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Ruhe im Hexenhäuschen
Die kleine Krähe Fricka hatte Angewohnheiten, mit denen sie die alte Hexe Hedda in den Wahnsinn treiben konnte. Sie hüpfte gerade über einen wurmstichigen Tisch, und krächzte dabei, wie sie noch nie zuvor gekrächzt hatte. Hedda wippte unterdessen in ihrem roten Schaukelstuhl hin und her, blätterte fahrig in einem dicken Zauberbuch herum, und warf der Krähe immer wieder missmutige Blicke zu.
Dem schweren Unwetter, das an dem Häuschen rüttelte, schenkten die beiden keine Beachtung. Fricka nicht, weil sie in ihr Krächzen und Hüpfen vertieft war, dass sie für liebreizenden Gesang und anmutigen Tanz hielt. Und Hedda, die so gerne lesen wollte, konnte wegen des Lärms weder dem Zauberbuch, noch sonstigen Dingen ihre Aufmerksamkeit schenken.
Gesang, lieblicher Gesang, lästerte sie in Gedanken über den Vogel. Das ich nicht lache. Das hört sich an, als zersäge jemand einen Kontrabass. Und tanzen? Pah! Zu solchen Verrenkungen kann man doch nicht tanzen sagen. Das sieht eher nach taumeln aus. Als wäre sie von einer Kutsche angefahren worden.
Sie kratzte nervös an der Warze auf ihrem Kinn, die so groß war, dass man eine Brezel daran hätte aufhängen können.
„Was machst du nichtsnutziger schwarzer Federballen wieder für ein Lärm?", platzte es plötzlich aus ihr heraus. "Wie soll ich denn da lesen? Sei sofort still!“
Doch Fricka wollte singen. „Rrraaahhh! Rrrraaaahhhh! Rrrrraaaahhhhh! Rrrraaahhh!“, krächzte sie den neuesten Hit der Waldelfe Gundula, und versuchte vergeblich den traurigen Klang ihrer Stimme zu imitieren, mit der sie ihrem goldenen Kamm nachtrauerte, der auf den Grund eines tiefen Waldsees hinabsank.
Na warte, dachte Hedda, und überlegte, wie sie die Krähe zum schweigen bringen konnte. So erhob sie sich aus ihrem Schaukelstuhl, ging zu einem Regal, und sah mit schiefgehaltenem Kopf die darauf stehende Bücherreihe durch. Einen Augenblick später zog sie ein kleines graues Buch heraus und blätterte darin herum. Fricka, die sich weiterhin den schönen Künsten hingab, hielt inne, als Hedda plötzlich laut aus dem Büchlein vorlas.
„Krähenragout mit Salat. Klingt nicht schlecht. Krähe in Aspik. Hört sich lecker an. Oh! Krähe am Spieß mit Weisweinsoße. Das hatte ich schon lange nicht mehr.“
Fricka konnte zuerst gar nicht glauben, was die Hexe da von sich gab. Doch die heißhungrigen Blicke, die sie ihr zuwarf, und wie sie sich dabei mit der Zunge die runzligen Lippen leckte, offenbarten eindeutig ihre Absicht. Die Alte wollte sie fressen.
Wie von der Tarantel gestochen, flatterte sie mit einem mal in der Stube umher. Warf eine Tasse vom Tisch, landete auf dem Schrank, sprang von Fensterbrett zu Fensterbrett, und klopfte dabei verzweifelt mit ihrem Schnabel gegen die schmutzigen Scheiben.
Als die Hexe sah was sie angerichtet hatte, hielt sie sich erschrocken die Hände vor den Mund. Wäre sie doch nicht den Anweisungen des Kapitels Nur eine ängstliche Krähe ist eine ruhige Krähe in dem Buch gefolgt.
„Entschuldigung!“, rief sie immer wieder. „Ich hab es doch nicht so gemeint!“ Aber es dauerte eine Weile, bis Fricka sich wieder beruhigt hatte.
Anschließend servierte sie der Krähe ihre Lieblingsspeise. Heuschreckensuppe mit extra viel frittierten Rosinenkuchenwürfel. Während die Krähe aß, erzählte ihr die Hexe, dass sie früher eine begeisterter Fan der Hinkenden Tannensänger war, und stimmte den Refrain über den tollpatschigen Ritter Kuniberts an, der gegen einen Drachen auszog.
„Feuer, das war sein Letztes Wort,
da trugen ihn die Englein fort.“
Fricka kannte das Lied, krächzte mit vollem Mund mit, und versuchte sich anschließen an dem Song Ich habe ein Schloss, und du hast nichts, der Hochmütigen Prinzessinnen. So ging es eine Weile ausgelassen hin und her.
Dann spielten sie Mühle bis spät in die Nacht hinein, so lange, bis Fricka schließlich müde auf dem Tisch einschlief. Vorsichtig hob die Hexe sie mit beiden Händen auf, und setzte sie in einen Korb mit frischem Heu. Und das Büchlein Ruhe im Hexenhäuschen! Aber wie? warf Hedda, bevor sie sich selbst schlafen legte, ins prasselnde Kaminfeuer.