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Rohrkrepierer
Wenn das Leben an einem vorbeizieht, wie ein verschneites Testbild und das anfängliche Gefühl der Teilnahmslosigkeit zur Taubheit heranwächst ... Wenn das Gesicht der geliebten Frau zu einer Maske erstarrt, die von Tag zu Tag weniger an sie erinnert ... Wenn die eigenen Kinder zu Fremden mutieren, die es nicht einmal mehr schaffen etwas in einem auszulösen, wenn sie weinend vor einem stehen, die blutende Hand Trost suchend zu einem emporhalten ... Wenn Kollegen und Freunde wie Geister um einen herumschwirren und Gesagtes ungehört im Vakuum implodiert ...
Und wenn man sich dann eines Tages in einem schmutzigen Hinterhof wiederfindet, in der Hand ein Plexiglasrohr, das sich gerade mit dem Gehirn einer eben noch schreienden Passantin füllt ...
Spätestens dann weiß man, dass sich das Leben anders entwickelt hat, als geplant.
Man versucht es sich zwar als einmalig einzureden, als Ausrutscher. Doch das gespickte Andenken zwischen den Tiefkühlpizzen ruft es einem immer wieder in Erinnerung:
Für einen kurzen Augenblick hatte man wieder Kontakt zu sich aufgenommen. Hatte die Fingernägel gespürt, die einem die Gesichtshaut zerkratzten, bevor sie leblos von einem abließen. Hatte das verzerrte Gesicht wahrgenommen, ihre aufgeplatzten Lippen bemerkt, die Worte formten, deren Inhalt sich in bloßer Sinnlosigkeit verlor. Man hatte die Angst hinter den geäderten Augen gespürt, die gemischt mit dem trotzigen Willen zu überleben, dem Moment das Besondere verlieh, das einem bis heute in Erinnerung blieb. Wo man beginnt, sich Gedanken um einen Ausbau der Kühlmöglichkeiten zu machen, da die Kinder bereits die ersten Fragen wegen der seltsamen Stangen zwischen ihren Essen stellen. Und man sie gerade noch davon abhalten kann, sie als Aufschnitt für ihr tägliches Abendbrot aufzutischen.
So beginnt man, sich der logistischen Herausforderung bewusst zu werden, der man sich tagtäglich gegenübergestellt sieht, und beginnt zu planen. Man kündigt die Stelle, die einem ohnehin nur noch aufgrund langer Betriebszugehörigkeit gewiss ist. Leistungen hat man schon länger nicht mehr gebracht. Seit dem plötzlichen Tod der Ehegattin war man laut der Geschäftsleitung ja nicht mehr wiederzuerkennen. Einer Geschäftsleitung, der man dann schließlich auch einen Besuch abstattet und ihr armseliges Dasein durch eine Behandlung mit dem Bolzenschneider beendet, der sich widerstandslos durch die haarige Leibesfülle frisst.
Im Keller des eigenen Hauses steht man dann vor der Truhe und begutachtet das Resultat des abendlichen Ausfluges, bevor man es zu den anderen legt und mit einigen Tüten Suppengemüse abdeckt. Wieder hat man ein Stück der Leere gefüllt. Hat getötet, um kurz aufzuleben. Doch Zufriedenheit stellt sich nicht ein. Wie soll man auch Zufriedenheit fühlen, wenn man nicht einmal fähig ist, Trauer zu empfinden.
Wenn man dann auch noch von einem der Kinder gestört wird, das leise, wie nur nackte Kinderfüße es sein können, die Kellertreppe heruntergeschlichen kommt und plötzlich mit verschlafenen Augen neben einem steht, um dem Vater das Maß an Obhut abzuverlangen, auf das es meint, ein Anrecht zu haben ... Dann schließt man überhastet die Truhe und versucht zu hoffen, dass das kleine Mädchen zu jung ist, um zu verstehen.
Die ernsten Gesichtchen, die einem dann am folgenden Morgen vom ungedeckten Frühstückstisch entgegenblicken, sorgenvoll, fast erwachsen, erwecken sie den Anflug einer Erinnerung. Doch Erinnerungen übersieht man leicht, wenn einen die Gegenwart zu sehr in Anspruch nimmt. So sieht man sich dann plötzlich einer Schar Vermummter gegenüber, die von allen Seiten in die Küche stürmen. Der Raum von inhaltlosem Geschrei erfüllt.
Machtlos sieht man, wie die Kinder gepackt und hastig hinausbefördert werden. Man entdeckt das Telefon, das einem der Drei aus der Hand fällt, und sieht die Tränen, die er weint.
Man bewegt sich, einem Impuls folgend, in ihre Richtung, meint sie aufhalten zu müssen. Um dann schließlich von Kugeln zerfetzt, auf den austretenden Inhalt seines Bauches herabzublicken. Und zu dem Schluss zu kommen, dass sich die Leere, die man auszufüllen versucht hatte, am Ende des Rohres in Luft auflöst.