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Sanuha
Sanuha umklammerte die Hand ihres Vaters und starrte hinüber zur Diamantenmine, deren verfallene Gebäude lange Schatten in den Sand der Wüste zeichneten. Der rote Ocker der Kalib brannte im letzten Licht des Tages.
»Wir dürfen uns jetzt nicht fürchten«, sagte Taiman und stieß den gefiederten Häuptlingsspeer in den Boden. Als seine Tochter keine Antwort gab, richtete der Krieger den Blick auf das Mädchen.
Sanuha stand bewegungslos in der Glut der untergehenden Sonne. Abendwind spielte in ihrem Haar.
»Weißt du noch, was wir uns vorgenommen haben?«, fragte Taiman.
Sanuha presste die Lippen zusammen und nickte.
»Gut, dann wollen wir gehen.«
Doch Sanuha machte keinen Schritt.
»Lebt sie dort?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Taiman. »Dort lebt sie.«
»Warum ist sie so böse?«
Taiman wandte den Blick von seiner Tochter. Er schaute hinüber zur Siedlung, wo die Arbeitsgebäude der Mine, die Hütten, Schuppen und Unterstände in der Hitze flimmerten.
»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte der Krieger.
»Sag es mir«, beharrte seine Tochter.
»Sie ist nicht böse. Sie ist nur hungrig.«
Und als er sah, dass diese Erklärung nicht genügen würde, löste sich Taiman aus dem Griff seiner Tochter und setzte sich neben sie in den Sand.
Noch einmal berichtete er, wie sie mit der alten Löwin verhandelt hatten, wie sie versprochen hatten, sie bis zum Tag ihres Todes zu ehren, mit Nahrung zu versorgen.
»Diese Mine«, sagte Taiman, »ist das Werk von Männern, die jeden von uns getötet hätten.«
»Warum?«
»Sie waren krank vor Gier«, erwiderte Taiman.
»Und sie hat diese Männer vertrieben?«
»Ja«, sagte Taiman, »und ich habe dir die Geschichte bereits erzählt.«
»Hat sie die Männer getötet?«
Taiman streichelte den Kopf seiner Tochter. »Lass uns jetzt gehen, Sanuha.«
»Wir haben keine Nahrung mehr, die wir ihr geben können, nicht wahr?«, sagte das Mädchen.
Taiman antwortete nicht sofort. »Nein«, sagte er schließlich. »Sie hat uns vor den Minenarbeitern gerettet. Aber ihr Geruch vertreibt das Wild. Unsere Jäger haben seit Wochen nichts gefangen.«
»Das dachte ich mir«, sagte Sanuha. Und dann leise: »Gehen wir.«
Taiman erhob sich, ergriff den Speer und nahm seine Tochter bei der Hand. Sie folgten einem schmalen, ausgetretenen Pfad, der sie bis zur Siedlung führte.
Während sie gingen ließ Sanuha den Eingang der Mine nicht aus den Augen. Es war ein düsterer Schacht, ein wenig abseits gelegen, der schräg in die Tiefe führte. Und obwohl Sanuha kaum etwas über die alte Löwin wusste, war sie überzeugt, dass sie dort lebte, in der kühlen Finsternis des Minenschachts.
»Das tote Mädchen am Fluss«, sagte Sanuha. »Das war also kein Krokodil?«
Taiman blieb stehen.
»Du musst mich nicht anlügen, Vater.«
Noch immer starrte Sanuha zum Schacht hinüber. Keine hundert Schritte trennten sie jetzt vom Eingang der Mine.
»Sie war es«, sagte Taiman. »Und sie wird keine Ruhe geben.«
»Weil wir in ihrer Schuld stehen.«
»Ja«, sagte Taiman, und seine Stimme klang rau.
In diesem Moment trug der Abendwind den Raubtiergeruch der alten Löwin herüber. Sanuha presste die Hand ihres Vaters. »Warum hast du kein anderes Kind ausgewählt?«
»Ich konnte es nicht«, sagte Taiman leise. »Du bist meine Tochter. Du bist die Tochter des Häuptlings.«
»Aber …«
»Das bedeutet …« Taiman suchte nach Worten. »Du bist diejenige, die zählt.«
Als der schlanke Leib der Löwin aus dem Dunkel des Schachts auftauchte, schrie Sanhua. Es war ein kurzer Schrei, hoch und spitz. Sein Nachklang schwebte einen Augenblick über der Wüste.
»Wir dürfen uns jetzt nicht fürchten«, sagte Taiman noch einmal.
Sanuha schloss die Augen. Ihr Körper bebte, in ihren Ohren rauschte es. Wie von weiter Ferne hörte sie ihren Vater: »Sieh hin, Sanuha. Du musst hinschauen.«
Sie öffnete die Augen und erstarrte. Im Blick der Löwin gab es keine Wüste. Keine Mine. Keinen Sand, keine Sonne, keinen Taiman. Im Blick der Löwin gab es nur sie, Sanuha.
»Du musst mich jetzt loslassen«, sagte ihr Vater, und Sanuha gehorchte. Ihr Körper zitterte so sehr, dass ihr Kleid an ihrem Körper schlotterte.
Taiman trat ein paar Schritte zurück. Dann wurde es still, und in dieser Stille näherte sich die alte Löwin auf ihren schweren, lautlosen Pranken. Als nur noch wenige Schritte zwischen ihr und dem Mädchen lagen, hielt sie – eine Vordertatze schwebte in der Luft – abrupt inne, und Sanuha bemerkte etwas Sonderbares. Noch immer fixierten sie die schmalen Augen der Löwin mit einem glühenden Blick, doch jetzt schien sich dieser Blick auf etwas zu richten, das weder Sanuha noch ihr Vater wahrnahm.
»Sie sieht dich«, rief Taiman, machte einen schnellen Schritt und schleuderte den Speer mit solcher Wucht, dass seine Klinge den Leib der Löwin mit Leichtigkeit durchstieß.
Sanuha kniete neben dem Körper der toten Löwin und betrachtete das Tier. Sie hob die Hand, um über das Fell zu streichen, doch dann ließ sie den Arm sinken.
»Du warst sehr tapfer«, sagte Taiman. »Gehen wir zurück zum Dorf.«
Sanuha nickte und erhob sich. Noch einmal schaute sie zum Minenschacht. So stand sie einen Augenblick lang. Die Nacht war angebrochen.
»Was hast du vor?«, rief Taiman, als Sanuha zum Eingang der Mine lief. Doch Sanuha antwortete nicht. Taiman zog den Speer aus dem Körper der Löwin und folgte seiner Tochter.
»Ich will es mir anschauen«, sagte Sanuha, als ihr Vater sie eingeholt hatte.
Taiman schien etwas sagen zu wollen, doch dann schwieg er.
Im Licht einer Fackel drangen sie geduckt ins Innere des Schachts vor. Sie mussten nicht weit gehen.
»Das wusste ich nicht«, sagte Taiman und beugte sich über die beiden Welpen. »Ich dachte, die Löwin ...«
»Wie alt sind sie?«, fragte Sanuha.
»Ihre Augen sind noch nicht ganz geöffnet«, sagte Taiman. »Also sind sie etwa zwei Wochen alt.«
Das Mädchen betrachtete die Welpen, und als Taiman sich umwandte und sagte: »Wir müssen gehen«, ergriff Sanuha seinen Arm.
Taiman schüttelte den Kopf. »Wir können sie nicht mitnehmen. Das weißt du.«
Sanuha schaute ihren Vater an. Im goldenen Licht der Fackel wirkten ihre Züge ernst und klar. »Ich bin Sanuha, die Tochter der Häuptlings«, sagte sie. »Ich bin diejenige, die zählt.«