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Ruhige Fahrt
„Ist es noch weit?“ – „Mama, ich muss mal.“ – „Ahhh... Malte hat mich gehaun!“ - „Wo ist mein Gameboy?“ – „Sind wir gleich da?“
Das Getobe auf der Rückbank wurde immer lauter, die beiden Insassen im vorderen Bereich hatten es längst aufgegeben für Ruhe zu sorgen. Nur fünfzig Kilometer entfernt vom Start versprach diese Reise lang zu werden.
„Achtung, Staustufe Rot auf der A1 Flensburg Richtung Hamburg“, prophezeihte die Stimme aus dem Radio. „Oh nein, nicht das noch - Stau!“, seufzte die junge Frau auf dem Fahrersitz. „Wir fahren einfach über die Dörfer“, beruhigte ihr Beifahrer und lotste sie bei der nächsten Gelegenheit von der Autobahn und durch das nächste Dorf. „Papa, gibt es hier ein McDonalds?“, fragte eine piepsige Stimme von der Rückbank. „Hier nicht, aber im nächsten Ort. Aber wir haben auch Brote in der Kühlbox“, erklärte Daniel, der immer noch ruhig auf den Radau im hinteren Bereich des Fahrzeugs reagierte. „Wir machen aber nicht jetzt schon die erste Pause“, versuchte die Mutter einzulenken. „Ich will ne Juniortüte“, meldete sich jetzt auch die kleine Schwester. „Und dann haben wir mal ne weile Ruhe?“, wollte die nun nicht mehr ganz so abgeneigte Fahrerin wissen. „Wir sind dann gaaanz still“, versprachen zwei engelhafte Stimmen zweier grinsender Kinder, die sich nun versöhnend in den Armen lagen.
Die Eltern nickten sich zu und der Wagen verließ die eigentliche Strecke. „Wie weit ist es zu McDonalds?“, meldete sich die Rückbank noch einmal, bevor einige Wagen vor der Familie ein Motorradfahrer auf die Gegenfahrbahn raste.
Mit einem lauten Knall wurde die Maschine zurückgeschleudert und der junge Fahrer schlug einige Meter hinter der Aufprallstelle hart auf der Straße auf. „Oh mein Gott!“, erschrak Daniel und veranlasste seine Frau, die ihrem Kind gerade eine Antwort geben wollte, so zum sofortigen Bremsen. Im selben Augenblick, in dem der Wagen stand, verließ Daniel seinen PKW und war schon auf dem Weg zur Unfallstelle, als seine Frau noch versuchte das Warnblinklicht einzuschalten, während sie daran dachte, möglichst schnell handeln zu müssen. Die Zeit schien sich zu Splitten. Sie blieb stehen, während sie unweigerlich immer schneller davonraste. Die Wahrheit lag irgendwo dazwischen. Sie durfte keine Zeit verlieren, musste möglichst schnell handeln, doch Sekunden wirkten wie Stunden. In dieser Situation vergaß sie, wo der Schalter war. Nachdem sie das Licht, die Heckscheibenheizung und das Nebellicht eingeschaltet hatte, gab sie auf und sprang schnell aus dem Wagen, während sie ihre Kinder aufforderte im Wagen zu warten.
Nachdem die Fahrertür ins Schloss gefallen war, wurde es im Auto mucksmäuschenstill. Die Kinder wagten sich kaum zu atmen.
An der Unfallstelle wurde es umso hektischer. Der Fuß des Verunglückten hing wie ein ausfallender Milchzahn nur noch an einem „seidenen Faden aus Fleisch“ am Rest des Beines, aus dem ein Muskel frei heraushing. Deutlich war der Knochen zu sehen. Der Mann lag völlig verdreht da, seinen Helm hatte er bereits verloren, Daniel nahm ihm das Tuch ab, das er vor seinem Mund hatte. Sekunden nach dem Eintreffen ihres Mannes an der Unfallstelle, erreichte auch Lena den verunglückten Motorradfahrer. Der junge Mann auf dem Asphalt schien noch nicht realisiert zu haben, was passiert war. Er guckte sich mit weit aufgerissenen Augen um und sah Lena in die Augen. - Er war nicht viel älter als sie selbst. Dann versuchte der Verunglückte aufzustehen. Der Knochen des Fußes schrammte über den Asphalt – ein schreckliches Geräusch, als wenn jemand ein großes Stück Plastik über die Straße ziehen würde. Der Fuß drohte abzureißen, Lena wollte helfen, war aber kurze Zeit nicht in der Lage sich zu bewegen. Außerdem hatte sie Angst den Fuß abzureißen – was hätte sie tun können? Daniel war da. Er drückte den Schwerverletzten auf den Boden: „Nicht bewegen, wir sind jetzt bei dir“, versuchte er den jungen Mann zu beruhigen. Dieser hörte auf ihn und blieb liegen. Seine Augen schienen Halt zu suchen, wortlos nach Hilfe zu schreien. Lena wusste, dass sie ihr Handy nicht dabei hatte, während ihr nur noch ein Gedanke durch den Kopf schoss: „Schnell - 112“ Das Krankenhaus war nicht mehr weit weg und Lena wäre um ein Haar zurück ins Auto gesprungen, um dorthin zu fahren, doch dann sah sie andere Zeugen, die dabei waren den Krankenwagen zu rufen.
„Schnell, einen Gürtel!“, brüllte Daniel mit energischem Ton. Lena versuchte in Windeseile ihren Gürtel aus der Hose zu ziehen. Kaum hatte sie ihn ihren Mann überreicht, lief sie zurück zum Auto. Sie riss den Kofferraum brutal auf und suchte nach einem Erste-Hilfe-Kasten. Der rote Beutel fiel ihr zum Glück gleich ins Auge und auf nichts achtend rannte sie damit zurück zum Unfallort. Kaum hatte sie auch diesen ihrem Mann überreicht und einige Schritte zurück gemacht, blieb sie wie angewurzelt stehen und zitterte. Bilder von schweren Verletzungen kannte sie aus den Fernsehen, Internet und von Fotos bei Erste-Hilfe-Kursen, aber dies hier war anders.
Weder das Fernsehen, noch das Internet oder Archivfotos schauen dich direkt an, keines dieser Medien lässt einen die Todesangst der Opfer spüren, keines fordert dich auf, Verantwortung zu übernehmen.
Verantwortung, die Lena nicht im Stande war zu übernehmen. – Der Notarzt war alarmiert, das Bein war abgebunden, der Erste-Hilfe-Koffer am Unfallort. Lena atmete schneller, ihr wurde übel, das Zittern geriet außer Kontrolle. Daniel bemerkte es und schrie: „Ich weiß, dass du so etwas nicht abkannst. Geh ins Auto zu den Kindern und warte dort. Kümmer dich um die Kinder!“ Lena verließ die Unglücksstelle wie ferngesteuert und ging zurück zum Wagen. Sie hatte ihn noch nicht ganz erreicht, als sie den Motorradfahrer von der Unfallstelle aus schreien hörte. Sie drehte sich um und stand nun wieder unbeweglich da. Eine Frau kam auf sie zu: „Kommen Sie mal mit.“ „Nein, meine Kinder...“, brachte es Lena noch über die Lippen. - „Wo sind ihre Kinder?“ Lena zeigte mit zitternem Zeigefinger auf den Polo, der dort mitten auf der Fahrbahn stand – wenige Meter vom Unglücksort entfernt. „Wo bleibt denn der Krankenwagen?“, drang es aus Lena. – „Ich weiß auch nicht, das Krankenhaus ist hier gleich um die Ecke... Der kommt bestimmt jeden Augenblick.“ Lena versuchte wieder Richtung Polo zu gehen, hielt dann aber inne: „Wir wollten hier eigentlich gar nicht lang fahren“, weinte Lena, „wo bleibt denn der Krankenwagen?“ Die Frau nahm Lena in den Arm: „Der ist sicher gleich hier. Ich werde mitkommen zu ihren Kindern. Geht’s?“ Lena wischte sich die Tränen aus ihrem Gesicht und nickte. Mit weichen Knien gingen die beiden Frauen zum Auto.
„Hallo, ich bin Karen und wer seid ihr?“, fragte die Frau als sie in das Auto einstieg. Verängstigte Blicke wurden ihr zugeworfen, aber keine Antwort. „Ahhhhhhhhhhh“, die durchdringende Männerstimme von der Unfallstelle verstärkten diese Blicke.
Lena stieg aus und schlug die Kofferraumtür zu, die sie nach dem Herausnehmen des Verbandkastens nicht wieder geschlossen hatte. Wieder im Auto schaltete sie das Radio ein, um das Schreien zu übertönen. Die Kinder blieben stumm. „Das ist Malte und das Jessica“, stellte die junge Mutter ihre Kinder vor. Lenas Blick fiel auf den Boden vor Maltes Füßen. „Ich habe deinen Gameboy gefunden“, sagte sie und hob ihn auf. Malte nahm ihn vorsichtig und schweigend entgegen. „Wie alt seid ihr denn?“, wollte Karen von den beiden wissen. Malte guckte kurz auf seine kleine Schwester und glaubte wohl, er müsse stark sein, um sie zu beruhigen. „Ich bin fünf“, fing er vorsichtig an. Als Jessica nicht antwortete, fügte er „sie ist erst drei“, hinzu.
Endlich, nach unendlichem Warten von 3 Minuten, tauchten die Rettungskräfte auf. Zuerst ein Polizeibulli, Sekunden später 2 Krankenwagen und ein Notarztwagen.
„Mein Freund Benni ist im Kindergarten mal von der Schaukel gefallen und es hat geblutet, aber es war dann doch nicht so schlimm wie es aussah“, versuchte Malte alle um sich herum zu beruhigen. „Genau, Malte“, fing seine Mutter vorsichtig an, obwohl sie vom Gegenteil überzeugt war. – Der Fuß war ab. „Der kommt jetzt ins Krankenhaus und in ein paar Wochen ist wieder alles okay.“ Lenas Stimme zitterte und auch die beiden Kinder merkten sofort, wie unrealistisch diese Aussage war. „Guck mal, Jessica, so viele Krankenwagen“, versuchte der verantwortungsbewusste Fünfjährige abzulenken, „genauso einen fährt Papa auch.“
„... Ich spür dich ganz nah hier bei mir, kann deine Stimme im Wind hör’n...“, drohte das Radio in der dann folgenden Pause. Das Gesicht des 22jährigen Motorradfahrers erschien wieder vor Lenas geistigem Auge. Todesangst, lautlose Schreie...
Karen schaltete das Radio aus und legte ihre Hand beruhigend auf Lenas Schulter. Die Autotür ging auf und Daniel stand vor ihr. Sie fiel ihm sofort in die Arme. Lena sah den Krankenwagen wegfahren. „Also, ich kann jetzt nicht weiter fahren“, flüsterte Lena. „Ich auch nicht“, gab Daniel zu und es folgte eine Pause voller Ungewissheit. „Zu McDonalds ist es nicht mehr weit“, bemerkte der Lebensretter, „wir können da erstmal zu Fuß hingehen.“ Lena nickte: „Fährst du den Wagen zur Seite?“ Daniel nahm die Autoschlüssel entgegen und lenkte den Polo vorsichtig auf den Parkstreifen. Als der Wagen eingeparkt war, stieg die Familie aus und machte sich zu Fuß auf den Weg zu McDonalds.
Ganz bewusst spürte Lena ihre gesunden Beine – jeder Schritt ein kleines Wunder, keiner war mehr selbstverständlich. An jeder Hand klammerte sich ein Kind fest, beunruhigend ruhig gingen sie die Straße entlang, vorbei an der Polizeiabsperrung bis zu McDonalds. „Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen“, schoss es Lena durch den Kopf, als sie sich daran erinnerte, wie sehr sie sich noch vor einigen Minuten etwas Ruhe gewünscht hatte.