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René
René
Es war Winter als es geschah. Ich liebte den Winter. Zu dieser Jahreszeit, kam René immer in unser kleines Dorf.
Oben, am Hügel, spielten wir Tag für Tag, den ganzen Winter lang, im Schnee. Wir bauten Schneemänner, machten Schneeballschlachten und fuhren mit meinem Holzschlitten, den mir mein Vater gebaut hatte, den Hügel hinunter. Wir lachten oft, viel und gerne.
Viel wusste ich nicht über ihn. Nur, dass er Franzose ist, hier jeden Winter seine deutsche Großmutter besuchte und, dass er gute Geschichten erzählen konnte. Manchmal waren sie lustig, manchmal traurig, oft spannend und einige Male machten sie mir auch Angst… Doch ich liebte sie. All dies war einfach Routine. Seine Geschichten, wie auch er selber, waren einfach Teil meines Winters.
René und ich saßen am liebsten an einem stillen Ort im Wald, bei der großen Eiche. Dies war unser Ort. Keiner war jemals dort, keiner kannte ihr und niemand wusste, dass wir dort waren, abgesehen von den Vögeln, dem eingefrorenen Fluss und den Eichhörnchen, die ab und zu vorbeiflitzten.
Nach einem langen Tag, gingen wir jedes Mal erschöpft zu unserem Versteck. Dort fing er dann immer an zu erzählen. Ich war still, sagte nichts, lauschte einfach nur gespannt dem Klang seiner Stimme, bis er fertig erzählt hatte.
Doch als es geschah, war alles anders… Er erzählte mir gerade eine spannende Abenteuergeschichte. Ich erinnere mich noch genau daran wie es war… Ich saß wie immer aufmerksam neben ihm, als lautes Geschrei und darauf folgendes Glockenläuten, die Stille zu verschlucken schienen.
Ohne die Geschichte zu Ende erzählt zu haben, stand er auf und lief in Richtung der lauten, aufgeregten Stimmen. Schon immer war er neugierig gewesen… Ich hatte jedes Mal große Angst um ihn, wenn er mich aufgrund seiner Neugierde ruckartig verließ und davon lief, doch jedes Mal schwieg ich. Jenes mal, was es jedoch anders. Es war nicht dieses Angstgefühl. Es war anders. Meine Angst um ihn war größer, viel größer… Sie schien mich zu zerfressen… Ich rief noch nach ihm, „René, wohin gehst du?“, doch er hörte mich nicht…
So lief er dahin und ich blieb dort. Vergeblich wartete ich auf ihn, doch er kam nicht…
Mit Tränen in den Augen und einer zittrigen Stimme, beteuerte mir seine Großmutter mehrmals, dass er in Frankreich sei und nicht mehr wieder kommen würde. Doch mir war klar, dass das nicht stimmte. Ich war sicher, dass er wiederkommen würde, er kam immer wieder...
An Stelle dessen, kamen der Frühling, der Sommer, der Herbst, gefolgt vom Winter und René kam nicht… 17 Mal schmolz der Schnee und danach trug unsere Eiche Blätter, und noch immer kam er nicht…
Ich wuchs, wurde älter, eine junge Frau, und René blieb für immer jung… und fuhr mit meinem Schlitten im Schnee …
Nadine Hassan