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Rot
Gerade diese Ampel hasste Werner W. wie die Pest, weil sie etwas gegen ihn hatte. Er musste jeden Tag wegen Rot daran halten. Eine gut gesinnte Ampel wäre hin und wieder grün. Diese nicht. Sein Körper war kein Frühaufsteher und so war er immer in Eile. Werner W., 54, männlich, Skorpion, gut verdienend, sah sich in quälender Wiederholung gefangen. Sein Leben war praktisch gelaufen. Die Tage unterschieden sich nicht mehr voneinander. Es gab keinen Spaß mehr. Den hatte seine Frau im Laufe der Zeit systematisch ersetzt durch Kritik. Weshalb könne er ihr morgens keinen zärtlichen Kuss geben anstatt sie lakonisch zu ignorieren. Etwas mehr Kommunikation würde der Ehe gut tun und so was alles. Er fragte sich, was am frühen Morgen eigentlich so schönes dran war. Nichts. Werner W. würde nie aufhören ihr das zu zeigen. Wenn es je sein müsste, auch auf die harte Tour. Bisher hielt Werner W. sich zurück, doch heute morgen...
Es war einfach alles zu viel gewesen. Zunächst das mitleidige Gesicht seiner Frau nach dem Aufstehen. Dann ihre Nörgelei beim Frühstück. Schließlich übertrieb sie. Diese blöde Zicke ließ die Toasts verbrennen. Musste Absicht gewesen sein. Was wollte sie damit bezwecken? Wollte sie verprügelt werden? Das war, nebenbei bemerkt, längst überfällig. Sie hatte es darauf angelegt. Das war der einzig logische Schluss. Verdammt! Sie wollte die Prügel. Ganz offenbar brauchte sie das. Er fühlte sich gut dabei. Ja, seit langem wieder ein gutes Gefühl. Was für eine Schlampe.
Sie würde es wieder wollen. Eine völlig neue Perspektive tat sich auf. Er könnte seine Frau vielleicht fesseln und dann züchtigen. Mit einer Weidenrute auspeitschen. Ein neuer Lebenshauch versorgte Wehrgold unerwartet mit wohligen Schauern sexueller Erregung. Seine Körpermitte begann sich neugierig auszubeulen. Natürlich nicht einfach dumpf verprügeln, wie heute morgen. Er würde ihr vielmehr zeigen, wie sehr er sie nach all den Jahren noch liebte. Er würde ihr das geben, wonach sie begehrte. Verflucht, warum hatte er das nicht früher erkannt? Doch warum verschwieg sie ihm ihre Bedürfnisse? Oh Weib! Ab heute würde alles anders werden. Ab heute war Schluss mit der nichtsnutzigen Toleranz, die sie gar nicht verdiente und nicht mal wollte. Alles ein Missverständnis. Endgültig Schluss damit. Das frisch geborene Lebensgefühl fing an zu brodeln.
Die Ampel war immer noch rot. Unter normalen Umständen hätte Wehrgold das nutzlose Ding einfach ignoriert. Auf dem Land sowieso, aber in der Großstadt? Ein solches Manöver wäre leichte Beute für einen gelangweilten Beamten gewesen. Nur noch ein oder zwei Punkte in Flensburg warteten darauf, das Limit zu sprengen. Und da gab es auch noch Querverkehr, der nicht zu unterschätzen war. Also beherrschte er sich lieber. Nervös tippte Wehrgold die Finger im Teufelstakt aufs Lenkrad und sein Blick verirrte sich im Rückspiegel. Seltsam. Die Schlange schien länger als sonst. Er stand ganz vorne und das mochte Wehrgold gar nicht. Kein anderes Auto ruhte mehr vor seinem. Die Situation vermittelte ihm ein Gefühl von Schuld. Als ob ihm die Verantwortung für das schikanierende Rot zugekommen wäre. Sein Stehen zwang die anderen ebenfalls zum Stehen. Ein primitiver kausaler Zusammenhang. Wachsendes Unbehagen verdrängte alle angenehmen Empfindungen. Hinter ihm reihten sich bereits erstaunlich viele Autos. Verstohlen blickte er in den linken Rückspiegel und versuchte die Feinde zu zählen. Nach 23 Fahrzeugen aller Art gab Wehrgold auf. Was war da los? Das unnütze Licht musste nun schon seit Minuten rot sein. Die Gedanken hatten sein Zeitempfinden vorübergehend betäubt, doch die Gegenwart kehrte zurück. Und die wurde unerträglich. Er, der Verursacher eines Staus? Nur Vollidioten gelang das. Obwohl Wehrgold eindeutig keinen Einfluss auf die Situation hatte, drang das unbehagliche Schuldgefühl immer weiter zu ihm vor. Eine Reihe von Schweißperlen auf seiner Stirn fraßen sich wie Königswasser nach unten. Auch das noch. Sein Herz setzte einen Moment aus als jemand ein gedehntes Hupen abgab. Unschuldig, aber doch verurteilt. Weiteres Hupen. Das Blut schoss Wehrgold ins Gesicht. Es wurde heißer und heißer.
Verfluchte Ampel. Mach Grün! Das gab es doch nicht. So ein simples Gerät konnte unmöglich eine Fehlfunktion erleiden. Vielleicht mal eine defekte Glühbirne, aber doch nicht einfach zu lange auf Rot bleiben. Es gab ja auch kein Hinweisschild oder eine Baustelle, auch keinen Unfall. Weit und breit nichts zu sehen. Aber es musste einen Grund haben. Irgendeine Erklärung. Etwas, das für alle einsichtig wäre und den Ärschen hinter ihm seine Unschuld offenbarte. Indes schlossen sich weitere Gegner den hupenden Fahrern an. Sie hatten es auf ihn abgesehen. Wollten ihn fertig machen. Wehrgold kam die Idee, dass der lokale Verkehrsfunk eine Erklärung anbieten würde. Radio 'Gong', die hatten immer was zu berichten. "Such a shame... , such a shame..." Die 80er bestraften Wehrgolds Selbstverständnis.
Eine Schwellenschaltung! Das war die Lösung, bestimmt! Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass eine Ampelschwelle im Teer vergraben sein könnte. Warum auch, über so was denkt ja keiner nach. Da er vorne stand und langsam den Zorn der vereinten Völker auf sich zog, fiel ihm das ein. War sein Auto womöglich zu leicht? Nein, nicht sein 5er BMW. War er vielleicht nicht weit genug vorgefahren? Von aufkeimender Hoffnung getrieben legte er hastig den ersten Gang ein. Schleunigst ein kurzes Stückchen vor und zurück fahren. Vor und zurück, um die Schwelle zu kitzeln. Wehrgold kam sich dämlich vor. Während der ganzen Aktion wandte er den Blick nicht vom konstanten Rot der Ampel, die völlig unbeeindruckt stand hielt. Der Fahrer des 13. Wagens stieg aus und brüllte irgendetwas nach vorne. Was für ein Alptraum. Die Ampel war wie eingefroren. Gott, er musste handeln! Egal wie. Kehrt wenden? Nein, das ging nicht. Er hatte kaum Spiel nach hinten und konnte wegen der Straßenbegrenzungen nicht ausscheren. Es war eine Einbahnstraße, daher gab es auch keine Gegenfahrbahn, die ihm Wendeplatz geboten hätte. Letztlich blieb nur eines. Vermutlich war sogar irgendwo unauffällig ein Hinweis angebracht, auf dem Lösung stand: "Wegen eines Defekts, bei Rot überqueren." Alle außer ihm mussten es bemerkt haben und er war der Trottel des Jahres. Schlecht. Aber lieber späte Erkenntnis als keine. Ohnehin hätte nur er selbst den Schneid, diese Ampel wirklich bei Rot zu überfahren und die knappen Lücken des kreuzenden Berufsverkehrs zu durchdringen. Adrenalin ließ seinen Puls steigen. Wehrgold dachte unvermittelt wieder an seine Frau und wie er sie ans Bett fesseln, ordentlich ohrfeigen und ordentlich ficken würde. Die Phantasie steigerte sich zu einem Rauschzustand und eine starke Erektion erfasste seinen Unterleib.
Die nahende Lücke erschien ihm deutlich groß genug, um hart anzufahren und zu passieren. Doch der Freiraum war kleiner und der LKW zu schnell. Der LKW schlug daher ungebremst mit einer Geschwindigkeit von 69 km/h direkt auf die Fahrerseite von Wehrgolds BMW auf. Wehrgold konnte dem Stoß nichts als sich selbst entgegen setzen. Wie ein rohes Ei, an die Wand geschmettert, zerplatzte sein träger Organismus durch die Einwirkung der mechanischen Energie beim Aufprall. Plopp. Als ob er nie existiert hätte.
Zur gleichen Zeit saß Wehrgolds Frau mit ihren frischen Platzwunden in der Notaufnahme. Während der Arzt behutsam die Risse in der verquollenen Haut nähte, wurde jeder einzelne Stich von einem einzigen mächtigen Gedanken in ihr begleitet. Verrecke, Wehrgold. Verrecke! Es waren 23 Stiche. Mit dem letzten wurde es endlich still.