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Rushhour

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28.10.2004
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Rushhour

Rushhour

Im letzten Moment gelingt es Torsten Sander die Tür der S-Bahn zu erreichen. Er schlüpft durch den immer schmaler werdenden Spalt und sucht in dem überfüllten Abteil einen Sitzplatz. Rushhour.
Torsten Sander ist 42 Jahre alt. Deutscher. Kölner, um genau zu sein. Angestellter in einer Kfz-Werkstatt. Mittelständler. Verheiratet. Zwei Kinder. Die wenige Freizeit, die ihm neben der Arbeit und der Familie bleibt, widmet er gerne seiner Münzsammlung, seiner Lieblingskneipe, einem Fußballspiel, einem gemütlichen Grillabend. Von Zeit zu Zeit macht er sich Sorgen um seinen Haaransatz und die Entwicklung der Bier- und Benzinpreise.
Entsetzen packt ihn, als er entdeckt, dass sich der einzige freie Sitzplatz neben einem Ausländer befindet. Das hat ihm gerade noch gefehlt. Der Mann sieht arabisch aus, aber nicht übermäßig. Dunkle Haare, vernarbtes, großporiges Gesicht, ungefähr dreißig oder vierzig Jahre alt. Torsten Sander zögert. Er verspürt das dringende Bedürfnis, sich auszuruhen, die Kraft, um sich noch ein, womöglich zwei Abteile weiter zu quälen hat er nicht mehr. Seinen Widerwillen unterdrückend, setzt er sich neben den Ausländer, der ihm freundlich zunickt. Scheiß-Iraner. Diese Aufdringlichkeit widert ihn an. Als nächstes würde dieser Kerl ihm womöglich noch etwas verkaufen wollen, ihm irgendeinen kaputten Wagen andrehen oder sonst was.
Sofort steigt Torsten Sander der Körpergeruch seines Nachbarn in die Nase. Er erinnert an alte Textilien, Reinigungsmittel, Männerschweiß und an die Dämpfe einer stickigen Küche. Unvermeidlich wird ihm übel und er versucht, sich so sehr es geht von dem Mann zu entfernen. Auch wenn er sonst kein mutiger Mann ist, seine Abneigung gegen solche Typen zeigt Torsten Sander sehr offen.
Bei solchen Leuten ist es nie ganz sicher, ob sie nicht plötzlich eine Waffe ziehen und ihrem religiösen Fanatismus mit blutigen Messerstichen ausleben. Im nächsten Moment muss er an Sprengstoff denken und seine Hände beginnen zu zittern. Dann besinnt er sich, das kurze Gefühl der klaren Bedrohung macht seinem Hass platz. Wegen solcher Menschen lebt er in Unsicherheit. Sie nahmen Arbeitsplätze. Nicht seinen, aber er war sicher, sie klauten sie reihenweise. Wahrscheinlich ist der da einer von denen, die es sich hier auf Kosten von Steuergelder gut gehen lassen, weil sie in Syrien oder sonst wo zu schwer arbeiten mussten. Nein, er nicht, er würde keinem von denen irgendetwas schenken. Die meisten konnten nicht einmal richtig Deutsch sprechen, von dem Gebrabbel konnte man oft gar nichts verstehen.
„Guten Tag. Den Fahrschein, bitte.“ Die Stimme des Kontrolleurs reißt Torsten Sander aus seinen Gedanken, er erschrickt kurz. Sogleich wühlt er in seiner alten ledernen Aktentasche nach seiner Geldbörse. Die gleichmäßig intonierende Stimme des Bahnangestellten nähert sich. Der Kfz-Meister durchsucht seine Brieftasche und findet nichts, außer Geld und Mitgliedskarten. Verwundert durchwühlt er seine Tasche erneut, dann fasst er an die Brusttasche seines Hemdes, kontrollierte die Taschen seiner Hose. Nichts. Er bemerkt, wie ihn der Ausländer, seinen eigenen Fahrausweis bereits gezückt, aus den Augenwinkel beobachtet. Der verdammte Mistkerl.
„Glotz gefälligst nicht so.“ Murmelt Torsten Sander ohne zu wissen, ob sein Nachbar ihn verstanden hat.
Die Stimme ist jetzt ganz nah, der Ausländer zeigt bereits lächelnd seinen Fahrausweis. Torsten Sander spürt, wie die Hitze in seinem Nacken zunimmt, kleine glühende Nadeln. Panisch sucht er weiter. Der Kontrolleur, kurze blonde Haare, sehr groß, etwa siebenundzwanzig, wartet bereits ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden klopfend. Die Szene lenkt langsam auch die Aufmerksamkeit der anderen Fahrgäste auf sich. Es wird zunehmend unangenehmer für den Mann im Mittelpunkt. Mittlerweile zittern seine Finger und der Schweiß rinnt ihm in kleine Tröpfchen über die Stirn. Verzweifelt schaut er in das Gesicht des Kontrolleurs.
*
Der Sommer spült eine Woge heiße Luft in das Abteil, in dem Moment als die Türen sich schließen. Arian Shakur nickt dem Mann, der sich anschickt sich neben ihn zu setzen, freundlich zu und versinkt wieder in Gedanken. Während Bäume, Büsche und Beton vor seinem Blick auftauchen und wieder verschwinden, denkt er an seine Heimat.
Arian Shakur ist neununddreißig Jahre alt. Deutscher. Angestellter in einem italienischen Restaurant, als Pizza-Kurier. Verheiratet, zum zweiten Mal. Drei Kinder, mit denen er jede Minute verbringt, in der er nicht arbeitet oder schläft.
Arian denkt an seine Heimat. Afghanistan. Er war dort Polizeibeamter gewesen, vierzehn Jahre lang. Bis die Taliban seine Frau, Maryam, und seine zwei ältesten Söhne Yasouf und Hasib abschlachteten und ihn selbst eine Stunde auf offener Straße folterten.
Um den Rest seiner Familie zu retten, floh Arian. Erst nach Indien, wo er seine zweite Frau kennen lernte, dann nach Deutschland. Niemals konnte Tara, seine indische Frau, Maryam ersetzen. Aber ihre Gesellschaft tat gut und sie war eine große Hilfe, bis der Frust über ihre geringen Fortschritte bei dem Erlernen der deutschen Sprache sie wie tiefe Depressionen auffraß und Arian sich neben der Arbeit, die er erst nach zwei Jahren bekommen hatte, auch noch um den Haushalt kümmern musste. Sie wohnten zu fünft in einem winzigen Raum eines Wohnheims. Arian ließ den Kindern und Tara das Bett, er selbst schlief auf dem Flur. Drei Jahre lang war kein Deutscher bereit gewesen, ihnen eine Wohnung zu vermieten. Und das, weil er Ausländer war, weil er Narben hatte und weil er das Wort ´Kaution´ nicht richtig aussprach. Jetzt, nach fünf Jahren, hatte er einen festen Arbeitsplatz, eine angemessene Wohnung, seine Kinder – auch seine Tochter – durften zur Schule gehen, er konnte sich verständigen und hatte sogar einige wenige Menschen gefunden, die froh waren, sich seine Freunde nennen zu dürfen.
Er hört die Stimme des Kontrolleurs und zieht seine Fahrkarte aus seiner Hosentasche.
Arian hatte einsehen müssen, dass er nur von dem einen Käfig in den nächsten geflüchtet war. Nur die Gitter waren aus anderem Material. Aber es blieb ein Gefängnis. Deutschland bot seiner Familie Leben. Aber sie bezahlte mit dem Preis der Fremde. Für Arian ist Deutschland ein Traum, der nicht hält, was er versprochen hat. Und doch ist es besser der betrogene Fremde zu sein, als der versklavte Vertraute. Arian hat hinter den Gittern, die die Menschen um ihn webten, gelernt, wie man freier von all dem werden konnte. Trotz allem ist er nicht sauer auf die Menschen, die sind wie dieser Mann neben ihm, der ihn seit ihrer Begegnung mit Verachtung straft, der ihm jeden Augenblick schmerzlich bewusst macht, wer Gastgeber und wer unwillkommener Gast ist. Er verurteilt sie nicht wegen ihres Mangels an Wissen oder ihrer Blindheit für moralische Maßstäbe. Er versteht sie, hat Mitleid, denn er weiß, was Angst bedeutet. Was Angst wirklich bedeutet. Er weiß, diese Menschen haben Angst und sind wütend, aufgrund ihrer Angst. Doch mit der Zeit hat er gelernt, wie gegen diese Art von Angst vorgegangen werden muss. Wenn etwas Fremdes nur einseitig, nur als Mythos, der immer erst von jedem einzelnen persönlich mit fassbaren Begriffen gefüllt werden muss, betrachtet wird, bleibt es fremd. Arian zeigt dem Mann eine andere Seite.
„Er fährt auf meine Karte“, sagte er in fehlerfreiem Deutsch. „Er gehört zu mir.“

ENDE

 

Hallo Anna-Fee,

das ist eine typische plakative Gegenüberstellung, natürlich nicht falsch in ihrer Aussage, aber eben auch immer wieder gerne gewählt.
Die Gedanken bei Arian sind mir dabei ein bisschen zu gütlich, verständlich und politisch korrekt rüber gekommen, vor allem aber zu reflektiv sinnierend. Die Pointe war irgendwie schon klar, als Torsten Sander noch nach seinem Fahrschein suchte. Solche Geschichten gehen immer so aus.

Im letzten Moment gelingt es Torsten Sander die Türe der S-Bahn zu erreichen.
Ist eine stinknormale Tür der S-Bahn nicht fein genug?
Unvermeidbar wird ihm übel
Entweder ist es unvermeidbar, dass ihm übel wird (auch da wäre die Infinitivbildung schöner) oder ihm wird unvermeidlich übel.
und seine Hände beginnen zu zittert.
zu zittern
Wegen solchen Menschen lebt er in Unsicherheit.
Wegen solcher Menschen (Genitiv)
Sie nahmen Arbeitsplätze. Nicht seinen, aber er war sicher, sie klauten sie reihenweise.
Warum plötzlich Vergangenheit?
Wahrscheinlich ist der da einer von denen, die es sich hier auf Kosten von Steuergelder gut gehen lassen
und hier wieder Gegenwart?
Er war dort Polizeibeamter gewesen, vierzehn Jahre lang.
Die einfach Vergangenheit reicht hier völlig aus
Er verurteilt sie nicht wegen ihrem Mangel an Wissen oder ihrer Blindheit für moralische Maßstäbe.
wegen ihres Mangels an Wissen (Genitiv)

Lieben Gruß, sim

 

Hej Anna-Fee,

keine schlechte Idee, aber eben auch schon recht bekannt. Das beste Beispiel für Ausländerfeindlichkeit in Verbindung mit Fahrscheinen ist übrigens der Kurzfilm "Schwarzfahrer", der sogar einen Preis (ich glaube, in Cannes) gewann. Der geht allerdings etwas anders aus und ist erfrischend komisch. :)

An Deiner Sprache gibt es nichts auszusetzen, sehr angenehm zu lesen, sehr flüssig und eingängig.

Zwei Fehler hab ich auch noch gefunden:

Die meisten konnten nicht einmal richtig Deutsch sprechen, von dem Gebrabbel konnte man oft gar nichts verstehen.
Die Stimme des Kontrolleurs reißt Torsten Sander aus seinen Gedanken, er erschrickt kurz.

Die Pointe war auch für mich vorhersehbar, und auch ich empfand den Text zu sehr schwarz-weiß gemalt. Um plakativ einen Finger zu heben und zu sagen, dass es so nicht geht, ist der Text sicher gut geeignet, aber ein Leser, der es lieber subtil mag, der vielleicht eh für das Thema schon sensibel ist, wird sich schnell erschlagen fühlen. (Wobei zu diskutieren wäre, ob wir nicht inzwischen viel mehr Leser der ersten Sorte in D haben)

Liebe Grüße
chaosqueen

 

hallo Anna-Fee
ich habe das auch gerne gelesen, und mit Fluss. Aber ich war auch froh, nach dem deutschen Teil, die fremde Seite zu lesen - sonst hätte ich aufgrund der Denke an den Nägeln gekaut - auch wenn viele Menschen so denken mögen.
Sim hat mir weitern Aufschluss über die Geschichte gegeben - was leider etwas zur Abwertung führt.
Was mir auffiel: jemand der bereits eine Familie gegründet hat, sich zudem über Benzinpreise erregt und noch in einer KFZ-Werkstatt arbeitet, das der sich ausgerechnet mit fliegenden Fahnen in die S-Bahn quetscht halte ich für ungewöhnlich. Ausserdem fährt der bestimmt nicht zur Rush-hour, sondern wenigsten um 6 Uhr los - das ist noch Frühfahrt. Rushhour haben die Sesselfurtzer.
Auch ist mir seine physische Lage nicht einsichtig - auch wenn der Fremde sagt, wir hätten immer Angst - ich denke eher, wir sind ständig in Zeitnöten, aber in Angst?
Das Du bei dem Deutschen ständig Vor und Nachname gewählt hast, hat mich gestört.

 

Hallo @ all!

Erstmal: Danke für´s Lesen und Kommentieren. Ihr habt schon recht, diese Geschichte sollte eine gaz primitive Spiegelung/ Gegenüberstellung sein, daher habe ich auch so stark mit den Klischées gearbeitet. Natürlich, keine neue Idee, keine neue Situation, Alltag. Schwarz. Weiß. Mir war es vor allem wichtig, die Banalität und die Lächerlichkeit von Angst und Hass der deutschen Version der anderen ausländischen gegenüberzustellen. Herrn "Arian Shakur" ist übrigens eine reale person, natürlich heisst er anders.

Vielen Dank auch für´s Korrigieren. Hoffe, ich habe nun alle Fehler getilgt.

lieb grüsst Fee

 

Hallo Anna-Fee,

leider konnte mich deine Geschiche instesamt nicht so sehr begeistern. Ich möchte jetzt nicht alles nachkauen, was andere schon gemacht haben, also nur kurz. Die Idee war weder neu, noch sonderlich originell umgesetzt. Insgesamt fand ich deine Geschichte sehr klischeehaft, was sicherlich auch daran lag, dass die Idee eben nichts Neues ist.
Thematisch fand ich die Geschichte schon ansprechend, aber es wäre interessant, hier noch etwas neues herauszuholen, z.B. kommt mir gerade der Gedanke, dass auch Arian Vorurteile gegenüber Deutschen haben könnte. Sicherlich ist es nicht einfach, in ein völlig fremdes Land einzuwandern und bestimmt schätzt man die dort lebenden Menschen auch oft falsch ein.

Stilistisch war deine Geschichte in Ordnung, flüssig zu lesen.

Als störend empfand ich, dass du des Öfteren das Alter der Personen geschätzt hast - auf z.B. 37 Jahre. Ich bin der Meinung, dass dies für eine Schätzung zu genau ist. Eine Bezeichnung wie "Mitte Dreißig" oder ähnlich, hätte mir hier besser gefallen.

LG
Bella

 

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