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RIP Lounge Saint-Tropez
„Dolore! Ich möchte bitte, dass Sie es Dolore aussprechen! Ist das denn so schwer?“
Du dumme Sau! Wie sprichst du mit mir?
„Ja, gnädiges Fräulein, ich werde mein Bestes geben.“
„Ich werde heute Abend im Clob erwartet und brauche noch die richtige Garderobe!“
Was soll das heißen, du Fotze, Clob? Kannst du nicht Club sagen, wie jeder andere auch?
„Ja, Madame Dolore, da sind Sie bei uns genau richtig, wir haben die neuesten Kollektionen, frisch aus Pari eingetroffen.“
„Pari, was soll das sein?“ Das Sprechen fällt ihr noch schwer, zu frisch sind die Narben an den bockwurstähnlich aufgespritzten Lippen.
„Paris, Madame. Die Stadt der Prêt-à-porter und l`amour!“
„Haben Sie auch Pelz im Angebot?“
„Aber selbstverständlich, Madame Dolore! Frisch geerntet und bearbeitet von Jean Jaque Blonques, eingefärbt mit Himbeerfondant und ...!“
„Ja, zeigen Sie schon her!“ Ich reiß dir deine Visage in Stücke, du Drecksau!
Mein Name ist Raffaele und ich bin Verkäufer im Chez nous avec l`oeuf, einem der teuersten und angesagtesten Läden dieser Stadt, die außer teurer und angesagter Läden nicht wirklich viel zu bieten hat.
Wie Sie vielleicht bemerkt haben, ist es für mich nicht einfach mit dieser Art Klientel umzugehen, zu sehr verabscheue ich sie und ihre Lebensweise.
Sie werden sich jetzt fragen:
„Warum arbeitet der Raffaele denn dann für diese Leute?“
Darauf kann ich nur antworten:
„Manchmal hat man halt keine Wahl.“
Jetzt steht diese Frau vor mir, deren Plastikvisage in keinem Verhältnis zu ihren knochigen, mit Altersflecken übersäten Händen steht und legt genau dieses Verhalten an den Tag, das mich über die Jahre zu dem gemacht hat, was ich heute bin. Ein Wrack, aber gut im Geschäft.
Kehren wir nun aber zurück zum Geschehen.
„Ja, zeigen Sie schon her!“ Ich reiß dir deine Visage in Stücke, du Drecksau!
„Ich reiß dir deine Visage in Stücke du Drecksau...!“
Meine Bewegung erstarrt. Das war’s dann wohl.
Ich meine, eine Regung in ihren Wurstlippenwinkeln beobachten zu können, auch leichte Zuckungen zeigen sich an den Rändern der Botox-gebügelten Stirn.
„Hol mir auf der Stelle deinen Geschäftsführer, du Wicht!“, zischt sie durch ihre gebleichten Zähne.
Cherry hat sich heute frei genommen, ich bin alleine im Laden.
„Wenn Sie mir bitte folgen möchten.“
Ich führe sie vorbei an den Kabinen, Regalen und Auslagen in den Bereich der Geschäftsführung, wo die V.I.P. Kunden versorgt werden.
„Kann ich Ihnen eine Glas Chateau Flute anbieten, während Sie hier warten?“ Ich presse sie in einen der antiken Sessel, die unsere Kundenlounge zieren.
„Das ist das Mindeste, was du tun kannst, Arschloch!“
Ich öffne die Flasche mit dem gewohnt eleganten Plopp, setze an und leere sie zur Hälfte.
„Hey, was soll ...“
Sprechen fällt anscheinend schwer, wenn sich die eigenen Mandeln auf dem Grund einer Champagnerflasche befinden.
„So, der 65er Flute für die Dame.“
Ich ziehe die Flasche mit einem Ruck wieder aus ihrem Hals und stelle zu meinem Vergnügen fest, dass ihre Lippen nicht gehalten haben.
„Das ist aber keine gute Arbeit, Gnädigste!“ Ich streife die bepinselten Silikonwürste vom Flaschenhals und sie gesellen sich freundschaftlich zu dem blutigen Zahnbruch auf dem handgewebten Perser. Sie stößt gurgelnde Laute aus, die mit Artikulation nicht mehr wirklich viel zu tun haben.
„Das sieht nicht gut aus, wirklich nicht.“
Ihre Augen haben sich anscheinend im Schreck zu plötzlich geweitet, ihre Lider sehen beschädigt aus.
„Ich denke, ich sollte sie dir abnehmen, Dolores. Das kann ja keiner mit ansehen.“ Ich suche nach der Schere, während sie benommen versucht, aus dem Sessel zu entkommen, was ihre weichen alten Knie zu verhindern wissen. Sie versucht es auf allen Vieren, kommt aber nicht weit.
„Dolores, so geht das nicht, so kann ich einfach nicht arbeiten!“ Ich trete ihr mit voller Wucht ins Gesicht, was ihren Hals eine neue Stellung lehrt. Bei dem entstandenen Anblick muss ich kichern.
„Operation geglückt, Dolores. Du kannst jetzt ohne Spiegel die Flecken auf deinem Rücken zählen!“
Sie erbricht blutigen Schleim auf ihre Schulterblätter, bevor ihre Knochen nachgeben und sie in sich zusammensackt. Der Rest ist Routine ...
Das Läuten an der Tür reißt mich aus meiner Arbeit.
„Ich komme!“
Am Tresen steht mein bester Kunde. Sein riesiger, haariger Kopf stößt fast an die Decke des Ladens, sein markanter Duft erfüllt den Raum und seine Stimme,
„Ist er fertig?“, lässt das Inventar erzittern.
„Ja, so gut wie. Es gab diesmal einige Probleme mit dem Material. Zuviel Synthetik!
Wir können aber mal eben anpassen, nur die Kapuze muss ich noch anarbeiten.“
„Ja, machen Sie schnell bitte. Ich brauche ihn, es kann jeder Zeit anfangen zu regnen!“
Ich eile in die Werkstatt, um den Mantel zu holen.
„So, hier haben wir das gute Stück, Modell Dolore. Absolut wasserdicht, saubere Verarbeitung, eine kräftige Tasche mit Lippensaum zum Schutz vor Regen, Kollagen imprägniert und nahezu faltenfrei. Lediglich im Gesäßteil wurde bei der Preproduktion ein bisschen gepfuscht, da können wir Ihnen preislich aber etwas entgegenkommen.“
„Ja, sehr schön, Rafaelle! Wie immer gute Arbeit!“ Beim Blick auf die hohle Visage hält er kurz inne.
„Die Verarbeitung der Kapuze gefällt mir allerdings nicht so sehr! Lässt sich da was machen?“
„Tut mir Leid, das ist die Zucht, da kann ich nichts dran ändern!“
Mein Lieblingskunde zögert, dann stimmt er doch zu, mir fällt ein Stein vom Herzen.
„Bon, Morgen können Sie das Stück abholen lassen. Es wird zu Ihrer vollsten Zufriedenheit sein.“
„Da bin ich mir ganz sicher, Rafaelle."
„Beehren Sie uns bald wieder, Monsieur Vison!“
Ich mache mich eilig an die Bearbeitung der Kapuze. Morgen früh steht Cherry wieder hier im Laden und sie sollte besser nichts von meinen kleinen Nebengeschäften erfahren ...
Sie fragen, ob ich denn keine Gewissensbisse habe ... Ich sage, nein.
Warum auch?
T.d.M. Juni: Geld bewegt die Welt