Mitglied
- Beitritt
- 31.05.2006
- Beiträge
- 112
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Rocky-Docky
Ich sitze am Tisch in der Küche, lese die Zeitung und lasse das Radio laufen. Ich höre kaum hin, es sind nur wieder alte Schlager und ich bin schon versucht umzuschalten auf einen anderen Sender. Doch da ist diese uralte Lied Das alte Haus von Rocky-Docky. Und ich erinnere mich an Herrn M. Ich habe lange nicht mehr an ihn gedacht, doch jetzt fällt er mir wieder ein.
Er hat es einmal gesungen, bei einem Vortragsabend in der Schule. Mit einem anderem Text, kabarettistisch. Es war lustig. Er war nur zwei Jahre mein Deutschlehrer, und im letzten Jahr, bevor er die Schule verließ, mein Sozialkundelehrer.
Er war wohl ein wenig so etwas wie der Schulclown. Weder die Schüler noch seine Lehrer-Kollegen nahmen ihn ernst. Alle machten sich über ihn lustig, man erzählte sich witzige Geschichten über ihn, seine Ungeschicklichkeit, seine Kurzsichtigkeit und über vieles andere. Er war eigentlich groß gewachsen und wäre rein äußerlich sicher zur Respektsperson geworden, wenn er nicht derart dicke Brillengläser gehabt hätte und nicht ständig einen blau-weiß gemusterten Pullover getragen hätte. Immer den gleichen Pullover. Er musste mehrere davon besessen haben, denn er war nie schmutzig oder stank.
Alle Schüler waren überzeugt, ihn auf den Arm nehmen zu können. Bei ihm schrieben alle ab und sagten vor, auch die, die es sich sonst nicht trauten, denn er bemerkte nichts. Wenn ich jetzt zurückdenke, weiß ich plötzlich, dass es wohl anders war. Seine dicken Brillengläser, denke ich, durch die er so blind wirkt, dass manche gesagt hatten, wenn die Fenster genauso rot angestrichen wären wie die Türen in unserer Schule, ginge er durch die hinaus, waren deshalb so dick, damit nur jeder glauben sollte, er sei so blind wie ein Maulwurf. Als Tarnung sozusagen. Ich glaube, er sah genau, wenn jemand abschrieb und hörte genau, wenn jemand vorsagte, aber es war ihm völlig gleichgültig. Überhaupt wirkte er meistens so, als sei ihm der ganze Unterricht ziemlich egal, das sinnlose Eintrichtern von Wissen in Köpfe, die dieses Wissen nach der notwendigen Reproduktion in Klassenarbeiten und Prüfungen, wieder vergaßen. So als mache er das alles nur zum Geldverdienen, um nebenbei seinen eigentlichen Leidenschaften nachzugehen, dem Singen, Theater organisieren, klassische Musik. Andererseits, er unterrichtete wie die anderen, denen alles egal war, denen vor allem die Schüler egal waren, die lustlos und langweilig ihren Stoff herunterlasen. Viele fanden Herrn M. langweilig, aber das waren meist auch die, die außer Sport jedes Fach langweilig fanden. Er hatte den Unterricht nicht irgendwie anders gestaltet, er zog keine Entertainershow ab, dafür waren andere Lehrer zuständig.
Er war einfach anders. Er machte seinen Unterricht und er machte ihn ganz gut, aber es war ihm eben ziemlich egal, ob man aufpasste oder nicht. Und seine Klassenarbeiten waren nie allzu schwer. Er unterrichtete vier Fächer. Es gab bei uns keinen Lehrer, der vier Fächer unterrichtete, die er ja auch studiert gehabt haben musste. Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Erdkunde. Und er wusste alles in seinen Fachgebieten, da konnte man sicher sein. Obwohl er promoviert war, ging er mit seinem Titel nicht hausieren, im Gegenteil, kaum jemand wusste davon. Ich glaube, nicht einmal alle Lehrer wussten es, die meisten mochten ihn ja auch nicht. Aber meine wichtigsten Erinnerungen an Herrn M. betreffen etwas anderes.
In dem einen Jahr, in dem wir ihn in Deutsch hatten, das war in der neunten oder zehnten Klasse, fuhren wir einfach so ein Wochenende aufs Land, in ein kleines altes Pfarrhaus oder so etwas, niemand außer uns, nur unsere Klasse und Herr M. Wir machten das Wochenende durch, von Freitag Nachmittag bis Sonntag Mittag, mit ihm. Und das hatte gar nichts mit der Schule zu tun. Es war weder ein Studienwochenende noch eine offizielle Klassenfahrt. Wir waren einfach nur so zusammen. Wir taten nicht viel, kochten zusammen, tranken, hörten Musik, alberten herum, diskutierten, und was man mit fünfzehn, sechzehn so tut. Eigentlich zwei Tage Party. Nur eines hatte ein bisschen was mit Schule zu tun, aber auch das war freiwillig. Wir lasen, d. h. ein paar von uns, Kleists Zerbrochenen Krug, halbszenisch sozusagen. Es gab da diesen großen Wohnraum im zweiten Stock, und der Ofen darin sah aus, als ob er genau aus Adams Stube stammte. Ich war Licht, und ich denke heute noch daran. Er war Walter, glaube ich. Es regnete viel an diesem Wochenende, und ich ging mit ihm und meinem besten Freund spazieren. Es war Herbst und überall im Wald lagen die feuchten Blätter, und er rezitierte uns ein langes Gedicht von sich, einfach so nebenbei, ganz bescheiden. Ich weiß nichts mehr von dem Gedicht, nur noch, dass er den Turnvaterjahnspruch frisch, fromm, fröhlich, frei darin persifliert hatte. Aber ich erinnere mich noch an diesen Spaziergang durch den regennassen Herbstwald.
Am Sonntag hatten wir dann einen kleinen Gottesdienst. Und weil niemand singen wollte, sang nur er, und er sang ziemlich gut. Es war toll dieses Wochenende, und ich glaube, die meisten dachten so, aber nur wenige hätten es zugegeben.
Herr M. ging mit uns ins Kino. Ohne dass der Film irgendetwas mit dem Unterricht zu tun hatte. Einfach so. Kein Lehrer tat so etwas.
Das klingt jetzt alles so, als sei er der perfekte Lehrer gewesen, aber das war er nicht. Er verlor Klassenarbeiten oder Schulhefte, und das war unangenehm zumindest für die, die eine gute Arbeit geschrieben hatten, andererseits verlor er auch Tadel oder vergaß, dass er welche ausstellen wollte.
In meinem vorletzten Schuljahr, sein letztes an unserer Schule, hatten wir Sozialkunde bei ihm, am Nachmittag, und wir, besonders ich, waren faul und ziemlich unverschämt und blödelten nur herum. Manchmal wurde er sauer deswegen, aber selten, meistens war es ihm egal. Ich hatte trotzdem gute Noten.
Aber Herr M. verließ die Schule und deshalb hatte ich meine mündliche Abiturprüfung bei Herrn A., dem Sportlehrer, der aber auch Sozialkunde gab. Ein Arschloch, das seinen Sport-Assen in der Kolleg-Stufe gute Noten in Sozialkunde gab, wenn sie auch in Sport gut waren, der dem Kreisabgeordneten beinahe in den Arsch gekrochen war, als wir zur Landtagsbesichtigung fuhren und der mich nicht mochte, weil ich andere politische Ansichten hatte.
Herr M. dagegen, der CSU wählte und auch im Gemeinderat saß, sagte einmal zu mir: „Ich weiß ja, dass sie dem Marxismus nahestehen.“ Das störte ihn aber gar nicht, meine Noten in Sozialkunde waren trotzdem gut, einfach weil er wusste, dass ich hier Ahnung hatte. Er war fair und man hatte mit ihm diskutieren können.
Aber dann ging Herr M. weg, und man hatte gar nichts mehr von ihm mitbekommen und man hatte sich nicht von ihm verabschieden können. Nach den Ferien war er einfach nicht mehr da. Und ich glaube, außer mir vermissten ihn nur ein paar, die andern Lehrer schon gar nicht. Uns wurde erst bewusst, was für ein guter Lehrer er war, als er fort war.
Die Schule war keine übermäßig tolle Zeit, auch wenn ich selbst nicht viel gelitten habe. Aber ich habe auch nicht allzuviel Nutzen daraus gezogen, ziemlich viel war für die Katz im Gymnasium, Physik und Chemie und Mathe und Sport, aber durch Herrn M. wurde das Gymnasium ein bisschen erträglicher.
Herr M. ging in den Osten, an irgendein Gymnasium in Dresden oder Leipzig, als Direktor, um dort Aufbauarbeit zu leisten, kurz nach der Wende. Danach hörte ich nichts mehr von ihm. Ich machte Abitur, studierte, dachte nicht mehr an ihn, wie ich auch seit dem Abitur überhaupt nicht mehr an die Schule dachte.
Ich schalte das Radio aus. Eigentlich könnte ich ja mal recherchieren, wo er jetzt lebt und ihn einfach anrufen, denke ich. - Ein halbes Jahr später, als ich gerade an meiner Steuererklärung sitze, läutet das Telefon. Mutter ist dran.
„Du hast doch den Herrn M. gehabt, in der Schule, oder?“ -
„Ja“, sage ich. „Warum?“ -
„Der ist vor einer Woche gestorben, Herzinfarkt, sagt man.“ -
„Oh.“ -
„Die Beerdigung war am Mittwoch. Wir haben es erst heute gehört.“ -
„Danke.“
Ich verabschiede mich und lege auf. Sie haben ihn auf dem Gewissen, denke ich. Wir haben ihn auf dem Gewissen. Die Lehrer, die Schüler, die ganze Mühle. Scheiße, jetzt ist er tot, denke ich, und ich habe ihn eigentlich gar nicht richtig gekannt.