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... sagt der Rabe
Draußen scheint die Sonne, fällt durch das schräge Fenster auf den hässlichen Linoleumfußboden. Zwölf leere Umzugskartons stapeln sich in der Zimmerecke. Der Inhalt meines Kleiderschrankes hat in drei davon gepasst. Wie untypisch für ein Mädchen.
Der Großteil meiner Kleidung ist mittlerweile schwarz. Ich habe ein bisschen Angst vor Hamburgs breiten Straßen. Lübeck war kleiner, vertrauter. Man kannte sich. Kennt man sich hier? Ich kenne niemanden.
Ich war schon einmal in Hamburg, als ich klein war. Damals bin ich mit meiner Mutter regelmäßig zu einer Musiktherapie gefahren. Das Haus war nicht weit vom Jungfernstieg entfernt, es waren nur zwei Minuten zu Fuß, sogar für ein kleines Kind, das nicht auf die Ritzen im Pflaster treten darf, weil sonst Bären kommen und es fressen.
Am Jungfernstieg gab es eine Eisdiele. Nach jeder Sitzung habe ich meine Mutter angebettelt, damit sie mir zwei Kugeln kaufte. Erdbeer und Zimt.
Ich könnte ja mal nachsehen.
Nur so.
Ich muss also hier raus, aus diesem Zimmer, das nicht meins ist, blicke noch einmal über die Schulter. Die Kisten sind ausgepackt und stehen leer im Weg herum. Meine Poster hängen an den Wänden, mein Bett steht in der Ecke, ich bin hier nicht zu Hause.
Meine Mutter ist im Erdgeschoss, packt Dinge aus, rumort herum. Mein kleiner Bruder liegt im Zimmer neben mir auf einer Matratze und liest, anstatt seine Sachen auszuräumen. Später wird er sich darüber beschweren, dass er nichts findet, und sie wird sagen, dass er in den Kisten gucken soll, die sie extra beschriftet hat. Ich hasse ihn jetzt schon dafür. Ich überlege, ob ich ihn kurz darauf hinweisen soll, dass noch etwa hundert Kartons mit Kuscheltieren überall herumstehen, ohne die er heute Nacht garantiert nicht schlafen kann, aber dann gehe ich doch die Treppe nach unten.
Ich greife meinen Ledermantel aus der riesigen Garderobenkiste, schleiche mich an meiner Mutter vorbei und mache mich auf den Weg. Ich habe einen MP3-Player, er wiegt ungefähr eine Tonne, hat dafür aber viel Speicherplatz, einige Gigabyte. Ich bin eine der ersten aus meinem Freundeskreis, die einen hat. Die U-Bahn-Station ist etwa anderthalb Kilometer von diesem Haus entfernt, und es ist drückend heiß.
Die Bahn rattert über die Schienen. Der Infoscreen zeigt Fakten, Veranstaltungstipps, Comics und Nachrichten, die mich nicht interessieren. Vielleicht hätte ich den Mantel in dem Haus lassen sollen, in dem ich jetzt lebe, aber warum? Ich schwitze nicht, dazu ist mein Blutdruck zu niedrig.
Immer wieder werfen einsteigende Leute mir irritierte Blicke zu. Ich betrachte sie, diese Menschen in ihren knappen und kurzen Sommersachen, aus denen Speckrollen herausquellen oder nicht. Ein fetter, schwammiger Mann steigt ein und setzt sich mir gegenüber. Er schwitzt, ich kann die Tropfen über sein Gesicht laufen sehen. Er widert mich an, dieser ganze Sommer tut es.
Nach zwanzig Minuten in der Bahn fällt mir ein, dass ich zurück nach Hause will.
Nach einer halben Stunde bin ich immer noch nicht am Bahnhof.
Sieben endlose Minuten voller seltsamer Blicke bin ich am Hauptbahnhof Süd, in der unterirdischen Station ist es eiskalt und ich friere. Aber je höher mich die Rolltreppen tragen, desto heißer wird es.
Ich stehe vor dem Bahnhof und sehe mich um. Ein Plan hängt rechts von mir an der Wand, bunte Linien bilden ein geometrisches Muster auf weißem Grund. Ich muss mit meinem kalten blassen Zeigefinger die Linien abfahren, um mein Ziel zu finden. Es ist nicht mehr weit, wenn ich den Weg kennen würde, könnte ich zu Fuß gehen, aber ich weiß ihn nicht.
Alle Bahnen fahren zum Jungfernstieg, bis auf die S21, die S31 und die S11. Ich nehme eine S-Bahn, dränge mich an einem Bahnsteig in den alten, überfüllten Zug und versuche verzweifelt, nicht gegen das knochige, eisessende Kind gedrückt zu werden, das meinen Mantel vollschmiert.
Zum Glück braucht die Bahn nicht lange. Ich quetsche mich durch die Menschentraube, stoße beinahe jemanden um – ich will nicht in dieser Bahn gefangen sein, wenn sie abfährt, will nicht mit all diesen fremden Menschen sonstwohin ins Ungewisse fahren.
Ich verlasse die Station und sehe mich um, es sieht hier anders aus als vor acht Jahren. Aber bald habe ich die Eisdiele ausfindig gemacht, immer nur den Menschen nach, die dorthin drängen als gäbe es etwas umsonst. Sie schubsen und schieben, um schnell an ein Eis zu kommen. Ich stelle mich ans Ende der Schlange.
Versuche, mich fortzuschieben, scheitern an meinen spitzen Ellenbogen. Bald habe ich mein Eis, Erdbeer und Zimt, setze mich an das gusseiserne Geländer, das Selbstmörder und Hobbytaucher von der Alster fernhalten soll, vielleicht.
Die Fontäne spritzt hoch zu den Wolken und bringt irgendwelchen Göttern lebensspendende Kühle. Die gnadenlose Sommersonne zaubert einen Regenbogen. Ich spüre, wie sie mich anstarren, wahrscheinlich bin ich die einzige hier, die vollständig bekleidet ist und mit den Beinen baumelnd an der Alster sitzt.
Ich starre in die müden Wellen und stelle mir vor, es wäre die Trave. Aber die Realität wird nicht von mir allein bestimmt, sondern von all den halbnackten, schwitzenden Menschen um mich herum, und sie sind alle in Hamburg. Die Sonne spiegelt sich blendend hell im Wasser.
Auf einmal ist sie einen Sekundenbruchteil lang verschwunden, ein schwarzer Schatten gleitet über die Wellen. Einen weiteren Sekundenbruchteil lang ist die sengende Hitze fort, die auf mein Haar brennt.
Ich drehe den Kopf und sehe einen großen Raben, der neben mir auf dem Geländer sitzt und den Schnabel in mein Eis versenkt.
Ich bin nicht einmal wirklich verblüfft. Natürlich ist bei diesem Wetter auch dem Vogel heiß.
„Hallo Vogel“, sage ich. Sein Schnabel hat helle Spuren, und meine Zunge gleitet in die Lücke, die sein Schnabel im Zimteis hinterlassen hat.
Der Rabe legt den Kopf schief. Im Augenwinkel sehe ich, wie ein Schwarm Spatzen eine Eiswaffel anfällt, die jemand fortgeworfen hat. Sie verschwindet völlig unter ihren Leibern, und eine Sekunde lang sind die kleinen putzigen Dinger Piranhas. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken.
Ich seufze und sehe in die funkelnden Augen des Raben. „Woher kommst du?“, frage ich.
Er krächzt etwas und beißt nochmal von meinem Eis ab. Ich tue es ihm gleich, halte ihm dann die Waffel hin.
„Ich bin neu hierhergezogen“, sage ich zu ihm und beiße noch einmal ab. Das Eis ist mittlerweile geschmolzen und füllt als klebrige, zimtig-erdbeerige Pampe den unteren Teil der Waffel. Ich trinke ihn aus, und der Rabe ist empört, weil er denkt, dass ich die Waffel allein essen will. Er schlägt wütend mit den Flügeln.
„Ich komm aus Lübeck“, erkläre ich ihm. „Das ist eine schöne Stadt. Nicht so modern wie hier. Bist du mal dort gewesen?“
Der Rabe klaut mir die Waffel und ich lecke die letzten Tropfen Eismatsch von meinen Händen.
„Hamburg ist sicher schön“, versuche ich mich selbst zu überzeugend. Der Vogel legt den Kopf schief, würgt ein Stück Eiswaffel herunter und hüpft dann davon.
„Wohin gehst du, Vogel?“, rufe ich. „Warte doch!“
Ich stehe auf, laufe ihm hinterher. Er hebt jetzt ab, gleitet über die Köpfe der Menschenmenge, eine Straße entlang. Ich folge ihm einige Zeit, bis er auf eine große Kirche zufliegt und sich davor auf etwas setzt, was vermutlich ein modernes Kunstwerk sein soll. Vielleicht ist hier aber auch nur ein Ufo abgestürzt.
„Was willst du hier?“
Mein Führer betrachtet konzentriert die Krallen seiner Füße.
„Ich mag keine Kirchen“, sage ich. „Sie sind kalt.“
Der Rabe hackt nach einer Taube, die beleidigt davonfliegt.
„Ich will da nicht rein.“
Der Rabe schlägt mit den Flügeln, arbeitet sich in die Luft. Dann fliegt er wieder davon und führt mich zum Hauptbahnhof zurück. Er flattert zu einer Gruppe von Jugendlichen, die so merkwürdig gekleidet sind, dass ich mich direkt wohlfühle. Sie haben viele Piercings, Löcher in den Kleidern, tragen Palitücher, schwarz und bunt. Ihre Haare sind schwarz und bunt. Sie sitzen im Eingang der relativ kühlen Wandelhalle und reden.
Der Rabe landet auf meiner Schulter und stößt einen gebieterischen Laut aus. Sie sehen auf, bemerken mich.
„Cool, ist das dein Rabe?“, fragt ein Mädchen mit schwarz-pinken Dreads. Sie trägt irgendetwas, das die Sommerkollektion aus Transsilvanien sein mag.
„Nein, aber ich glaube, ich bin sein Mensch“, sage ich und lächle. Der Rabe pickt nach meinem Ohrring.
Sie lacht, und die anderen lachen auch. Sie öffnen ihren Kreis, ziehen mich zu sich und ich setze mich neben sie. Vorsichtig streiche ich über das blauschwarze Gefieder des Raben und denke, dass der Sommer vielleicht doch ganz gut werden könnte.