Ruhe
Wie jeden Morgen meiner Fünf-Tage-Woche hetze ich zum Bahnhof, um den Zug zu erwischen und wie jeden Morgen ist die Eile völlig unbegründet – der Zug hat Verspätung. So stehe ich da und betrachte die Welt um mich herum. Die Menschen tummeln sich auf dem Bahnsteig; verstecken ihre verschlafenen Gesichter hinter dicken, wolligen Schals und warten sehnsüchtig auf den Zug, um dort die Zeitung aufzuschlagen oder die Hausaufgaben hervorzukramen und die Unbehaglichkeit des Perrons zu vergessen.
Eine unheimliche Stille liegt über dem Ort wo sich diese Szene allmorgendlich abspielt.
Man genießt die kurze Ruhe, aus der man vom jähen Klingeln des Weckers grausam gerissen worden ist, und die nun für wenige Minuten zurückkehrt. Das Flackern der Bahnhofsuhr taucht den Bahnhof, der von keiner Lampe beleuchtet wird, in ein schummeriges Licht.
Über dem gegenüberliegenden Bahnsteig zieht einen das Panorama eines kalten, himmelblauen Sees sosehr in den Bann, dass man sich kaum loszureißen vermag. Die schwarz und bedrohlich wirkenden Berge am jenseitigen Ufer des Gewässers grenzen sich scharf vom wolkenverhangenen Himmel ab, zwischen dem lediglich über den Bergen einige Sonnenstrahlen hindurchscheinen.
Man stockt beim Anblick solcher Schönheit und fühlt eine gewisse Unnahbarkeit, als wäre das Panorama einem Traum entrissen oder auf eine überdimensionierte Leinwand gemalt.
Plötzlich werden die Schienen in ein glänzendes Licht getaucht und man hört ein Brummen und Rattern, als stünde man in einem alten und klapprigen Fahrstuhl, nur dass der Ton bedeutend tiefer ist und den Betonboden nahezu zum Vibrieren bringt. Mit gemischten Gefühlen verlässt man diesen Ort, der eine gespenstische Schönheit besitzt und an dem viele Gestalten nebeneinander stehen, sich aber nicht beachten und ihren eigenen Gedanken nachhängen.