisser Blitz schiesst über meine Augen, als ich mir den Hinterkopf stosse, und meine Schultern schmerzen, wie wenn mir jemand mit einem glühenden Schürhaken die Gelenke zerdrückt.
Ich muss meine Schultern einkugeln, sage ich mir und schleppe mich auf die Knie. Ich krieche kniend zu einer der Wände hin, dass ich die vorstehenden Steine mit meinen Händen erreiche. Auf Höhe meiner Schulterblätter fasse ich einen der Steine beidhändig. Ich neige meinen Oberkörper nach hinten, den Stein fest umklammernd, die Arme gestreckt und sinke tiefer und immer tiefer. Bevor meine Ohren die Arme passieren, beisse ich auf die Lippen und wappne mich gegen die folgenden Schmerzen. Dann drücke ich weiter.
Ein lautes Knacken – mir scheint, ich habe noch nie ein lauteres Geräusch gehört – erfüllt die Zelle und ich erreiche meine Fersen mit den Schulterblättern.
Ich sinke zur Seite und keuche, atme mit dem Mund, und schliesslich mit der Nase. Auf der Zunge schmecke ich den eisernen Geschmack von Blut und spüre den Abdruck meiner Schneidezähne auf der Unterlippe.
Ich muss lange so gelegen haben, erfreut darüber, meine Hände vor mir statt hinter meinem Rücken zu haben. Es bedeutet, dass ich einen Teil meiner Handlungsfreiheit zurückgewonnen habe.
Endlich kann ich meinen Körper nach Verletzungen abtasten. Neben den eingekugelten Schultern und den Schürfungen an Hand- und Fussgelenken erspüre ich Wunden, Narben, Striemen. Ich erinnere mich grösstenteils an ihren Ursprung. Stöcke, Peitschen, Neunschwänzige Katzen, scharfe, häufig weissglühende Messer- und Dolchklingen.
Wer hat mir das angetan?
Ich erinnere mich in wirren Fragmenten an Gelächter, schadenfrohe Gesichter, offene Lustbekundungen; an ausdruckslose, gleichgültige Mienen mit einem dämonischen, irren Leuchten in den Augen.
Die Schlimmsten sind jedoch diejenigen, die ihre Augen verschliessen, ihren Blick abwenden – und abseits stehend die Arme verschränken.
Die Nackenhaare stellen sich mir auf. Ich schaudere. Womit habe ich das verdient? Was habe ich getan?
Ich blicke mich um, suche nach spitzen oder scharfen Gegenständen, womit ich mich von meinen Fesseln befreien kann. In der einen Ecke liegt modriges Stroh, daneben ein verfaultes Stück Brot und eine metallene Schüssel. Leer. Schade.
An der einen Wand sehe ich Schriftzeichen, eingeritzt durch Steine. Einige jedoch so schwach, dass sie von Fingernägeln stammen könnten.
Ich versuche sie zu lesen. Die Buchstaben sind mir vertraut, die Worte bekannt. Die längste Inschrift sticht mir ins Auge.
„MORITURAE SUNT JUSTITIA ET VERITAS“. Dem Tode geweiht sind Gerechtigkeit und Wahrheit. Was das wohl bedeutet?
Ich finde den Stein, der möglicherweise als Schreibwerkzeug verwendet worden ist und sehe, dass dessen Kante genügend scharf ist, um meine Fesseln zu durchtrennen. Allerdings ist es nicht einfach, wenn ich die Hände nicht frei habe. Ich nehme den Stein zwischen die Zähne. Aber nachdem ich mir vermehrt mit dem Handrücken die Nase gestossen habe, ändere ich meine Haltung. Ich spucke ihn aus, klemme ihn zwischen meine nackten Knie und beginne so daran zu schaben. Nach einer Weile beginnt die aufgescheuerte Haut an meinen Gelenken zu jucken und zu brennen, aber ich lasse mich nicht aufhalten. Auch dann nicht, wenn mir der Stein immer wieder zu Boden fällt.
Es mögen zehn Minuten, vielleicht gar eine Stunde vergangen sein – in steter Dunkelheit ist das schwer einzuschätzen – da habe ich es endlich geschafft. Voller Wonne schüttle ich meine Arme, geniesse das Kribbeln in den Fingerspitzen und reibe die geschundenen Handgelenke.
Ich wiederhole den Prozess an den Fesseln meiner Fussgelenke. Mit freien Händen geht es rascher.
Endlich kann ich aufstehen und mache ein paar unsichere Schritte.
Wie schwach ich bin, sage ich mir, verliere beinahe das Gleichgewicht. Ich sammle mich, dann versuche ich auf einem Bein zu balancieren, dann auf dem anderen, abwechselnd und immer länger, bis ich nicht mehr schwanke.
Währenddessen scheint sich das Loch in meinem Bauch vergrössert zu haben. Ich versuche mich abzulenken, indem ich zu den Gitterstangen gehe und den Lichtschimmer betrachte. Ich kann die Quelle nicht erkennen. Sie muss von jenseits des Ganges herkommen.
Der Abstand zwischen zwei Stangen ist eine Handbreite. Zu schmal um meinen Kopf hindurch zu stecken, aber ich versuche es trotzdem.
Die Stangen geben nach und schwingen wie ein Tor zur Seite. Die Zelle ist nicht verschlossen gewesen!
Vorsichtig spähe ich in beide Richtungen. Ausser kalten, feuchten Felswänden und dem leisen Echo meiner tapsenden Schritte sehe oder höre ich nichts, was auf die Gegenwart von Leben weist.
Oder doch?
Ein Stottern in weiter Ferne, oder ist es ein Schluchzen? Es kommt aus der Richtung des Lichtes.
Ich stehle mich schleichend aus meiner Zelle.
Es klingt wie ein erbärmliches Wimmern, dann ein dumpfer Schrei. Erschrocken mache ich einen Satz rückwärts.
Was ist das nur für ein Ort?
Nach einigen Metern komme ich an eine Biegung. Der Lichtschein dahinter wird immer stärker und ich höre, wie auch die Schluchzer immer lauter werden. Sie scheinen sich vervielfacht zu haben. Ihr Ursprung stammt von einem Raum jenseits der angelehnten Türe vor mir, wodurch Licht schimmert.
Mit gemischten Gefühlen öffne ich die Türe so behutsam es geht, aber nach wenigen Zentimetern beginnt sie zu knarren. Ich reisse sie auf.
Für einen Augenblick sehe ich nur Licht. Meine Augen haben sich so stark an die Dunkelheit gewöhnt, dass ich einige Sekunden brauche um sie auch nur einen Spalt weit öffnen zu können, ohne dass es schmerzt. Dabei ist ihr Licht nicht viel heller als das einer Öllampe.
Die Schluchzer sind verstummt. Bis auf ein unterschwelliges Ticken ist alles still.
„Ist da jemand?“, rufe ich, meine Stimme klingt rau und leise. Ich räuspere mich, um meine Stimmbänder zu entspannen „Ist da jemand?“. Der Schall meiner Frage scheint in der Weite des Raumes zu verhallen und zu verschwinden wie Rauch in der Luft.
Als Antwort erhalte ich ein kränkelndes Husten. Dann ein Keuchen. Von anderer Stelle aus setzt das Schluchzen wieder ein.
Ich wage den ersten Schritt über die Türschwelle und kann mit jedem Schritt mehr erkennen. Das schwache Licht muss von einer Quelle ausgehen, die sich weit oben irgendwo an der Kuppeldecke befindet. Ich erkenne zwei Silhouetten, die aussehen wie Tische, denen auf der mir abgewandten Seite die Beine fehlen. Der linke ist in der Mitte gespalten und darunter befindet sich nicht näher erkennbarer Unrat. Dann erblicke ich mir gegenüber eine weitere Holztüre, ganz ähnlich der, unter dessen Schwelle ich gerade stehe. Sie ist zugesperrt. Ich frage mich, ob sie nach draussen führt.
„Töte mich“, sagt eine Stimme so leise, aber durchdringend, dass ich glaube, sie spricht in meinem Kopf.
Ich erschrecke, wende meinen Blick auf zum Tisch zu meiner Rechten. Bin ich nicht die einzige hier?, frage ich mich und gehe vorsichtig zum Tisch.
Auf halbem Weg erfüllt ein lautes Klacken den Raum, das aus der Richtung des linken Tisches stammt. Ihm folgt ein greller, markerschütternder Schrei, der mir das Blut gefrieren lässt. Derselbe Schrei wie zuvor.
Dann bricht er ab und geht über in ein erschöpftes und wimmerndes Keuchen.
Ich halte ein und will mich nach links bewegen, da höre ich von rechts den Befehl, diesen absurden Wunsch, erneut: „Töte mich“.
Hin und her gerissen blicke ich vom einen Tisch zum anderen. Was geschieht hier? Da fällt der Groschen. Streckbänke!
Ich eile zur Streckbank, die ich mir als erstes ansehen wollte. Die Holzplatte ist alt und zeugt von regem Gebrauch. Ich sehe Kerben, Splitter, die Löcher von eingeschlagenen Nägeln und Pfählen und eingetrocknetes Blut auf dem Boden und der Bank. Darauf ist eine Frau geschnürt und zu meiner Bestürzung besitzt sie weder Arme noch Beine. Dort wo ihre Schulter- und Hüftgelenke sind, gibt es ausschliesslich schlecht verheilte und eiternde Wunden.
„Was … was haben sie mit dir gemacht?“, frage ich und muss mich am Rand des Tisches abstützen, als mir die Abscheu einer solchen Misshandlung in den Hals steigt und mir weiche Knie beschert. „Das ist ja schrecklich!“
Die Frau folgt mit milchig trüben Augen mir und meiner Stimme. Dann höre ich die Worte über ihre Lippen rollen. „Töte mich“. Ihre Stimme klingt fester.
„Ich … ich kann nicht“.
„Bitte“, setzt sie flehend nach.
„Aber … wer bist du“.
„Justine“, sagt die Frau.
„Justine … Hör zu, Justine. Wenn ich deine Wunden säubere, dann könntest du überleben“.
„Ich …“. Sie hustet, was für sie eine unglaubliche Anstrengung ist. „ kann nicht … mehr“. Ihre Atmung erhöht sich und sie beginnt zu keuchen. Sie droht zu ersticken, wenn sie sich nicht unter Kontrolle bringt.
„Ich kann dich vielleicht retten, wenn du es zulässt“.
Sie hustet erneut, diesmal rinnt ihr Speichel und Blut aus dem Mundwinkel. Doch zu meiner Verwunderung zwingt sie sich zu einem Lächeln.
„…“ Ihre Stimme ist so schwach, dass ich mich zu ihr hinabneigen muss, um zu verstehen.
„Die Hoffnung … stirbt … zu…letzt “. Die letzte Silbe ist nur noch ein Raunen. „hilf … Vera “. Ihr Mund bleibt offen und der Kopf neigt sich zur Seite. Ihre Brust hebt sich nicht mehr.
„Justine“, murmele ich, „Wer auch immer dir das angetan hat, wird dafür büssen“.
Ich kann mich nicht zurückhalten und vergiesse das wenige kostbare Wasser meines Körpers in Form von Tränen. Niemandem sollte ein solch schmerzhaftes Schicksal widerfahren. Dagegen wirken meine ausgekugelten Schultern, die Narben und blauen Flecken direkt lächerlich.
Am Rande meines Bewusstseins vernehme ich das metallene Klacken, das ich zuvor schon mehrmals gehört habe. Doch erst beim folgenden Schrei begreife ich und zucke erschrocken zusammen. Wie konnte ich das vergessen?
So schnell es mir trotz meiner Schwäche möglich ist, eile ich zum anderen Tisch.
Eine weitere Frau, Vera, laut Justine, liegt auf einer Streckbank. Ihr ganzer Körper ist mit breiten Lederriemen auf den beiden Holzplatten festgezurrt und auf ungesunde Art und Weise in die Länge gezogen. Ihre gestreckten Arme und Beine sind zum Zerreissen gespannt.
An der Seite der Bank befindet sich ein gusseisernes Zahnrad auf einer fein gerillten Schiene. Es scheint die beiden Bankplatten auseinanderzuschieben.
„Ich werde dir helfen, Vera“, sage ich und stemme mich gegen das Rad, um den Plattenabstand zu verringern, aber ich komme mit meiner verbleibenden Kraft nicht dagegen an. Es ist wie fest montiert.
In meiner Verzweiflung habe ich das rhythmische Klicken und Klacken von unter der Streckbank nicht vernommen. Das was ich zuvor für Unrat gehalten habe, erweist sich nun als eine komplizierte Mechanik von Gestänge und Zahnrädern.
ch folge mit den Augen der Verbindung des Zahnrades mit dem übrigen Räderwerk unter der Streckbank. Ich gehe in die Hocke und sehe, wie es tief in den Boden eingearbeitet ist. Es bewegt sich langsam, unaufhaltsam – wie ein Uhrwerk.
Ich sehe nicht, wo ich den Rhythmus unterbrechen kann. Es scheint sich alles gleichzeitig zu bewegen. Im selben Moment wie ich kniend hinab schaue, vernehme ich das laute Klacken von zuvor und höre Veras Schrei in meinem Kopf, noch bevor sie ihn ausstösst.
„Tut-mir-Leid! Tut-mir-Leid! Tut-mir-Leid!“, sage ich verzweifelt und möchte ihr die Schmerzen lindern. Doch ich getraue mich nicht, sie anzufassen, befürchte, dass der Druck meines Fingers zu viel der Spannung sein könnte. „Ich … ich weiss nicht, wie ich die Zahnräder aufhalten kann“.
Mit gequälter Miene schaut sie mich an. Einzig ihr Blick ist fest und klar.
„Du kannst mir – nicht mehr helf’n. – Ich bin schon – zu arg ’n die – Länge g’zog‘n – worden“. Jedes Wort ist eine Qual. Sie muss eine längere Pause einlegen, um Kraft zu schöpfen, während ich verzweifelt nach einem Knopf, einem Hebel suche. Irgendwas.
„Man hat mich –ausgeweitet“, fährt sie fort, „und überstrapa- – ziert. – Ich bin nicht mehr – ich selbst“.
„Nein. Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben“, sage ich und suche unter der Bank nach einem wichtigen Zahnrad, das ich blockieren kann oder nach etwas, womit ich das Zahnrad blockieren kann.
„Lass gut sein“, sagt die Frau. „Schau besser – zu dir selbst“.
„Aber…“
„Tu, was ich sag‘, – mein Körper – hält’s nicht mehr – lang aus. – Ich will nicht, – dass dir das – mit ansehen – musst“.
„Ich kann doch nicht…“
„Doch, – du kannst. – Geh. – Und schau nicht – zurück!“.
„Ich könnte dir vielleicht helfen“.
„Nein!“ Sie lächelt – wie Justine. „Die Hoffnung stirbt –“ *Klack* ein Schrei, „ZULEEEE…“
Dann ist sie mitten im Wort verstummt. Ihr Körper hat der Zugkraft der Streckbank nicht mehr standhalten können. In der Mitte auseinandergerissen, wie ein überdehntes Gummiband.
Ich kann nicht anders, als in mich zusammenzufallen. Mein Körper vermag mein Gewicht und die Last meiner Machtlosigkeit nicht mehr tragen. Ich mache mir nicht die Mühe, ihr Blut von meinem Gesicht zu wischen.
Als ich den Kuppelraum hinter mir lasse, quält mich der Gedanke an die letzten Worte von Justine und Vera. Was haben die beiden mit der Hoffnung gemeint?
Für sie gibt es keine mehr, mache ich mir bewusst und ein Stich geht mir durchs Herz wie ein rostiger Nagel.
Ich erinnere mich an die Schriftzeichen in meiner Zelle. „MORITURAE SUNT JUSTITIA ET VERITAS”. Kann es das sein?
Gibt es keine Gerechtigkeit mehr? Hat die Wahrheit ausgedient?
Und was ist mit mir? Gibt es noch Hoffnung?
Ich schliesse die Tür hinter mir und entdecke an der Rückseite eine ins Holz eingebrannte Inschrift. „RELICTAE“ steht darauf. Die Zurückgelassenen.
Ja, ich musste sie zurücklassen, aber wer hat uns zurückgelassen?