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Rom sehen und
Ich sollte nicht hier sein.
Das Ziel riecht nach Rosen, blättert in einer Gazette, nippt an einem Cappuccino, wischt sich den Schaumbart von der schmalen Oberlippe.
Es könnte meine Tochter sein.
Sie kramt in ihrer Handtasche.
Das ist mein Zeichen.
Ich wuchte mich aus dem Plastikstuhl. Mein Bauch stößt gegen das Tischchen und bringt das unberührte Glas Wasser zum Schlingern. Aber es fällt nicht.
Gehe zu ihr wie alte Männer gehen. Sie hält eine lange Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger. Ich klappe das goldene Feuerzeug auf. Und sie lächelt mich an.
Natürlich denkt sie nicht, dass ich ihr Vater sein könnte. Und sie denkt auch nicht, dass ich ihr Mörder sein könnte.
Ich schirme die Flamme mit einer Hand ab, obwohl die Luft steht. Für einen Moment verstummen die Vespas, die Mobiltelefone und die Menschen um uns herum. Es ist immer ruhig, wenn etwas Wesentliches geschieht.
Das Ziel zieht an der Zigarette.
Vielleicht merkt das Ziel, dass die Zigarette ein wenig anders schmeckt. Vielleicht denkt das Ziel, es läge an dem fremden Feuerzeug. Vielleicht ahnt das Ziel etwas.
Aber wahrscheinlich nicht.
Ich deute eine Verbeugung an, setze mich an meinen Tisch, zahle Minuten später und steige in ein Taxi.
Ich sollte nicht hier sein.
Van der Ley hat mir versprochen, Rom sei das letzte Mal.
Schauen Sie sich die Stadt an, hat er gesagt. Machen Sie sich doch ein paar schöne Tage, hat er gesagt. Haben es sich verdient, hat er gesagt. Rom im Herbst ein Gedicht, hat er gesagt.
Bon Chance. Hat er gesagt.
Ich lege meinen Pass auf die Rezeption und verlange ein Zimmer. Der Concierge schaut auf einen kleinen Bildschirm vor sich, streichelt sein fransiges Kinnbärtchen, gleicht mein Gesicht mit dem Passbild ab, stellt mir ein paar Fragen und reicht mir einen Schlüssel.
Ich werfe einen Blick auf den Schlüssel in meiner Hand und mache ihm dann auf Englisch klar, dass die Dreihundertsieben schon immer meine Unglückszahl gewesen sei. Bekomme die Vierhundertelf.
Schnell.
Viel zu schnell.
Er hat keine Sekunde gezögert. Hat nicht in seinem Computer nachgesehen, ob Reservierungen vorliegen. Er wirkt auch gar nicht mehr wie ein Italiener. Jetzt, wo er mich mit dünnem Lächeln mitleidig anstarrt –jetzt würde ich auf Albaner tippen.
Wenn sie wissen, dass ich das früher schon so gemacht habe mit der Unglückszahl? Und wenn sie wissen, dass ich annehme, dass sie das wissen?
Denk an Sand, alter Mann. Denk an Sand.
Ich sage dem Concierge, er solle mir doch die Dreihundertsieben geben und entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten.
Fahrstuhl oder Treppe?
Im Fahrstuhl hat es Frost erwischt, vor zwei oder drei Jahren. Einfach heruntergesaust. Kein schöner Anblick.
Ich habe die Fotos gesehen.
Ich habe alle Fotos gesehen.
Also die Treppe, aber auch da natürlich Akten. Brobowski im Herbst achtundachtzig. Tot im Treppenhaus mit einer Flasche Jack Daniels im Arm. Aber nicht an Leberzirrhose gestorben, sondern an einer Herzpunktur. Damals waren diese unterarmlangen Stahlnadeln gerade in Mode gekommen. Wenigstens ein offener Sarg und es ist schnell vorbei.
Die gute, alte Zeit.
Ich ziehe eine Münze aus meiner Brieftasche. Lege sie auf meinen Daumen und schnippe sie in die Luft. Das erste Mal seit Jahren.
Kopf gewinnt, also der Fahrstuhl.
Das Licht zählt langsam runter. Wie ein privater Countdown. Die Tür schiebt sich zur Seite. Ein fetter Mann starrt mich an. Aus kalten Augen.
War es das?
Er trägt einen dunklen Anzug und macht einen Schritt auf mich zu. Seine Augen wandeln sich zu Stundengläsern.
Der Mann schiebt sich an mir vorbei und murmelt wütend etwas, das ich nicht verstehen kann.
Ich rieche sauren Schweiß, sage „Scusi“, betrete den Fahrstuhl und drücke auf die „Drei“.
Es ist gut, dass ich nicht die Vier genommen habe. Im Japanischen ist das Wort für „Tod“ gleich lautend mit dem für „Vier“.
Ich presse mich an die Wand. Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung. Wenn ein Fahrstuhl abstürzt, dann kann man dem Tod entgehen, wenn man kurz vor dem Aufprall hochspringt.
Ich muss lächeln. Über diesen zwanzig Jahren alten Scherz.
Sand und ich hatten viele solcher Scherze.
Wenn ich das hier überlebe, werde ich ihn besuchen.
Die Tür öffnet sich.
Hotelflur. Kennt man einen, kennt man alle. Eine verblühte Schönheit in schwarzer Mädchenuniform steht vor einem Tischchen und tauscht Lilien aus. Vielleicht ist es auch für sie das letzte Mal. Vielleicht hat man auch ihr gesagt, Rom im Herbst ein Gedicht.
Sind die Lilien wirklich welk?
Ich gehe auf sie zu. Aufrecht, so weit ich es noch kann. Der rote Teppich schluckt meine Schritte. Trotzdem muss sie mich doch bemerken. Aber sie hantiert weiter an der Vase herum. Wie lange dauert es denn, Blumen auszutauschen?
Mein Magen macht eine Faust. So muss sich ein Magengeschwür anfühlen. Oder Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Ich bin neben und hinter ihr. Ihr Rücken ist schlank. Ein Leberfleck thront in ihrem Nacken - genau unter der weißen, perfekten Schlaufe ihres Kleids. Nur jemand, der neu im Hausmädchen-Geschäft ist, gibt sich so viel Mühe, eine Schlaufe zu binden.
Sie zittert nicht. Für sie ist es Routine.
Ich will stehen bleiben, will sie an der Schulter packen, will sie herumreißen. Will sie anschreien, mir dabei doch wenigstens ins Gesicht zu sehen. Will sie anflehen, zumindest eine Nadel zu benutzen. Dann bin ich an ihr vorbei.
Es wäre auch eine Premiere gewesen.
Über Hotelflure hab ich in den letzten achtzehn Jahren keine Akte gesehen.
Ich drehe den Schlüssel im Schloss, ziehe die Tür auf, schlüpfe durch den Spalt, sacke zusammen, schließe dabei die Tür mit meinem Rücken und kauere mich hin. Meine Hände umklammern meine Knie.
In Sicherheit. Denk an Sand. Niemand weiß, dass du hier bist, alter Mann.
Das Zimmer. Standardisiert. Kommode mit Fernseher. Ein Tisch, zwei Stühle, ein Doppelbett. Ein großes Panoramafenster und einer dieser arabischen Teppiche mit den seltsamen Symbolen, die alles bedeuten könnten oder nichts.
Das Fenster. Scharfschützen. Ich drücke mich vom Boden hoch, torkle mit weichen Knien zum Licht und kurble die Jalousie herunter. Dunkelheit. Aber was, wenn sie Wärmekameras haben?
Ich bin zu müde und zu alt. Das hier ist mein Untergang. Ich spüre es.
Werde hier nichts anfassen. Gar nichts. Um mich herum Dunkelheit und Todesfallen.
Lichtschalter gekoppelt mit einem Giftgasauslöser. Paris, vierundneunzig, Del Homme.
Im Fernseher eine kleine Bombe. La Paz, zweitausendzwo, Palmer.
Die Matratze mit einem Kontaktgift behandelt. Duisburg, Roethlisberger, erst vier Monaten her.
Denk an Sand. Niemand weiß, dass du hier bist.
Nervengas durch die Ventilation. Ein Dauerbrenner. Pennigton, neunzig, und sein Zwillingsbruder, dreiundneunzig, in Adelaide und Toronto. Vielleicht auch in Vancouver. Wer soll sich das alles merken? Die Akten über Hotelzimmer bevölkern drei Leitz-Ordner in meinem Büro. Mein Büro.
Es ist verrückt. Man kann nicht jemanden zwanzig Jahre in ein Büro stecken und ihm nur Akten geben, Akten mit Leichen und ihm dann sagen, Rom ein Gedicht. Niemand kann das von mir verlangen.
Ich lege mich auf den Teppich.
Meine Hand tastet nach dem Feuerzeug in meiner Tasche. Früher habe ich auch geraucht. Wie geht es ihr gerade? Magenschmerzen? Spuckt sie schon Blut? Nicht daran denken.
Der alte Trick. Du bist eine Insel. Du bist der einzige mit Gefühlen. Die anderen denken nicht, die anderen fühlen nicht. Die anderen handeln nur. Ohne Innenleben.
Ich gehe durch den hell beleuchteten Korridor an Türen vorbei. Es riecht nach Äther. Ich öffne eine der Türen. Sand sitzt auf einem Bett und singt ein Kinderlied über Spiegel. Ich mache einen Schritt auf ihn zu und er beginnt, zu schreien. Drückt sich an die Wand, zieht sich die Bettdecke über den Kopf.
Ich rede auf ihn ein, spreche von früher, flehe ihn an, mich doch zu erkennen. Doch er schreit und brabbelt von Spiegeln.
Ich werde wütend, schreie nun auch. Er muss mich doch erkennen. Nach all den Jahren. Ich reiße ihm die Bettdecke vom Kopf. Und starre in mein Gesicht.
Ich stehe vor dem Spiegel und rasiere mich. Der Trockenrasierer summt satt. Jetzt noch das Aftershave. Man muss gut sein zu alter Haut. Ich nehme das goldene Fläschchen, schütte mir ein paar Tropfen auf die Handflächen. Sie kribbeln. Ich klatsche mir die Hände ins Gesicht. Etwas beißt in meine Wangen. Im Spiegel sehe ich, wie Hautfetzen aus meinem Gesicht und von meinen Händen fallen und den Blick auf ein Skelett freigeben. Mein Mund öffnet sich.
Und ich wache von meinem eigenen Schrei auf.
Mein Herz wummert. Ich will mich aufrichten. Mein Rücken macht da nicht mehr mit. Ich atme ein und aus. Ein und auuuus. Ein und auuuuuus.
Säure im Aftershave. Hast ja doch eine kreative Ader, alter Mann.
Ich höre in der Dunkelheit meinen eigenen Atem. Und meinen Herzschlag. Ich sollte nicht hier sein.
Sie ist bestimmt schon tot. Am eigenen Blut erstickt. Auflösung der inneren Organe. Keine äußeren Mängel. Gutes Foto. Ob sie jemanden hat, der um sie trauert?
Einen alten Vater, dem es das Herz bricht?
Alter Mann. Du bist eine Insel.
Es ist gar nicht so schwer, kreativ zu sein. Die Sache mit den Zigaretten ist ein alter Hut. Das Feuerzeug nur eine Variation davon. Man hat es mir auch erklärt. So ein junger Spund, gleich von der Uni in den Orden. Durch die blaue Flamme des Feuerzeugs versteckt: ein farb- und geruchloses Gas, das sich auf die Spitze der Zigarette legt und dann durch das Rauchen eingeatmet wird und …
Ich rieche etwas. Etwas anderes als meinen Schweiß. Nur ganz leicht. So etwas wie Ammoniak. Verwesungsgase vielleicht. Träume ich? Es riecht aber nicht so stark wie eine Leiche. Mehr wie ein alter Kühlschrank, in dem jemand ein gutes Steak vergessen hat.
Jemand pocht an die Tür meines Zimmers. Ich höre eine Mädchenstimme. Sie lacht.
Mein Herz schmerzt. Hat man mich auch?
In meinem Hinterkopf spüre ich ein Ziehen. Etwas drückt gegen mein Hirn. Von Innen.
Habe ich mich schon früher so gefühlt? Früher?
Da habe ich eine Zigarette geraucht und bin nach Hause geflogen. Den anderen passierten diese Dinge, aber nicht mir.
Die Unsterblichkeit der Jugend. Das Resultat ihrer … ihrer Jugend, ihrer Unerfahrenheit, ihrer Unschuld.
Ich sollte nicht hier sein. Was mache ich hier? Ich sterbe.
Weg hier, nur weg. Weg aus diesem Totenzimmer, weg aus dieser Totenstadt.
Ich flüchte.
Gewirr aus Menschen um mich herum. Unter mir ein harter Plastiksitz. Eine verzerrte Frauenstimme ruft Flüge auf. Ich habe es geschafft. Ich bin im Licht.
Neben mir zwei alte Damen. Alt? So alt wie ich.
Reden auf Deutsch über das Kolosseum. Rom müsse man gesehen haben. Da hätten schon alle recht. Obwohl die Vespas schon ein Ärgernis seien. Die führen auch alle wie die Bekloppten. So etwas gäbe es zu Hause nicht. Venedig sei aber auch nicht schlecht. Es rieche nur so komisch.
Ich werde Sand besuchen. Gleich morgen. Und dann Van der Ley. Was er sich überhaupt denke? Ob er mich loswerden wolle? Ob er vielleicht den anderen gesagt habe: Da ist dieser alte Mann, der ist in Rom, kümmert euch doch mal um den.
Mein Mund ist trocken, aber mein Herz schlägt ruhig. Ich sollte nicht hier sein, aber ich bin es nun mal.
Die alte Dame mit blauem Haar neben mir raucht eine Zigarette. Ich drehe mich zu ihr und frage, ob ich eine schnorren könne. Wolle auf meine alten Tage, meinen vielen Lastern ein neues hinzufügen. Sie sagt „junger Mann“ zu mir. Und wir ringen uns beide ein gekünsteltes Lächeln ab.
Sie bietet mir Feuer an. Aber ich nehme mein eigenes.
Dann schaut sie ganz irritiert, weil ich aus vollem Halse lache.