Mitglied
- Beitritt
- 19.12.2004
- Beiträge
- 29
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Resozialisierung
Heute ist der Tag seiner Entlassung.
Voll gepackt wartet Matthew geduldig in der Schleuse.
Durch den Stacheldrahtzaun blickt er auf eine Skulptur.
Es ist ein Engel, der mit seinen Flügeln ein Kind umhüllt.
Plötzlich ertönt eine Sirene und ein Stein trifft Matthew am Rücken.
Reflexartig dreht sich Matthew in die Richtung aus der der Stein geworfen wurde.
Im Innenhof wehrt sich ein kleiner, kahlköpfiger, bulliger Gefangener gegen die Vollzugsbeamten.
„Erinnere dich an meine Worte, du verdammter Kinderficker!“, flucht er mit aller Kraft und reißt einen Beamten zu Boden. In diesem Moment öffnet sich die Schleuse.
Matthew beobachtet den gewalttätigen Gefangenen, der einen weiteren Beamten zu Boden schleudert und erinnert sich an die schlaflosen Nächte. Nächte voller Prügel und Verletzung seines Scham- und Ehrgefühls. Ein Beamter fordert den scheinbar zu Stein gewordenen Matthew auf die Schleuse zu verlassen. Bevor er das Tor, bestehend aus zwei Überwachungstürmen, verlässt, prägt er sich das Bild der Skulptur ein.
Als die Schleuse hinter ihm sich schließt, steht er mitten in der Wüste.
In der Stadt angekommen, sucht er sich am späten Abend ein billiges Hotel.
Er zieht die roten, mottenzerfressenden Vorhänge zu, bedient sich an der Hotelbar mit einem Bier und legt sich auf das Bett.
Die Matratze ist vergilbt und trägt einen muffigen Geruch an sich.
Mit dem Versuch das zuvor Erlebte zu vergessen, schaltet er sich durch das zahlreichen Fernsehprogramme. Der Empfang gleicht dem Bett – einfach nur schäbig. Nachdem er sein Bier ausgetrunken hat, beschließt er sich schlafen zu legen.
Im Traum erscheint ihm die Skulptur.
Bei der näheren Betrachtung fällt ihm auf, dass in dem Sockel der Skulptur eine Inschrift zu lesen ist. „Die, die Menschen ihrer Kindheit berauben, sollen nicht mehr Herr ihres Lebens werden!“
Dieser Satz versetzt ihn in einen Alptraum und alles ist dunkel.
Er hört auf einmal Mitinsassen mit Tassen an den Zellengittern rattern.
Schritte, die erst fern zu sein scheinen, werden immer lauter und halten vor seiner Zelle. Das Rattern hört auf und es folgt absolute Stille. Nun kann er das leise Klirren eines Schlüsselbundes wahrnehmen. Man kann die Panik in seinem Gesichtausdruck sehen und sein Puls fängt an zu rasen.
Plötzlich fällt ein Schlüssel in das Schloss seiner Zelle und sein Atem wird schwer wie Blei. Als die Zellentür quietschend geöffnet wird, wacht er schweißgebadet auf. Das Letzte an das er sich im Traum erinnern kann, sind die Worte des Gefangenen, der ihn heimsuchen wollte.
„Die, die Menschen ihrer Kindheit berauben, sollen nicht mehr Herr ihres Lebens werden!“
Von der schlaflosen Nacht sichtlich gekennzeichnet, bezahlt er die Hotelrechnung und schlendert durch die Straßen. Um wach zu werden, steht er an einem Kiosk und bestellt sich einen Kaffee. Mit dem Kaffee in der Hand wartet er an der Bushaltestelle auf den nächsten Bus. Eine dunkelhäutige, schlankgebaute junge Dame mit bunten Rastazöpfen unterhält sich aufbrausend mit ihrer Freundin. Aufmerksam lauscht er der Unterhaltung. „Neulich ist wieder ein Sexualstraftäter freigelassen worden. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Wie kann man solche Leute nur frei in der Welt herumlaufen lassen?“
Sie steigert sich weiter in ihre Wut: „Meine Cousine kann nicht mehr schlafen. Sie zieht sich die Decke aus Angst über den Kopf. Sie wendet sich von jedem ab." Ihre Freundin nickt zustimmend und sie fährt weiter fort: “ Wenn du mich fragst, sollte man anstatt einer Freiheitsstrafe den Kerlen den Schwanz abschneiden!“ Nach dieser Aussage zieht sich sein Kehlkopf sichtbar zurück, woraufhin die Farbige ihn auf seine Reaktion anspricht: “Sie schauen so verdutzt! Was hielten Sie denn für gerecht, wenn ihre Kinder sexuell misshandelt würden?“ Die Frauen wartenauf eine Antwort. Allerdings denkt er nur an seine schlimme Zeit im Knast zurück, aber nicht an die Kinder, die ihm zu Opfer wurden.
In diesem Moment hält der Bus und öffnet zu seiner Erlösung die Türen.
Ohne zu antworten setzt er sich an einen Fensterplatz.
Beim Fahren lässt er seinen Blick auf einen Bauzaun schweifen.
Langsam fängt er an zu dösen. Dann liest er das Werbeplakat eines Snackhersteller:“ Wir kriegen Euch – alle!“ In Gedanken assoziiert er die Werbung mit seiner Zeit im Knast und mit der Reaktion der Mitbürger und denkt sich dabei was die Menschen eigentlich wollen, denn er hat doch seine Strafe büßen müssen.
Die Busfahrt endet in seinem Block.
Ziel seines Besuches ist es seine letzten privaten Sachen bei seiner ehemaligen Lebensgefährtin zu holen. Mit dem Gefühl unter Beobachtung zu stehen, läuft er in sich verkrampft durch den Stadtpark. Auf seinem Weg begegnet er glücklichen Paaren, älteren Spaziergängern und - läuft bei einem Kinderspielplatz vorbei. In der Zeit gedanklich zurückversetzt bleibt er verdeckt hinter den Büschen stehen und beobachtet regungslos die Kinder.
Die Minuten scheinen wie Sekunden im Flug zu verstreichen bis sich seine Ausgangslage unverhofft ändert. „Was machen Sie denn da?“ hört er eine Stimme aus dem Hintergrund fragen.
Von der Frage überrascht, dreht er sich zum Gehweg um und sieht eine lateinamerikanisch aussehende Frau mit dunklen Haaren, die schützend ihren Sohn kniend in den Armen hält. Sie sehen wie die Skulptur aus.
Allmählich breitet sich Panik in ihm aus.
Stotternd versucht er die Situation zu erklären:“ Ich,…ähhh, ich… wollte nur.“
Als er aus dem Schatten in das Licht tritt, sieht die Frau sein Gesicht und erkennt den Mann wieder. Es ist der Mann, der auf den Steckbriefen stand.
Der Mann, der Kinder vergewaltigt hat und nun wieder auf freiem Fuß ist.
Wie vom Teufel verfolgt, packt sie ihren Sohn und rennt auf einen in der Nähe gelegenen Basketballplatz. Noch ahnungslos bleibt er stehen und beobachtet die Frau, die bei einer Bande steht und in seine Richtung zeigt.
Das laute Dröhnen der Musik verstummt und Baseballschläger kommen zum Vorschein. Ein kleiner, kahlköpfiger, lateinamerikanisch aussehender Mann ruft ihm zu:“ Hey Bastard! Jetzt bist du fällig.“
Diese Worte sind für ihn das Startsignal schnell wegzurennen.
Die Szene gleicht einer Treibjagd angetrieben von Hass und Zorn.
Einziger Zufluchtsort ist eine alte Schuhfabrik, in der er verzweifelt Schutz sucht. Hier wurden Kinder seine Opfer und nun wechseln die Rollen.
Denn die Kinder sind erwachsen geworden und in Anbetracht der Menge kommt sich Matthew wie ein kleiner Junge vor.
Das spärlich einfallende Licht erschwert ihm den Weg und er fällt des Öfteren auf den verstaubten Boden. Reifenquietschen tönt durch die Eingangshalle bis in das Untergeschoss, indem er sich versteckt hält. Er kann das Knarren der Bretter im Erdgeschoss hören. Mit Baseballschlägern wird gegen Wände und auf den Boden geschlagen. Dabei fällt ihm Staub auf den Kopf und auf die leeren Schuhkartons. Was folgt, ist absolute Stille. Leise und geduldig suchen Hände nach einer Falltür, die ins Untergeschoss führt.
Das Öffnen der Tür verursacht ein Quietschen der verrosteten Scharniere.
Durch eine kleine Lücke in seiner Festung aus Schuhkartons, beobachtet er die Treppe. Das spärlich einfallende Licht lässt ihn nur die Umrisse von Personen erkennen. Die Personen tragen Baseballschläger horizontal gestreckt hinter dem Kopf und gehen die Treppe herunter.
Als die Tür geschlossen wird, ist alles dunkel.