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Renn bis zum Tod
Gehetzt schließe ich die Luke des Müllcontainers über uns, geben aber Acht, keinen unnötigen Lärm zu machen. Es handelt sich um einen der großen, alten Sammelcontainer, die vor jedem Hochhaus stehen.
Kauernd liegen wir im Dunklen. Das Herz pocht mir bis zum Hals und mein Mund ist ganz trocken. Der Schmerz in meinem Kopf kommt zurück. Ich spüre, dass Theresa neben mir zittert. Der Wind pfeift durch die Ritzen. Der einzige Quell von Frischluft.
Erst jetzt wird mir bewusst, dass wir hier wie Mäuse in der Falle hocken, sollten wir entdeckt werden. Aber immerhin haben wir so Gelegenheit, neue Kraft für einen möglichen Kampf zu sammeln.
Dabei hatte doch eigentlich alles gar nicht so schlecht angefangen. Nach einem Date mit Theresa hatte ich lediglich darauf bestanden, sie nachhause bringen zu dürfen. Schließlich war es bereits dunkel gewesen und für eine Frau, mit solch einem tollen Hintern, wie sie ihn besaß, war es gewiss nicht ungefährlich alleine unterwegs zu sein. Außerdem war so ein Spaziergang durch den Schnee romantisch. Es hatte sogar von neuem angefangen zu schneien. Doch dann zog mich Theresa in eine Straßennische und ich dachte anfänglich, ja hoffte es sogar, sie wolle ein bisschen mit mir rummachen, als dieses … dieses Ding um die Ecke kam. Ich hatte es im Dunklen nicht richtig sehen können, nur seinen massiven Körperbau und dass es schneefarben war. Und ich hatte vom ersten Augenblick Angst davor gehabt. Hätte Theresa dieses Etwas nicht als erstes wahrgenommen, hätte ich gedacht, es wäre bloß eine schlimme Halluzination.
Ich kann nicht sagen, wie lange wir seither gerannt sind. Aber es muss lange gewesen sein. Mein Körper fühlt sich schwach und zittrig an, nicht zuletzt wegen der aufkommenden Panik. Der Schweiß auf der Stirn wird kalt und die nassen Hosenbeine kleben unangenehm.
Ich muss mich zusammenreißen um nicht zu schreien, als sich etwas gegen den Müllbehälter wirft. Das Metall vibriert und gibt einen hässlichen Laut von sich. Da ist wieder das Geräusch von schlagenden Flügeln.
Ich kann kaum atmen. Es ist stickig und die übel riechende Luft macht es nicht unbedingt leichter.
In der Erwartung, dass sich der Deckel gleich öffnen wird, lege ich schützend den Arm um Theresa und spüre die Rundung ihres Busens an meiner Brust. Normalerweise hätte ich das erregend gefunden.
„Wenn … wenn es uns tötet …“, raunt sie mir ins Ohr, „dann lass mir den Vortritt. Ich will nicht sehen, wie es dich …“ Ihre Stimme klingt weinerlich und als ich sie küsse, schmecke ich das Salz ihrer Tränen.
Etwas scharrt gegen das Metall. Es wird immer intensiver, bis es auf einmal abbricht. Nur eine millimeterdünne Wand trennt uns voneinander. Was ist das nur?
Ich warte, dass etwas geschieht, doch es passiert nichts. Wir müssen schon eine Ewigkeit hier drin liegen. Auf was wartet es? Wieso kann es nicht wenigstens schnell gehen?
Plötzlich realisiere ich, dass sich die Flügelschläge entfernen. Gibt es doch einen Gott?
Als ich nur noch das Pfeifen des zunehmenden Windes höre, zähle ich bis zehn, bevor ich die Luke des Containers anhebe, um schnell einen Blick nach draußen zu werfen. Als ich mich sicher genug fühle, springe ich heraus und zerre Theresa hinter mir her.
Der Schneesturm wütet mittlerweile so heftig, dass ich die umliegenden Häuser bloß schemenhaft erkennen kann. Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, in welche Richtung das Wesen geflogen ist.
„Zu mir!“, ruft Theresa und übernimmt die Führung.
Ich halte ihre Hand. Es ist die, die immer behandschuht ist. Als ich sie beim ersten Date fragte, wieso sie den Handschuhe denn nicht ablege, erklärte sie mir, sie habe eine Missbildung und würde sich dafür schämen. Tatsächlich fühlt sie sich seltsam dünn an.
Im Eiltempo laufen wir nun durch den Schnee, der mir mittlerweile bis über die Knöchel reicht. Es ist nicht leicht, die Augen, welche vom kalten Wind tränen, offen zu halten und gleichzeitig acht zu geben, nicht auszurutschen. Schnell bin ich wieder außer Atem und mir tun die Beine weh. Die ganze Zeit laufen wir die gleiche Straße entlang. Sie ist schmal und einige Male stolpere ich über den Müll, der im Schnee liegt. Ich weiß nicht, ob es so klug ist, immer in die gleiche Richtung zu gehen, aber ich folge bedingungslos. Hauptsache wir kommen einem sicheren Versteck immer näher.
In meinem Kopf pocht es wieder gleichmäßig. Wahrscheinlich habe ich mir heute Morgen eine Gehirnerschütterung geholt, als ich in der Tür stand, die der Wind zustieß. Immerhin war ich für einen Augenblick total weggetreten.
Der Schmerz legt sich über mein Bewusstsein, irgendwann kann ich nicht mehr klar denken. Die Kälte macht mir zusätzlich zu schaffen. Nur die Angst und der Schmerz sind das einzig Klare.
Graue Schatten ziehen an uns vorbei. Die Häuserblocks. Immer geradeaus, immer weiter. Laternen flackern und spenden kaum Licht. Dann sehe ich es. Eine Bewegung, direkt vor uns.
„Nein!“, schreie ich, lasse Theresas Hand los und renne in die andere Richtung. Aber wohin? Egal, Hauptsache weg!
Aber stopp! Kommt dort vorne nicht etwas auf mich zu?
Schnell will ich die Straße wechseln, als ich auch in ihr etwas sehe. Sie sind überall! Wie hatten wir nur davon ausgehen können, es gäbe bloß eines von diesen Dingern?!
Panisch drehe ich mich um mich selbst und renne dann einfach in irgendeine Richtung. Wo ist Theresa? Sie ist nicht hinter mir.
Am liebsten würde ich einfach stehen bleiben und schreien. Mein Körper will nicht mehr, er ist am Ende seiner Kraftreserven. Ich heule wie ein kleines Kind.
Schnee weht mir ins Gesicht und verdeckt die Sicht. Ich kann die Häuser nicht mehr sehen und renne nur noch blind umher, zu sehr in Panik, um mir den Schnee einfach wegzuwischen. Schließlich stoße ich mit einer Hauswand zusammen und schlage mir den Kopf zum zweiten Mal an diesem Tag an.
Der Schmerz ist stark. Ich hätte nie gedacht, dass mein Kopf so weh tun kann. Doch noch intensiver ist das Heulen des Windes. Wie lange liege ich hier schon? Meine Glieder sind bereits ganz steif und meine Beine und Finger vor Kälte ganz taub. Aber ich lebe!
Langsam öffne ich meine Augen.
Der Schrei bleibt in der Kehle stecken, als ich in ein Gesicht blicke. Die Züge sind fast menschlich, doch die Gesichtsfarbe sieht in dem dunklen fast gelblich aus und irgendwie wirkt das Gesicht stark verzerrt. Es schwebt Millimeter über meinem. Instinktiv bilde ich mit Zeige- und Mittelfinger ein V und steche zu. Sollte es ein Geräusch geben, als die Finger in den Augäpfeln versinken und ich sie wieder herausziehe, so wird dieses vom darauffolgenden Geschrei und dem heulenden Sturm übertönt. Der darauffolgende Schrei ist schrill und unmenschlich. Augenflüssigkeit und Blut dringen sofort aus den leeren Augenhöhlen und meine Finger fühlen sich schleimig an. Der Augenblick der Ohnmacht hat mir etwas Kraft geschenkt.
Es bricht auf mir zusammen und hält sich mit klauenartigen Händen das Gesicht. Das Gewicht raubt mir die Luft und der Schmerz im Kopf nimmt zu.
Ich packe das Wesen am Rücken, um es von mir zu rollen. Ich reiße Federn aus, versuche nach ihm zu treten und mich unter ihm zu winden, bekomme dieses Ding aber nicht von der Stelle. Es bleibt wie ein Fels auf mir liegen. Ich glaube, es will nicht, dass ich mich von ihm befreie. Ich glaube, es will, dass seine Freunde mich holen.
Jetzt, wo dieses Vieh schreit, kann auch ich schreien. Jetzt ist es egal. Jetzt haben die anderen eh bereits eine Ahnung von meinem Standtort.
„Theresa!“, schreie ich, habe aber keine Ahnung was ich damit bezwecken will. Will ich, dass sie nicht näher kommt oder will ich, dass sie mir hilft? Egal! Im Moment kann ich nur an mein eigenes Leben denken! „Theresa!“
Der Schmerz im Kopf raubt mir jegliche Vernunft und Konzentration. Irgendwann schlage und trete ich nur noch wild um mich herum. Doch es bringt nichts. Ich bin unter dem Wesen gefangen. In dem Dunkel kann ich immer noch nicht genau sagen, wie es aussieht. Aber wie kann es so schwer sein, wenn es bloß auf mir liegt und sich die Seele aus dem Leib schreit?
Ich nehme eine Bewegung neben mir wahr und beginne wieder zu schreien. Dieses mal wortlos.
„Kevin!“ Das ist Theresas Stimme. Ich kann sie nicht richtig erkennen, verstumme aber. Sie ist gekommen!
Mit einem gezielten Tritt auf den Hinterkopf befördert sie dieses Ding auf mir in eine Ohnmacht, dann packt sie es und gemeinsam gelingt es uns, mich zu befreien.
Schnaufend richte ich mich auf, als sie mich schon an der Hand nimmt und mich mit ihr zerrt. Fast wäre ich ausgerutscht, kann mich aber an einer nahegelegenen Wand abfangen. Der Putz fühlt sich rau und kalt an.
Dieses Mal umklammere ich Theresas Hand noch fester, um sie nicht wieder zu verlieren. Es ist nicht leicht, mit den tauben und steifgefrorenen Gelenken durch den Schnee zu waten. Wir hasten die Straße herunter und nehmen die nächste Einbiegung.
„Wie … weit?“, keuche ich. Der Schweiß rinnt mir wieder von der Stirn in die Augen und ich wische ihn weg. Langsam kommen in meinen Beinen die Gefühle wieder zurück, ich kann an Tempo zulegen.
„Nicht mehr …“ Etwas schießt aus dem Schneegestöber vor uns, genau auf mich zu. Für einen Moment hat es mich an der Schulter gepackt und reißt mich in die Luft, kann mich dann aber nicht halten und ich rutsche ihm aus den Klauen. Der Schnee lindert den Aufprall etwas. Theresa kreischt und rennt davon.
Ich springe im Augenblick meines Aufschlags auf die Beine und folge dem verschwindenden Blond ihrer Haare.
Aber ich bin nicht schnell genug. Ich fühle, wie es dicht hinter mir ist und seine Krallen meine Winterjacke streifen. Nein, es darf mich nicht erwischen. Ich will leben!
Ich verlange von meinem Körper den Rest der Energie und beschleunige ein letztes Mal. Das halte ich vielleicht noch eine Minute aus, ohne zusammenzubrechen.
Ich renne stur geradeaus und dann höre ich Theresas Keuchen neben mir. Ich greife nach ihrer Hand.
Als sie nach rechts in eine Straße einschlägt, folge ich ihr. Etwas streift meine Haare, die nass an meinem Kopf kleben. Nur noch wenige Sekunden, dann breche ich zusammen. Ich werde sterben!
Sie biegt noch einmal ab und wieder folge ich. Erst, als ich bereits fast in der Tür stehe, weiß ich, dass wir es gleich geschafft haben. Mit allerletzter Kraft renne ich in den Hausflur des Hochhauses und höre, wie Theresa hinter uns die Tür zuschlägt und verriegelt. Auf der Treppe breche ich letztendlich zusammen.
Etwas schlägt mit großer Wucht gegen die Tür und der Boden unter mir vibriert. Ich drehe den Kopf. Verschwommen sehe ich einen großen Sprung in der Glastür und etwas Rotes. Dann wird alles schwarz.
Die Kopfschmerzen sind wieder da. Sie drohen, es einem Nussknacker gleich zutun und meinen Kopf wie eine Nuss zu zerbrechen. Aber das ist der Beweis, dass ich noch lebe. Ja, ich habe es geschafft. Ich lebe!
Ich nehme einen Schatten neben mir wahr und blicke zur Seite. Theresa steht da und lächelt. Ich liege in einem kleinen Zimmer auf dem Bett. Bis auf die Tür kann ich in meiner Lage jedoch nichts sehen.
„Geschafft“, krächze ich. Sie haucht mir einen Kuss auf die Stirn. Doch als sie sich aufrichtet und mein Blick auf die sonst behandschuhte Hand fällt, erfasst mich von neuem das Entsetzen. Nimmt der Albtraum überhaupt kein Ende? Oder bin ich nun durchgedreht?
Ich starre auf bloße Knochen. Sie bewegen sich, obwohl überhaupt keine Muskeln vorhanden sind. Mehr als darauf starren kann ich nicht mehr.
„Ich möchte dir meinen Vater vorstellen! Übrigens, er ist Richtger“, sagt sie, meinen geschockten Zustand ignorierend.
„Ich habe schon lange auf den Augenblick unseres Kennenlernens gewartet“, ertönt eine Stimme hinter ihr und als sie zur Seite tritt, bin ich mir sicher, dass ich mich irgendwo in einer Nervenheilanstalt befinde und sich alles nur in meinem Kopf abspielt.
Vor mir steht ein in schwarzen Leinen gehülltes Skelett, in der Hand eine Sense haltend ...