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Resignation
„Wie wäre es nun mit Ihrem Penis, Tom?“, fragt ihn der Diener mit französischem Akzent. Er trägt seinen Anzug, darunter sein weißes Hemd und dazu die rote Fliege um den Hals. Sein Haar ist schwarz und mit Gel zurück gekämmt. Das alles sieht Tom nicht, er weiß es aus seiner Erinnerung. Wie soll er auch sehen, hat ihm derselbe Diener vor zwei Tagen doch die Augen entfernt, um sie Monsieur im Nebenzimmer zu überbringen.
„Ich denke…“, beginnt Tom und spürt, wie die Beinstümpfe zu zucken beginnen. Er will es unterdrücken, doch seine Bemühungen scheinen es nur noch schlimmer zu machen.
„Ich denke…“
„Ich weiß, wie schwer Ihnen dieser Schritt fallen muss, Tom. Es ist nicht leicht für einen Mann, wenn es um sein Geschlechtsorgan geht. Selbst für Sie nicht. Doch wir wissen beide, dass es von Nöten ist.“ Der Diener spricht in seinem gewohnt unaufgeregten Tonfall. Es würde sich nicht anders anhören, fragte er Tom nach einer Tasse Kaffee.
„Wo sind Ihre Kollegen?“ Tom will Zeit schinden. Diese Erkenntnis ist ihm unangenehm, doch ändert dies nichts an ihrem Wahrheitsgehalt. Natürlich weiß dies auch der Diener.
„Tom, wir sollten jetzt wirklich nicht länger warten.“
Ein Klirren ist zu hören und Tom sieht vor seinem geistigen Auge, wie die weißbehandschuhte Linke des schmächtigen Dieners das Skalpell vom Tablett nimmt, welches er in der Rechten trägt. Tom hat sich an seinen blinden Zustand mittlerweile so gut gewöhnt, dass er das Geräusch ohne Probleme orten kann; der Diener steht neben seiner Hüfte.
Eigentlich müsste er aus dieser kurzen Entfernung einen Körpergeruch wahrnehmen, doch von dem Diener geht kein solcher aus, ebenso wenig wie von den anderen beiden, die für den heutigen Tag anscheinend frei bekommen haben.
Die Schwärze seiner Welt beeindruckt Tom mehr, als dass er es für möglich gehalten hatte, als ihn der Diener vorgeschlagen hatte, die Augen zu entfernen.
„Es wird in Maßen schmerzhaft für sie werden, Tom“, hatte er gesagt und sagt es auch jetzt wieder.
Hilflos in seinem Bett liegend, ohne Beine um aufzustehen, oder Arme, um mit ihnen die Umwelt zu ertasten, fleht Tom zu einem Gott, von den dessen Nichtexistenz er überzeugt ist, dass er ihm die Gnade der Bewusstlosigkeit schenkt, bevor der Schmerz seinen Verstand an die Grenze des Wahnsinns befördert.
Zwei Rinnsale Schweiß laufen synchron über je eine der verschlossenen Augenhöhlen und treiben dann weiter Richtung Oberlippe. Wie gern würde er sie wegwischen.
Die Arme waren bereits vor vier Tagen an der Reihe gewesen, als alles seinen Anfang genommen hatte, und der Monsieur das Gästezimmer seiner Wohnung in Anspruch genommen hatte. Ein aufrecht gehender Mann von großer Statur, gekleidet in einen schweren Mantel und mit beiden Händen den silbernen Knauf eines Gehstocks umfassend. Die Ausstrahlung, die aus ihm gewirkt hatte, war unbeschreiblich gewesen. Ein Charisma, das dem Helden eines antiken Epos mehr als würdig gewesen wäre.
„Es hat Ihnen viel Schande eingebracht, Tom“, spricht der Diener zu ihm und legt seine übergroße Hand auf seinen bloßen Bauch. Sie ist kalt, die Berührung unangenehm. Tom spürt, wie sich seine Haare um diese Hand herum aufrichten.
„Er hat Ihnen Schande eingebracht. Viele Männer betrachten ihr Geschlechtsteil mit ausuferndem Stolz, sehen es als nicht zu geringen Teil ihres Wesens an. Jedenfalls die, deren Penis nicht eine gewisse Größe unterschreitet. Bei Ihnen war das anders, Tom. Nicht wahr?“
Die Hand verlässt seinen Bauch und legt sich auf seinen Penis. Aus dem Nebenraum dringt das unnachahmliche Gemisch aus Stöhnen und Röcheln zu ihm, wie es nur aus dem Munde des Monsieurs zustande kommt. Ein Laut irgendwo zwischen Ersticken und sexueller Ekstase.
„Ja“, bringt Tom heraus. Seine Lippen fühlen sich so trocken an. Er fährt mit der Zunge darüber und ertastet so die Risse, die sich auf ihnen gebildet haben. Nicht, dass dies Bedeutung hätte.
„Ihr Penis hat Ihnen Schande gebracht, sagen Sie es“, fährt der Diener fort.
Unwillkürlich steigt vor Toms innerem Auge das Bild der Narbe an seiner linken Wange auf. Nicht sehr groß und von einer Geradlinigkeit die ein Perfektionist geschaffen hat. Kann man sie als Makel in diesem sonst allen Idealen des Schönsinns erfüllendem Gesicht des Dieners bezeichnen?
„Sagen Sie es!“ Kalter Stahl setzt an der Peniswurzel an.
„Ja, er hat mir Schande gebracht.“ Wären die Augen noch an ihrer Stelle, würden nun Tränen fließen.
„Es war… Ich wünschte es mir so sehr, so sehr!“ Seine Stimme ist ein Winseln.
„Aber ich hatte nie die Möglichkeit, es war... Sie haben mir so wehgetan, dass ich es nicht ertragen konnte, mir beim… beim…“
„Beim Runterholen“, vervollständigt der Diener. „Sagen Sie es, sprechen sie es aus!“
„Ja, während ich mir einen runtergeholt habe, konnte ich nicht einmal an ihre Körper denken, an ihre Brüste… Stattdessen, Männer. Ich habe an Männer gedacht und mich dafür geschämt.“
Er hat gerade nur ein weiteres Geständnis seines Versagens von sich gegeben. Nicht das Letzte, nicht das heikelste.
„Entspannen Sie sich nun, Tom. Nur etwas Schmerz, dann sind Sie von dieser Last für immer befreit.“
Fingerspitzen mit weicher Haut ergreifen die Spitze seines Penis und heben ihn an. Die einzigen Geräusche, die die Welt um Tom herum zu bieten hat, sind das an Lautstärke gewachsene Röcheln des Monsieurs im Nebenzimmer mit den langen Seidenvorhängen vor dem Fenster in Scharlachrot, und das aufgeregte Pochen seines eigenen Herzens.
Der Gedanke, wie der Monsieur in seiner anbetungswürdigen Gestalt vor diesem Fenster steht, die Hände hinter dem Rücken gefaltet und die dunklen tiefgründigen Augen verschlossen, besänftigt seine Angst und bestärkt ihn, dass dem Allem ein Sinn innewohnt, wenn er sich einem einfachem Geist, wie dem Seinen auch niemals erschließen mag.
Dann kommt der Schmerz.
Drei Tage sind seit dem Verlust seines Geschlechtsteils vergangen. Woher Tom das weiß? Nun ja, er spürt es eben. Wie er spürt, welchen Ausdruck das Gesicht des Monsieurs gerade angenommen hat, oder wann die scharlachroten Seidenvorhänge von Sonnenlicht beschienen oder von der Nacht in Schatten getaucht werden.
Neben Armen, Beinen, Augen und Penis hat Tom nun auch seine Nase und sein rechtes Ohr eingebüßt. Bei Gott, er wünscht sich, sie hätten ihm gleich beide genommen. Das Geräusch, das die Wände seines kleinen Zimmers von sich geben, ist beängstigend. Es kommt ihm vertraut vor, und weshalb auch nicht, hat er es doch in den letzten Jahren ständig gehört, nur eben nicht wahrgenommen. Doch nun ist er der meisten seiner übrigen Sinne beraubt und das Knistern und Rieseln nicht mehr zu ignorieren.
Jede der Amputationen hat intensiven Schmerz mit sich gebracht, doch scheint es ihm, als würde der Zeitraum bis zu seinem Abklingen von Mal zu Mal kürzer ausfallen.
„Trinken Sie, Tom. Der Monsieur wünscht, dass Sie einen Schlucken von diesem vorzüglichen Roten nehmen, der seinem Gaumen in den letzten Tagen Freude geschenkt hat.“ Es ist wieder der Diener, der ihm den Penis abgeschnitten hat. Noch ein zweiter ist im Zimmer. Durch sein Gehör erfasst Tom, dass er die Skulpturen auf dem Bücherregel neben der Tür vom Staub befreit. Alle drei sehen sich äußerst ähnlich. Nicht gerade wie Drillinge, doch ein Betrachter muss zwangsläufig auf den Gedanken kommen, dass sie die gleiche Mutter hatten.
Ein Glas wird an Toms Unterlippe angesetzt. Er öffnet den Mund leicht und der Diener hebt das Glas an. Er schluckt nicht viel von dem Wein, doch es genügt, um die Trockenheit seiner Kehle zu lindern und den säuerlichen Geschmack in seinem Mundraum durch einen süßlichen zu ersetzen.
„Monsieur beglückwünscht Sie“, sagt der Diener, nachdem er das Glas wieder entfernt hat. „Sie haben diesmal das Richtige getan. Monsieur sagt sogar, dass ein Stückchen Mut in dieser Entscheidung liegt.“
Tom tun die Worte gut. Wären seine Gesichtsmuskeln nicht so verkrampft und würden schmerzen, würde sich jetzt ein Lächeln zeigen. Ihm drängt sich die Frage auf, die ihn schon beschäftigte, seit der Monsieur einen einzigen flüchtigen Blick auf ihn geworfen hatte, als er Toms Zimmer durchquert hatte, um ins Gästezimmer zu gelangen.
„Mag er mich?“, fragt er. „Mag mich der Monsieur?“
Zwei Sekunden Stille vergehen, dann dringt in sein eines Ohr Gelächter. Es ist ein bitterer, ungewohnter Laut. Bis jetzt hat jeder der Diener die Contenance in jeder Situation gewahrt, war der höchste Ausdruck von Emotion ein Schmunzeln gewesen. Das schrille Lachen zu hören, erschreckt und demütigt Tom in gleichen Teilen. Es scheint, als kann sich der Diener nicht mehr einkriegen. Auch der Zweite im Raum fällt in diese Symphonie aus hohen, Nerven zerfetzenden Tönen ein, und ebenso der Dritte, als er die Tür aufschiebt und in den Raum tritt.
Die Geräuschkulisse erstirbt schließlich so plötzlich, wie sie eingesetzt hat.
Gefasst, wie immer, und als wäre nichts gewesen, sagt der Diener, der den Wein gereicht hat: „Keiner mochte Sie wirklich, Tom. Keine der Personen, die Ihren Lebensweg kreuzten, brachte Ihnen ein Übermaß wohlwollender Gefühle entgegen. So sehr Sie sich dies auch in Ihren verworrenen und abstrusen Tagträumen gewünscht haben. Ich dachte, dies wäre Ihnen bewusst!“
Natürlich ist es ihm bewusst! Natürlich weiß er, dass er nie einem Menschen viel bedeutet hat, und dass das auch nie der Fall gewesen wäre, hätte er sein Leben normal weiter gelebt. Als ihm jetzt die Dummheit seiner Frage bewusst wird, und er sich wieder als Jugendlicher in seinem Bett liegen sieht, den Kopf voll Träumereien über Beliebtheit und Anerkennung, übermannt ihn die Scham. Er glaubt zu fühlen, wie sich seine Wangen unter den leeren Augenhöhlen rötlich färben.
„Ich dachte tatsächlich, dieses Stadium hätten Sie bereits endgültig hinter sich gelassen. Die Annahme, ein Mann wie der Monsieur könnte für ein Wesen wie Sie Zuneigung empfinden, beweißt das Gegenteil und ist anmaßend.“
Diesmal setzt Gelächter aus dem Nebenraum ein. Es dringt zu Tom, als wären die Tür aus massivem Holz und die Wand aus Stein und Mörtel nur Fatamorganas. Der Monsieur lacht und Tom schreit – er kann nicht anders.
„Du musst es einsehen!“, schreit der Monsieur in seinem Gelächter. „Narr, denke endlich wie ein Rationalist… löse dich von deinen Träu… men. Erkenne, gestehe! Beug dich… Schick…sal! Erkenne…
Musst es einsehen…Tor! Ratio, oh Ratio!“
Die Zunge wird als nächstes an der Reihe sein, dann das Herz, hat ihm einer der Diener vor wenigen Augenblicken offenbart. Für den Rest der inneren Organe hat der Monsieur keine Verwendung, doch der Verlust des Herzens ist ein wichtiger Schritt für Tom.
„Ist es der Höhepunkt?“, fragt er.
„Nein, noch nicht ganz. Ein was fehlt Monsieur noch, Tom. Der Höhepunkt wird Ihr Gehirn sein, ihr fehlgeleiteter Verstand, nicht fähig klar zu arbeiten und die Wahrheit gänzlich zu akzeptieren.“
„Aber ich habe bereits akzeptiert“, bringt Tom seinen Einwand vor, und glaubt den Worten, die seine brüchige Stimme spricht. „Vor Tagen bereits, ehrlich!“
„Nein, das haben Sie nicht. Es wäre wünschenswert gewesen, doch Sie besitzen immer noch Hoffnung. Dieser letzte Schritt muss getan werden, um das Werk zu vervollständigen. Da sind wir und der Monsieur uns einig. Und wenn Sie tief in sich hören – wenn Sie das wirklich schaffen sollten, Tom – wird Ihnen von dort dieselbe Erkenntnis entgegen strahlen.“
Tom bringt ein Nicken zustande.
„Zuerst werden wir Ihnen die Zunge entfernen, mit all ihren Versprechungen von einem Leben in Zufriedenheit, die sie Ihnen selbst gegeben hat. Dann das Herz, mit all seinen bohrenden Gefühlen, die doch nie erwidert wurden. Zu guter Letzt das Gehirn.“ Während der Diener zu ihm spricht, nimmt Tom deutlich die Geräusche unter seinem Bett wahr. Es sind die Kolonien von Käfern, die dort umtriebig werden. Letzte Nacht sind sie aufgetaucht, wie aus dem Nichts. Zeichen der Verdammnis, der Entsorgung eines Leichnams. Was auch immer dieser Leichnam zuvor gewesen war, ob ein Mensch oder Hoffnung, die wie ein Lebewesen dem Verenden preisgegeben war.
„Sie konnten es niemals schaffen, Tom. Bald ist es vollbracht und Sie werden akzeptieren!“