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Rushhour
Rushhour
Im letzten Moment gelingt es Torsten Sander die Tür der S-Bahn zu erreichen. Er schlüpft durch den immer schmaler werdenden Spalt und sucht in dem überfüllten Abteil einen Sitzplatz. Rushhour.
Torsten Sander ist 42 Jahre alt. Deutscher. Kölner, um genau zu sein. Angestellter in einer Kfz-Werkstatt. Mittelständler. Verheiratet. Zwei Kinder. Die wenige Freizeit, die ihm neben der Arbeit und der Familie bleibt, widmet er gerne seiner Münzsammlung, seiner Lieblingskneipe, einem Fußballspiel, einem gemütlichen Grillabend. Von Zeit zu Zeit macht er sich Sorgen um seinen Haaransatz und die Entwicklung der Bier- und Benzinpreise.
Entsetzen packt ihn, als er entdeckt, dass sich der einzige freie Sitzplatz neben einem Ausländer befindet. Das hat ihm gerade noch gefehlt. Der Mann sieht arabisch aus, aber nicht übermäßig. Dunkle Haare, vernarbtes, großporiges Gesicht, ungefähr dreißig oder vierzig Jahre alt. Torsten Sander zögert. Er verspürt das dringende Bedürfnis, sich auszuruhen, die Kraft, um sich noch ein, womöglich zwei Abteile weiter zu quälen hat er nicht mehr. Seinen Widerwillen unterdrückend, setzt er sich neben den Ausländer, der ihm freundlich zunickt. Scheiß-Iraner. Diese Aufdringlichkeit widert ihn an. Als nächstes würde dieser Kerl ihm womöglich noch etwas verkaufen wollen, ihm irgendeinen kaputten Wagen andrehen oder sonst was.
Sofort steigt Torsten Sander der Körpergeruch seines Nachbarn in die Nase. Er erinnert an alte Textilien, Reinigungsmittel, Männerschweiß und an die Dämpfe einer stickigen Küche. Unvermeidlich wird ihm übel und er versucht, sich so sehr es geht von dem Mann zu entfernen. Auch wenn er sonst kein mutiger Mann ist, seine Abneigung gegen solche Typen zeigt Torsten Sander sehr offen.
Bei solchen Leuten ist es nie ganz sicher, ob sie nicht plötzlich eine Waffe ziehen und ihrem religiösen Fanatismus mit blutigen Messerstichen ausleben. Im nächsten Moment muss er an Sprengstoff denken und seine Hände beginnen zu zittern. Dann besinnt er sich, das kurze Gefühl der klaren Bedrohung macht seinem Hass platz. Wegen solcher Menschen lebt er in Unsicherheit. Sie nahmen Arbeitsplätze. Nicht seinen, aber er war sicher, sie klauten sie reihenweise. Wahrscheinlich ist der da einer von denen, die es sich hier auf Kosten von Steuergelder gut gehen lassen, weil sie in Syrien oder sonst wo zu schwer arbeiten mussten. Nein, er nicht, er würde keinem von denen irgendetwas schenken. Die meisten konnten nicht einmal richtig Deutsch sprechen, von dem Gebrabbel konnte man oft gar nichts verstehen.
„Guten Tag. Den Fahrschein, bitte.“ Die Stimme des Kontrolleurs reißt Torsten Sander aus seinen Gedanken, er erschrickt kurz. Sogleich wühlt er in seiner alten ledernen Aktentasche nach seiner Geldbörse. Die gleichmäßig intonierende Stimme des Bahnangestellten nähert sich. Der Kfz-Meister durchsucht seine Brieftasche und findet nichts, außer Geld und Mitgliedskarten. Verwundert durchwühlt er seine Tasche erneut, dann fasst er an die Brusttasche seines Hemdes, kontrollierte die Taschen seiner Hose. Nichts. Er bemerkt, wie ihn der Ausländer, seinen eigenen Fahrausweis bereits gezückt, aus den Augenwinkel beobachtet. Der verdammte Mistkerl.
„Glotz gefälligst nicht so.“ Murmelt Torsten Sander ohne zu wissen, ob sein Nachbar ihn verstanden hat.
Die Stimme ist jetzt ganz nah, der Ausländer zeigt bereits lächelnd seinen Fahrausweis. Torsten Sander spürt, wie die Hitze in seinem Nacken zunimmt, kleine glühende Nadeln. Panisch sucht er weiter. Der Kontrolleur, kurze blonde Haare, sehr groß, etwa siebenundzwanzig, wartet bereits ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden klopfend. Die Szene lenkt langsam auch die Aufmerksamkeit der anderen Fahrgäste auf sich. Es wird zunehmend unangenehmer für den Mann im Mittelpunkt. Mittlerweile zittern seine Finger und der Schweiß rinnt ihm in kleine Tröpfchen über die Stirn. Verzweifelt schaut er in das Gesicht des Kontrolleurs.
*
Der Sommer spült eine Woge heiße Luft in das Abteil, in dem Moment als die Türen sich schließen. Arian Shakur nickt dem Mann, der sich anschickt sich neben ihn zu setzen, freundlich zu und versinkt wieder in Gedanken. Während Bäume, Büsche und Beton vor seinem Blick auftauchen und wieder verschwinden, denkt er an seine Heimat.
Arian Shakur ist neununddreißig Jahre alt. Deutscher. Angestellter in einem italienischen Restaurant, als Pizza-Kurier. Verheiratet, zum zweiten Mal. Drei Kinder, mit denen er jede Minute verbringt, in der er nicht arbeitet oder schläft.
Arian denkt an seine Heimat. Afghanistan. Er war dort Polizeibeamter gewesen, vierzehn Jahre lang. Bis die Taliban seine Frau, Maryam, und seine zwei ältesten Söhne Yasouf und Hasib abschlachteten und ihn selbst eine Stunde auf offener Straße folterten.
Um den Rest seiner Familie zu retten, floh Arian. Erst nach Indien, wo er seine zweite Frau kennen lernte, dann nach Deutschland. Niemals konnte Tara, seine indische Frau, Maryam ersetzen. Aber ihre Gesellschaft tat gut und sie war eine große Hilfe, bis der Frust über ihre geringen Fortschritte bei dem Erlernen der deutschen Sprache sie wie tiefe Depressionen auffraß und Arian sich neben der Arbeit, die er erst nach zwei Jahren bekommen hatte, auch noch um den Haushalt kümmern musste. Sie wohnten zu fünft in einem winzigen Raum eines Wohnheims. Arian ließ den Kindern und Tara das Bett, er selbst schlief auf dem Flur. Drei Jahre lang war kein Deutscher bereit gewesen, ihnen eine Wohnung zu vermieten. Und das, weil er Ausländer war, weil er Narben hatte und weil er das Wort ´Kaution´ nicht richtig aussprach. Jetzt, nach fünf Jahren, hatte er einen festen Arbeitsplatz, eine angemessene Wohnung, seine Kinder – auch seine Tochter – durften zur Schule gehen, er konnte sich verständigen und hatte sogar einige wenige Menschen gefunden, die froh waren, sich seine Freunde nennen zu dürfen.
Er hört die Stimme des Kontrolleurs und zieht seine Fahrkarte aus seiner Hosentasche.
Arian hatte einsehen müssen, dass er nur von dem einen Käfig in den nächsten geflüchtet war. Nur die Gitter waren aus anderem Material. Aber es blieb ein Gefängnis. Deutschland bot seiner Familie Leben. Aber sie bezahlte mit dem Preis der Fremde. Für Arian ist Deutschland ein Traum, der nicht hält, was er versprochen hat. Und doch ist es besser der betrogene Fremde zu sein, als der versklavte Vertraute. Arian hat hinter den Gittern, die die Menschen um ihn webten, gelernt, wie man freier von all dem werden konnte. Trotz allem ist er nicht sauer auf die Menschen, die sind wie dieser Mann neben ihm, der ihn seit ihrer Begegnung mit Verachtung straft, der ihm jeden Augenblick schmerzlich bewusst macht, wer Gastgeber und wer unwillkommener Gast ist. Er verurteilt sie nicht wegen ihres Mangels an Wissen oder ihrer Blindheit für moralische Maßstäbe. Er versteht sie, hat Mitleid, denn er weiß, was Angst bedeutet. Was Angst wirklich bedeutet. Er weiß, diese Menschen haben Angst und sind wütend, aufgrund ihrer Angst. Doch mit der Zeit hat er gelernt, wie gegen diese Art von Angst vorgegangen werden muss. Wenn etwas Fremdes nur einseitig, nur als Mythos, der immer erst von jedem einzelnen persönlich mit fassbaren Begriffen gefüllt werden muss, betrachtet wird, bleibt es fremd. Arian zeigt dem Mann eine andere Seite.
„Er fährt auf meine Karte“, sagte er in fehlerfreiem Deutsch. „Er gehört zu mir.“
ENDE