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Rocky-Docky

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31.05.2006
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Rocky-Docky

Eine Songgeschichte​

Für C.A. und M.L. in memoriam Oberwittelsbach.​

Ich sitze am Tisch in der Küche, lese die Zeitung und lasse das Radio laufen. Ich höre kaum hin, es sind nur wieder alte Schlager und ich bin schon versucht umzuschalten auf einen anderen Sender. Doch da ist diese uralte Lied Das alte Haus von Rocky-Docky. Und ich erinnere mich an Herrn M. Ich habe lange nicht mehr an ihn gedacht, doch jetzt fällt er mir wieder ein.

Er hat es einmal gesungen, bei einem Vortragsabend in der Schule. Mit einem anderem Text, kabarettistisch. Es war lustig. Er war nur zwei Jahre mein Deutschlehrer, und im letzten Jahr, bevor er die Schule verließ, mein Sozialkundelehrer.
Er war wohl ein wenig so etwas wie der Schulclown. Weder die Schüler noch seine Lehrer-Kollegen nahmen ihn ernst. Alle machten sich über ihn lustig, man erzählte sich witzige Geschichten über ihn, seine Ungeschicklichkeit, seine Kurzsichtigkeit und über vieles andere. Er war eigentlich groß gewachsen und wäre rein äußerlich sicher zur Respektsperson geworden, wenn er nicht derart dicke Brillengläser gehabt hätte und nicht ständig einen blau-weiß gemusterten Pullover getragen hätte. Immer den gleichen Pullover. Er musste mehrere davon besessen haben, denn er war nie schmutzig oder stank.
Alle Schüler waren überzeugt, ihn auf den Arm nehmen zu können. Bei ihm schrieben alle ab und sagten vor, auch die, die es sich sonst nicht trauten, denn er bemerkte nichts. Wenn ich jetzt zurückdenke, weiß ich plötzlich, dass es wohl anders war. Seine dicken Brillengläser, denke ich, durch die er so blind wirkt, dass manche gesagt hatten, wenn die Fenster genauso rot angestrichen wären wie die Türen in unserer Schule, ginge er durch die hinaus, waren deshalb so dick, damit nur jeder glauben sollte, er sei so blind wie ein Maulwurf. Als Tarnung sozusagen. Ich glaube, er sah genau, wenn jemand abschrieb und hörte genau, wenn jemand vorsagte, aber es war ihm völlig gleichgültig. Überhaupt wirkte er meistens so, als sei ihm der ganze Unterricht ziemlich egal, das sinnlose Eintrichtern von Wissen in Köpfe, die dieses Wissen nach der notwendigen Reproduktion in Klassenarbeiten und Prüfungen, wieder vergaßen. So als mache er das alles nur zum Geldverdienen, um nebenbei seinen eigentlichen Leidenschaften nachzugehen, dem Singen, Theater organisieren, klassische Musik. Andererseits, er unterrichtete wie die anderen, denen alles egal war, denen vor allem die Schüler egal waren, die lustlos und langweilig ihren Stoff herunterlasen. Viele fanden Herrn M. langweilig, aber das waren meist auch die, die außer Sport jedes Fach langweilig fanden. Er hatte den Unterricht nicht irgendwie anders gestaltet, er zog keine Entertainershow ab, dafür waren andere Lehrer zuständig.
Er war einfach anders. Er machte seinen Unterricht und er machte ihn ganz gut, aber es war ihm eben ziemlich egal, ob man aufpasste oder nicht. Und seine Klassenarbeiten waren nie allzu schwer. Er unterrichtete vier Fächer. Es gab bei uns keinen Lehrer, der vier Fächer unterrichtete, die er ja auch studiert gehabt haben musste. Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Erdkunde. Und er wusste alles in seinen Fachgebieten, da konnte man sicher sein. Obwohl er promoviert war, ging er mit seinem Titel nicht hausieren, im Gegenteil, kaum jemand wusste davon. Ich glaube, nicht einmal alle Lehrer wussten es, die meisten mochten ihn ja auch nicht. Aber meine wichtigsten Erinnerungen an Herrn M. betreffen etwas anderes.
In dem einen Jahr, in dem wir ihn in Deutsch hatten, das war in der neunten oder zehnten Klasse, fuhren wir einfach so ein Wochenende aufs Land, in ein kleines altes Pfarrhaus oder so etwas, niemand außer uns, nur unsere Klasse und Herr M. Wir machten das Wochenende durch, von Freitag Nachmittag bis Sonntag Mittag, mit ihm. Und das hatte gar nichts mit der Schule zu tun. Es war weder ein Studienwochenende noch eine offizielle Klassenfahrt. Wir waren einfach nur so zusammen. Wir taten nicht viel, kochten zusammen, tranken, hörten Musik, alberten herum, diskutierten, und was man mit fünfzehn, sechzehn so tut. Eigentlich zwei Tage Party. Nur eines hatte ein bisschen was mit Schule zu tun, aber auch das war freiwillig. Wir lasen, d. h. ein paar von uns, Kleists Zerbrochenen Krug, halbszenisch sozusagen. Es gab da diesen großen Wohnraum im zweiten Stock, und der Ofen darin sah aus, als ob er genau aus Adams Stube stammte. Ich war Licht, und ich denke heute noch daran. Er war Walter, glaube ich. Es regnete viel an diesem Wochenende, und ich ging mit ihm und meinem besten Freund spazieren. Es war Herbst und überall im Wald lagen die feuchten Blätter, und er rezitierte uns ein langes Gedicht von sich, einfach so nebenbei, ganz bescheiden. Ich weiß nichts mehr von dem Gedicht, nur noch, dass er den Turnvaterjahnspruch frisch, fromm, fröhlich, frei darin persifliert hatte. Aber ich erinnere mich noch an diesen Spaziergang durch den regennassen Herbstwald.
Am Sonntag hatten wir dann einen kleinen Gottesdienst. Und weil niemand singen wollte, sang nur er, und er sang ziemlich gut. Es war toll dieses Wochenende, und ich glaube, die meisten dachten so, aber nur wenige hätten es zugegeben.
Herr M. ging mit uns ins Kino. Ohne dass der Film irgendetwas mit dem Unterricht zu tun hatte. Einfach so. Kein Lehrer tat so etwas.
Das klingt jetzt alles so, als sei er der perfekte Lehrer gewesen, aber das war er nicht. Er verlor Klassenarbeiten oder Schulhefte, und das war unangenehm zumindest für die, die eine gute Arbeit geschrieben hatten, andererseits verlor er auch Tadel oder vergaß, dass er welche ausstellen wollte.
In meinem vorletzten Schuljahr, sein letztes an unserer Schule, hatten wir Sozialkunde bei ihm, am Nachmittag, und wir, besonders ich, waren faul und ziemlich unverschämt und blödelten nur herum. Manchmal wurde er sauer deswegen, aber selten, meistens war es ihm egal. Ich hatte trotzdem gute Noten.
Aber Herr M. verließ die Schule und deshalb hatte ich meine mündliche Abiturprüfung bei Herrn A., dem Sportlehrer, der aber auch Sozialkunde gab. Ein Arschloch, das seinen Sport-Assen in der Kolleg-Stufe gute Noten in Sozialkunde gab, wenn sie auch in Sport gut waren, der dem Kreisabgeordneten beinahe in den Arsch gekrochen war, als wir zur Landtagsbesichtigung fuhren und der mich nicht mochte, weil ich andere politische Ansichten hatte.
Herr M. dagegen, der CSU wählte und auch im Gemeinderat saß, sagte einmal zu mir: „Ich weiß ja, dass sie dem Marxismus nahestehen.“ Das störte ihn aber gar nicht, meine Noten in Sozialkunde waren trotzdem gut, einfach weil er wusste, dass ich hier Ahnung hatte. Er war fair und man hatte mit ihm diskutieren können.
Aber dann ging Herr M. weg, und man hatte gar nichts mehr von ihm mitbekommen und man hatte sich nicht von ihm verabschieden können. Nach den Ferien war er einfach nicht mehr da. Und ich glaube, außer mir vermissten ihn nur ein paar, die andern Lehrer schon gar nicht. Uns wurde erst bewusst, was für ein guter Lehrer er war, als er fort war.
Die Schule war keine übermäßig tolle Zeit, auch wenn ich selbst nicht viel gelitten habe. Aber ich habe auch nicht allzuviel Nutzen daraus gezogen, ziemlich viel war für die Katz im Gymnasium, Physik und Chemie und Mathe und Sport, aber durch Herrn M. wurde das Gymnasium ein bisschen erträglicher.
Herr M. ging in den Osten, an irgendein Gymnasium in Dresden oder Leipzig, als Direktor, um dort Aufbauarbeit zu leisten, kurz nach der Wende. Danach hörte ich nichts mehr von ihm. Ich machte Abitur, studierte, dachte nicht mehr an ihn, wie ich auch seit dem Abitur überhaupt nicht mehr an die Schule dachte.

Ich schalte das Radio aus. Eigentlich könnte ich ja mal recherchieren, wo er jetzt lebt und ihn einfach anrufen, denke ich. - Ein halbes Jahr später, als ich gerade an meiner Steuererklärung sitze, läutet das Telefon. Mutter ist dran.
„Du hast doch den Herrn M. gehabt, in der Schule, oder?“ -
„Ja“, sage ich. „Warum?“ -
„Der ist vor einer Woche gestorben, Herzinfarkt, sagt man.“ -
„Oh.“ -
„Die Beerdigung war am Mittwoch. Wir haben es erst heute gehört.“ -
„Danke.“
Ich verabschiede mich und lege auf. Sie haben ihn auf dem Gewissen, denke ich. Wir haben ihn auf dem Gewissen. Die Lehrer, die Schüler, die ganze Mühle. Scheiße, jetzt ist er tot, denke ich, und ich habe ihn eigentlich gar nicht richtig gekannt.

 
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Hallo Platoniker,

mir gefällt der ruhige Stil, in dem Du das Alltägliche (be)schreibst, eine angenehme Retrospektive. Ich hab mich erinnert an Lesebuchgeschichten von Wolf Dietrich Schnurre, die eine ebebfalls ruhige, fliessende Erzählweise haben, keine plakativen Effekte, keine grellen Farben. Das gefällt mir nicht immer, da es schnell langweilig werden kann, doch Deine Geschichte finde ich einfach schön, angenehm.

Wobei ich nicht vollkommen kritiklos bleiben kann, durch die Reduktion des beschriebenen Lehrers auf ein formelhaftes "Herr M." bringst Du eine arg kühle Distanz rein, der Lehrer wird erkennbar, auch in seiner Widersprüchlichkeit und in der widersprüchlichen Wahrnehmung auch vom Ich-Erzähler, doch es bleibt damit halt _wirklich_ distanziert.
Das finde ich einerseits literarisch interessant, spiegelt es doch die innere Distanz des Ich-Erzählers zu "Herr M.", doch gleichzeitig untermauert es die _persönliche_ Alltäglichkeit, erschwert einen empathischen Zugang (mir zumindest :))

Und diese Kleinigkeit noch :

Und weil niemand singen wollte, sang nur er gesungen, und er sang ziemlich gut.

Gelungenes Stück ruhiger Erzählkunst, für solche Geschichten mag ich diese Rubrik.

Grüße,
C. Seltsem

 

Hi C. Seltsem,

freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat.
Der kleine Fehler blieb noch stehen von einer Änderung in eine andere Zeitform, die Geschichte ist schon etwas älter.
Die Distanz wollte ich drin haben, denn der Ich-Erzähler sieht ja diese Distanz, er spürt sie immer noch.
Eine Distanz, die der Lehrer vielleicht aufheben wollte, die aber die Schüler nie überschreiten wollten.

liebe Grüße
Platoniker

 

Hallo Platoniker,

mir hat deine Geschichte auch gut gefallen und wie Seltsem schon schrieb, ist die Distanz zwischen Lehrer u. Schüler gut rübergekommen. Was für mich ebenfalls rüber kommt ist unser Schulsystem=Wissensfabrik, es wird gelehrt und gelernt nach Schema F wie schon Anno dazumal, ohne jegliche Fantasie, geschweige denn idividuelle Talentförderung. Und wie Herr M mit dem Wochenende bewiesen hat, kann man Menschen eigentlich ganz einfach für Wissen begeistern. Auch hier finde ich gut wie du das beschrieben hast.

Liebe Grüße
Katinka

 
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Hallo Platoniker,

erstmal drei Dinge, die mir ins Auge fielen:

Zitat: Ich war nur zwei Jahre mein Deutschlehrer, und im letzten Jahr, bevor er die Schule verließ, mein Sozialkundelehrer. Du meinst Er, oder?

Zitat: Bei ihm schrieben alle ab und sagten ein Ungewöhnliche Formulierung. Meinst du damit vorsagen? Ist das ein regionaler Ausdruck?

Zitat: Dass klingt jetzt alles so, als sei er der perfekte Lehrer gewesen oder so, aber das war er nicht Dieses "oder so" verwendest du auch noch an anderer Stelle. Gewolltes Stilmittel? Hier stört es ein wenig, weil du eine "so"-Wiederholung produzierst.

Ingesamt finde ich die Geschichte sehr ansprechend, und sie löste Erinnerungen aus an die eigene Schulzeit, an die feuerzangenbowlesken Lehrer, mit denen man es hin und wieder zu tun bekam, die etwas anders waren, und sich viel länger und intensiver in unserer Erinnerung halten, als die "normalen". Ich kannte auch einen Herrn M. Bei mir hieß er Herr Möckel. Das Herr M. stört mich ein wenig, er hätte das Recht auf einen Namen, und wenn es auch ein falscher wäre. Es würde ihn ein wenig mehr mit Persönlichkeit kleiden. Gut, es gibt ja auch Herrn K.

An manchen Stellen erzählst du betont umgangssprachlich, ich habe das als Stilmittel gewertet und die ganze Geschichte so angenommen, als würdest du sie mir einfach so erzählen, weil dich das Lied gerade daran erinnerte. Einfach so aus dieser Erinnerung heraus. So funktionieren solche Geschichte. Unterhaltsam und als Auslöser für eigenen Gedanken geeignet.

Grüße von Rick

 

Hallo Katinka,

beim Überarbeiten der alten Geschichte heute nachmittag ist mir genau das in den Sinn gekommen, was du über unser Schulsystem schreibst und was mich eigentlich schon seit Jahren politisch umtreibt. Als ich die Geschichte vor etwa zehn Jahren aufgeschrieben habe, hatte ich mir diese Problematik rational noch gar nicht so vergegenwärtigt, aber scheinbar dennoch unbewusst in der Geschichte bereits angelegt.

Es freut mich, dass es viele Leute gibt, die einen ähnlichen Blick auf die Problematik haben. Vielleicht ändert sich ja doch noch irgendwann etwas.

Hallo Rick,

danke für deine Hinweise. Es muss natürlich "Er" heißen.

"Einsagen" ist tatsächlich regional gebräuchlich, aber ich habe s jetzt geändert, denn "vorsagen" ist allgemeine bekannt, denke ich.

Das "oder so" habe ich getilgt, es ist ein Relikt einer älteren Fassung, die noch stärker von einer jugendlichen Sprache geprägt war.

Den abgekürzten Namen wollte ich bewusst so halten, um die Distanz größer zu halten. Außerdem erfinde ich sehr ungern Nachnamen. Sie gefallen mir eigentlich nie und passen nie zu den Personen, die ich im Kopf habe, seien diese nun rein fiktiv und nach einem realen Vorbild.

Das leicht Umgangssprachliche ist schon gewollt, denn es soll eine Art inneres Selbstgespräch sein, das man ja selten in gestochenem Hochdeutsch mit sich führt. Insofern hast du das ganz richtig erkannt. Freut mich, dass es dir gefällt und das dir auch die Geschichte gefallen hat. Sie ist von meinen alten kürzeren Sachen noch die beste.

Es grüßt euch der
Platoniker

der aus einer WM-trunkenen Innenstadt ins sichere Dichterzimmer zurückgekehrt ist.

 

Hallo Platoniker

Die Geschichte gefällt mir auch ganz gut, und eigentlich haben die andere schon alles gesagt, was auch mir aufgefallen ist. Nur eine kleine Sache noch: Die Mutter sagt am Telefon, die Beerdigung war am Mittwoch, und der Erzähler sagt, er werde nicht hingehen. Da er sicherlich keine Zeitreisen machen kann, würde ich das an deiner Stelle noch ändern. :-)

Liebe Grüße,
aneika

 

hallo aneika,

danke für Lob und Hinweis. Das war noch eine alte Erzählschicht. Ist jetzt getilgt.

lieber Gruß
Platoniker

 

Hallo zusammen,

habe eine winzige Änderung an der Geschichte vorgenommen (neuer Untertitel), da ich sie in eine Folge von Geschichten einreihen möchte, die ich nach und nach posten möchte. Es handelt sich um Geschichten, die im Zusammenhang mit bestimmten Songs stehen und ich nenne sie deshalb Songgeschichten.

Grüße
Platoniker

 

Hallo Platoniker!

»Eine Songgeschichte« – Das würde ich streichen.
Zumindest auf mich hat es erst etwas abschreckend gewirkt. Vielleicht, weil ich mir unter einer »Songgeschichte« eher etwas recht Langweiliges vorgestellt habe, bzw. eine Geschichte, die von sich aus nicht so viel hergibt, sodaß sie eine Aufwertung durch den Song braucht, oder eben eine Geschichte, in der der Song quasi eine Hauptrolle übernimmt. Letzteres tut er zwar in gewissem Sinn auch, indem er eben das Jetzt mit dem Damals verbindet und die Erinnerung auslöst, aber die Geschichte selbst ist soviel mehr, daß der Stellenwert des Songs doch deutlich in den Hintergrund tritt. Sie ist so tiefgängig, daß Du sie in meinen Augen durch die Bezeichnung »Songgeschichte« extrem abwertest. Ich hätte sie nicht gelesen, wenn ich nicht gezielt etwas von Dir hätte lesen wollen.
Dasselbe gilt natürlich für den Titel: Er wertet in meinen Augen die Geschichte ab. Nie würde ich hinter dem Titel einen derartigen Tiefgang vermuten, und hätte ich nicht gezielt in Deine Geschichtenliste geschaut, hätte ich sie wohl nie angeklickt.

Jedenfalls hat mir die Geschichte selbst vom Inhaltlichen her schon sehr gefallen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich es auch vor mir herschiebe, den Kontakt zu jemandem zu suchen, den ich vor vielen Jahren verloren habe. So betrachte ich die Geschichte als vom Schicksal geschickten Tritt in den Hintern …
Auch die Betrachtungen des Lehrers aus damaliger und heutiger Sicht finde ich sehr schön, auch die sprechen mich sehr an. Das späte Erkennen seines Engagements, und wie viel er den Schülern damit gegeben hat, die ihm ihren Dank damals aber noch nicht zeigen konnten, weil ihnen noch gar nicht bewußt war, wie wertvoll die Zeit war, und daß es gar nicht so selbstverständlich ist, daß man so aktive Lehrer hat (ich hatte auch zwei Musterexemplare davon, die gemeinsam mit uns sehr viel gemacht und diskutiert haben), und die auch Meinungen gelten lassen können, die nicht der eigenen entsprechen, ohne den Schüler deshalb schlechter zu benoten. So eine hatte ich auch – die war gleich die Schwester des Parteiobmanns der »gegnerischen« Partei, und ich hatte sie in Geschichte …
Schade, daß Dein Protagonist nicht mehr die Chance hat, seinem Lehrer zu sagen, wie sehr er die mit ihm verbrachte Zeit heute zu schätzen weiß. Ich glaube aber, der Lehrer war sich sehr bewußt, was er den Schülern gegeben hat, denn aus dem Grund hat er es ja gemacht. Und genauso hat er bestimmt auch gewußt, daß viele, oder zumindest manche, sich später drüber Gedanken machen werden, und in denen lebt er ja – durch das, was er ihnen an Erfahrungen ins Leben mitgegeben hat – noch immer weiter. :)

Was die Formulierungen angeht, solltest Du meiner Meinung nach aber noch ein bisschen basteln. Etwa an den Satzanfängen – markiere sie Dir mal und lies sie, oder schreib sie auf einen Zettel untereinander. Ich sitze, Ich höre, Doch …, Und …, Ich habe, Er hat, Mit …, Es war, Er war, Er war, usw. Daraus ergeben sich als Folge dann auch viele gleich klingende Satzkonstruktionen.

In meinem vorletzten Schuljahr, sein letztes an unserer Schule, hatten wir Sozialkunde bei ihm, am Nachmittag, und wir, besonders ich, waren faul und ziemlich unverschämt und blödelten nur herum.
Sätze wie diesen würde ich vereinfachen, evtl. zwei draus machen, und unnötige Informationen streichen. Ist es zum Beispiel wichtig, ob der Unterricht vormittags oder nachmittags war? Hätte das einen Unterschied in der Aufmerksamkeit der Schüler gemacht?
Informationen wie »waren … ziemlich unverschämt« wären konkret ausgeführt interessanter, bildhafter.

Aber dann ging Herr M. weg, und man hatte gar nichts mehr von ihm mitbekommen und man hatte sich nicht von ihm verabschieden können.
Wieso »man«? Das zweite »man hatte« kannst Du auf jeden Fall streichen.

»die dieses Wissen nach der notwendigen Reproduktion in Klassenarbeiten und Prüfungen, wieder vergassen.«
– vergaßen

»um nebenbei seinen eigentlichen Leidenschaften nachzugehen, dem Singen, Theater organisieren, klassische Musik.«
– »klassische Musik« ist keine Tätigkeit, vielleicht »klassische Musik zu hören/spielen«?

»In dem einem Jahr,«
– dem einen Jahr

»Wir machten das Wochenende durch, von Freitag nachmittag bis Sonntag mittag,«
Nachmittag, Mittag

»und der Ofen darin sah aus wie wenn er genau aus Adams Stube stammte.«
– sah aus,
– besser als die »wie wenn«-Formulierung: »sah aus, als würde er genau aus Adams Stube stammen« oder: »als stammte er genau aus Adams Stube«

»Dass klingt jetzt alles so, als sei er der perfekte Lehrer gewesen,«
– Das

»und das war unangenehm zumindest für die, die eine gute Arbeit geschrieben hatten, andererseits verlor er auch Tadel oder vergass,«
– unangenehm, zumindest
– vergaß

»ein Arschloch, der seinen Sportassen in der Kollegstufe gute Noten in Sozialkunde gab,«
Ein Arschloch, das
– würde ich zwecks der leichteren Lesbarkeit mit Bindestrich schreiben: Sport-Assen
– jedenfalls ein Bindestrich gehört, wenn ein Fremdwort und ein deutsches Wort zusammenkommen: Kolleg-Stufe

»Herr M. ging in den Osten, an irgendein Gymnasium in Dresden oder Leipzig, als Direktor, um dort Aufbauarbeit zu leisten, kurz nach der Wende. Danach hörte ich nichts mehr von ihm. Ich machte Abitur, studierte, dachte nicht mehr an ihn, wie ich auch seit dem Abitur überhaupt nicht mehr an die Schule dachte.«
– meiner Meinung nach kannst Du den »Danach hörte ich«-Satz hier rausstreichen, da es eh schon klar ist.

»Ein halbes Jahr später, als ich gerade an der Steuer sitze, läutet das Telefon.«
– an der was sitzt er? (Ist er jetzt Finanzminister? :D ;))

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo Platoniker,

nach Susis Beitrag habe ich formal keinen weiteren Textkram hinzuzufügen.

Zum Inhalt. Da ich selbst auch eher ein Fan ruhiger, längerer Geschichten bin, hatte ich mit der Länge der Schilderung kein Problem.

Als etwas störend empfand ich das Schließen der äußeren Klammer durch die "Herzinfarkt" Pointe. Das Lied und der Anruf sind mir etwas zu viel des Zufälligen ...

Zum Inhalt. Der Text ist eine einzige großangelegte Personenbeschreibung. Den verschiedenen Facetten einer Persönlichkeit wirst du auf unspektakuläre Art und Weise gerecht. Aber das haben ja bereits andere gelobt. An einigen Stellen habe ich Verständnisdefizite: Der Lehrer war offensichtlich in engerem Kontakt mit seinen Schülern (Wochenede, Kino ...) wie kam das? Du gehst die Geschichte aus der Situation heraus an, dass er keine Autorität besaß und auch keine allzugroße Beliebtheit.

Ich habe länger an der Frage gegrübelt, warum deine Geschichte (offenbar auf eine ganze Reihe von Lesern) ansprechend wirkt. Ich vermute, es liegt an der Identifikation, die wirklich jeder, der in einem deutschsprachigen Schulsystem groß geworden ist, nachvollziehen kann.

Mit deiner mehrdimensionalen Auslegung des Charakters zwischen lustlos-gebildet-engagiert-verschusselt bieten sich jede Menge Ansatzpunkte die eigenen Lehrer und damit sich selbst wiederzuerkennen. Geschickt gemacht!

Schöne Grüße von anderen Ich

 
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hallo Häferl,

vielen Dank für Deine Einschätzung meiner Geschichte. Ich bin gerade an der "Generalüberholung" meiner Geschichten auf kg.de, da kann ich zusätzliche Meinungen noch besser gebrauchen als ohnehin.

Jedenfalls hat mir die Geschichte selbst vom Inhaltlichen her schon sehr gefallen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich es auch vor mir herschiebe, den Kontakt zu jemandem zu suchen, den ich vor vielen Jahren verloren habe. So betrachte ich die Geschichte als vom Schicksal geschickten Tritt in den Hintern …

Mehr kann sich doch ein/e Autor/in gar nicht wünschen, als dass eine Geschichte etwas beim Leser/in auslöst. Freut mich sehr.

Deine kritischen Anmerkungen werde ich wie gesagt zu Rate ziehen bei der laufenden Überarbeitung, die Fehler ohnehin gleich verbessern. Gut, dass dir die teilweise zu langen Sätze aufgefallen sind und unnötige Informationen, oft überliest man so etwas als Autor ja, wenn man seinen Text gut kennt.

Deine Argumente zu Titel und Untertitel überzeugen mich, aber jetzt muss mir dann auch ein besserer Titel einfallen ...

Vielen lieben Dank und einen schönen restlichen Pfingstmontag. Hier regnets :(

Beste Grüße vom Platoniker

 

Hi AlterEgo,

auch dir vielen Dank für Lob und Hinweise. Hilft mir sehr.

An einigen Stellen habe ich Verständnisdefizite: Der Lehrer war offensichtlich in engerem Kontakt mit seinen Schülern (Wochenede, Kino ...) wie kam das? Du gehst die Geschichte aus der Situation heraus an, dass er keine Autorität besaß und auch keine allzugroße Beliebtheit.

Hmm. Muss ich drüber nachdenken, wie ich das in der Geschichte noch deutlicher machen könnte. Ich könnte es natürlich hier erklären, aber es muss aus der Geschichte kommen.

Vielen Dank und schönen Pfingstmontag

wünscht der Platoniker

 

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