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Satyrspiel oder Albtraum des Hippokrates
Vor Dr. Sebastian Brentano lag ein Schriftstück, welches er beim Antiquitätenhändler Senyug in Istanbul erworben hatte. Es besass keinen besonders historischen Wert, zumal der Verfasser, Ioanidis aus Thessalien, unbekannt war. Senyug, bei dem er seit vielen Jahren verschiedentlich Raritäten aus der Antike erwarb, sagte:
«Eine authentische Zuordnung des Inhalts an Hippokrates kann ich nicht gewährleisten, auch wenn dessen Name im Text erscheint.»
Brentano wusste, Aufzeichnungen der hippokratischen Lehre erfolgten stets durch Andere und meist auch viel später. Immerhin, die Schrift war in ionischem Dialekt etwa um 360 v. Chr. verfasst worden, da war sich Brentano sicher.
Er begann mit der Übersetzung und hoffte, er könnte vielleicht einen kleinen Mosaikstein ins grosse Bild der altgriechischen Geschichte einfügen, vielleicht auch nur durch eine Nebensächlichkeit aus dem Text.
Nach langem Ringen und Abwägen der Interpretationen war er überzeugt, seine Transkription sei die bestmögliche Annäherung, die er erreichen konnte. Dennoch empfand er sie als fragmentarisch und schwer zu verstehen. Es war kein Gelehrter, der das Schriftstück abfasste, und er selbst nicht vertraut mit antiker Heilkunde. Er müsste den Text noch mit andern Schriften aus dieser Zeit vergleichen, die Denkart von Platon einbeziehen. Ein grosser Aufwand, der sich in seinen Augen lohnen würde.
Eines Nachts, kurz vor drei Uhr, schloss er endlich seine Arbeit ab. Die letzten achtzehn Stunden hatte er beinah pausenlos daran gearbeitet, in den Werken von Platon und Anonymus Londonensis nachgeschlagen, Vergleiche gezogen und Worte wieder verworfen. Nun meinte er, die Aussagen gedeutet zu haben. Die Strapazen der Arbeit, vor allem die Erkenntnis über den Inhalt des Schriftstücks, hatten ihn erschöpft. Vorerst wollte er ausgiebig schlafen, um dann mit klarem Verstand das Ganze nochmals zu überdenken.
*
«Ich, Ioanidis aus Thessalien, wurde von meinem Herrn in sehr früher Morgenstunde zu ihm gerufen. Erst dachte ich, er brauche eine Medizin, da er altersbedingt gesundheitlich angegriffen war, doch wollte er mir einen Traum mitteilen. Er war sehr erregt, wie ich ihn noch nie erlebte. Auch nahm er mir das Versprechen ab, mit niemandem jemals darüber zu reden, was er mir nun erzählen werde. Dann begann er.
Mir, Hippokrates aus Kos, wurde diese Nacht ein visionärer Traum zuteil, der die äskulapische Kunst, wie ich sie lehre, in einer unvorstellbaren Art infrage stellt und den Anspruch an die Fehlerlosigkeit ignoriert. Es musste tausend, doppelt so viel oder noch mehr Jahre später sein, die Welt, welche ich erblickte, war mir fremd. Und doch verstand ich, was diese Ärzte sagten, als es sich mir offenbarte. Sie waren in einem grossen Haus versammelt, führten Behandlungen durch, die weit jenseits der von mir gelehrten Anwendungen und fern meiner Erfahrungen waren. Entgegen meiner Lehre aktivierten sie nicht die Selbstheilungskräfte des Menschen, sondern meinten, mit ihren Methoden über der Natur zu stehen. Es ist nicht einzig dies, das mich schockierte. Sie ersetzten am Körper von Menschen Teile, töteten ungeborenes Leben und züchteten einem Zauber gleich neu keimend organisches Leben, angeblich Heil bringend. Der Natur wurde ins Handwerk gepfuscht, als ob sie die Götter selbst verkörperten. Dabei waren sie masslos, was sie am Körper zu erkennen vermeinten, glaubten alles zu verstehen und deuten zu können, auch wenn es fern von Sichtbarem lag. Meine Erkenntnis, dass der Charakter und der Körper des Menschen in symbiotischer Beziehung stehen, war bedeutungslos und wurde ignoriert, ebenso vereinnahmten sie das Wissen der Philosophen als das ihre und vermischten es willkürlich mit eigenen Theorien. Um den Ungebildeten ihre vorgeblichen Wahrheiten glaubhaft zu machen, schufen sie verschiedene Fachbereiche, einander die Patienten austauschend und jeder reichlich daran verdienend.
Bei einem Rundgang in diesem Haus sah ich merkwürdige Dinge, etwa mechanische Konstruktionen, die das innerste des Menschen erklären, und angeblich auch ihr Blut und die Säfte deuten sollten.
Die Fülle an Eindrücken, die mich überkamen, waren weitaus mehr und masslos erschreckend. Das Prinzip, keinen Menschen anzufassen, wenn man nicht mit Gewissheit eine Heilung erzielen kann, wurde nicht eingehalten. Der Gewinn an immer neuer Erkenntnis stand über allem. Dabei war unverkennbar, dass humane Ideale sich zunehmend auflösten, einer Demenz gleich in Vergessenheit gerieten. Die Zielsetzung von Macht dominierte, zu der die neuen Ärzte drängten. Sie betrachteten die Patienten nur noch als Objekte, deren Behandlung ihrem hierarchischen Aufstieg diente und ihnen zugleich einen goldenen Wohlstand sicherte.
Unter Gegenständen, die zur Entsorgung an einer Wand stapelten, entdeckte ich eine Schrift in lateinischen Buchstaben, die sie den ‚Hippokratischen Eid’ nannten. Er enthielt annähernd zusammengefasst, was ich als Ethik für den Beruf des Arztes lehrte. Wie ich vernahm, wurde während langer Zeit dieser Text beim Abschluss des Studiums als Ritual nachgesprochen, statt wie bei mir zu Beginn die Werte als Grundlage des Handelns festzulegen. Inzwischen hat man dies aber ganz verworfen, meine Kunst in die Nähe obsoleter Pfuscherei gerückt, die durch ganz neue Erkenntnisse an medizinischem Wissen überholt sei. Von den Göttern ist nur noch Äskulap als Symbol und Name präsent, einzig der Zierde wegen.
Ich mag gar nicht weiter darüber berichten, welch schreckliche Dinge ich zu nennen wüsste, es ist allzu viel das dannzumal im Argen liegt. Der Respekt vor der Natur und die Kunst des Heilens werden verformt sein, man versucht den Menschen selbst zu reproduzieren, bis vollends der Zorn der Götter sie trifft. Sie wollen dies nicht wahrhaben, obwohl die regulierende Natur bereits neue Krankheiten und Epidemien ausbreitete, und gaben vor, bald auch hierfür eine Medizin zu haben. Die Menschheit riskiert dezimiert und in Urzeiten zurückgeworfen zu werden, und es scheint ungewiss, ob dann eine Neubesinnung noch gelingen kann.
Ich bin zu alt und kann es nicht abwenden. Meinen beiden Söhne Thessalos und Drakon sowie meinem Schwiegersohn Polybos kann ich nicht eine solch untragbare Bürde auflasten, sie mögen im Sinne der Götter und Göttinnen die Kunst des Heilens am Menschen weiter ausüben, wie ich sie lehre. Der Zorn der Götter wird jene treffen, die sich davon abwenden.
Der Schmerz des Albtraums zehrte schwer an Hippokrates, liess ihn sich beinah hintersinnen, wie er die anzunehmende Entwicklung doch noch abwenden könnte, was ihm die ganze Kraft nahm. Er starb mit bitterlichen Gedanken, drei Wochen nach dieser Nacht. Ob ein neuer Albtraum ihn heimsuchte, wissen allein die Götter, denn es war eine Nacht, aus der er nicht mehr erwachte.»
Lange überlegte Dr. Brentano, ob es möglich sei, dass Hippokrates eine solche Vision, wenn auch nur in einem Fiebertraum erfahren, erzählt hätte. Er entschloss sich mit Hubertus von Stade, einem Klassischen Philologen und Medizinhistoriker zur Antike, ein vertrauliches Telefongespräch zu führen. Sie hatten einst bei einem Projekt eng zusammenarbeitet.
Doktor von Stade lachte erst herzhaft über die Frage, ob ein Schriftstück mit diesem Gehalt, Plausibilität vor dem medizinischen Wissen in der Antike hätte. Doch dann wurde er ernst und kritisch analysierend.
«Ich bin der Meinung, es ist der Entwurf zu einem Satyrspiel. Eine Polemik über Hippokrates. Manche Autoren schrieben damals sarkastische Werke zur Kritik an einer Person, einer These oder einer Entwicklung. In seinem Gehalt ist es Visionär, insbesondere dadurch, da das Bild nur andeutungsweise und nicht detailliert beschrieben wurde. Es liesse sich wirklich in die heutige Zeit interpretieren, wobei es ironischerweise auch einen Umkehreffekt aufweist, als Kritik der gegenwärtigen Schulmedizin. Brisant ist, dass dies auch gilt, wenn es doch eine Aussage von Hippokrates wäre.»
«Sie meinen, die Schrift könnte als Verunglimpfung der medizinischen Wissenschaft unserer Zeit empfunden werden?», fragte Brentano verblüfft.
«Ja, bedingt schon. Manche medizinische Kreise würden es als Affront wahrnehmen. Ihre Kritiker hingegen als Demaskierung von historisch-visionärem Wert. Wie auch in andern Wissenschaften kam es vor, dass Mediziner zur Maximierung eigener Vorteile nicht vor Diffamierungen oder entstellten Studien zurückschreckten. Nehmen wir die Transplantation, die geriatrische Medizin oder die Forschungen, welche das Klonen eines Menschen erlaubten. Da sind viele Angriffspunkte, die im Dunkeln liegen. Als praktisches Beispiel mag auch die Psychiatrie gelten, deren Behandlungsmethoden der Geisteskrankheiten immer wieder in die Kritik kamen. Dennoch gelang es Exponenten, das Gesundheitswesen weltweit über ihr Gebiet hinaus manipulativ umzugestalten. Die Psychologie wurde weitgehend zur Hilfsdisziplin degradiert und Kassenleistungen reduziert. Der Behandlungsbereich philosophisch ausgebildeten Psychologen zudem stark eingeschränkt, indem die Wissenschaft seelische Störungen vermehrt als neurologisch erklärbare Prozesse definierten. Zugleich weist sich aber, dass medikamentöse Behandlungen oft nur in schweren Fällen und einzig stabilisierend aber nicht heilend wirken. Fortschritte in der modernen Medizin vermochte aufkommende Skepsis bisher nicht negieren, doch selbst eine Verzögerung der Entwicklung wäre von unvorhersehbaren Folgen.
Die Theorien des Hippokrates haben vor dem Hintergrund der heutigen Wissenschaft natürlich keinen Bestand. Historisch trugen sie aber lange Zeit zur Medizinentwicklung bei. Es wäre deshalb, auch wenn sie medizinwissenschaftlich keinen Wert haben, ein medizinhistorisches Politikum. Pamphletisch geschickt benutzt könnte es als Dokument verwendet werden, dass man bereits in der Antike die ethischen Grenzen der Medizin erkannte. Die Machbarkeit in der Humanmedizin ist heute stark umstritten, und ein historisch-kritisches Schriftstück könnte zur Verhärtung der Fronten beitragen.»
«Sie meinen also die Authentizität ist nicht ganz auszuschliessen?», fragte Brentano nun sichtlich erregt.
«Das kann man beim besten Willen nicht. Wäre dem gealterten Hippokrates ein solcher Albtraum widerfahren, hätte er diesen Schock vielleicht wirklich nicht überlebt. Aber auch ein Laie mit zureichender Kenntnis und Begabung könnte für die Abfassung eines solchen Satyrspiels befähigt gewesen sein. Es richtete sich gegen die hippokratische Heilkunde, wohl kaum ahnend, dass derartige Fantasien jemals Realität erlangen könnten. Dabei ist raffiniert, welche Überlegungen ins Spiel traten. Verblüffend ist, dass wenn man es zurechtbiegt, sich es beliebig in andere Epochen einfügt. Auch die aktuelle Medizin vermeint man, in einem Spiegelbild zu erkennen. Entfremdungen von der Natur sind gegeben, und es ist letztlich eine Frage der Ethik, ob manche Forschungen nicht wirklich entartend sein könnten.»
Die Einschätzung von Stade bestürzte Brentano, so weitführend hatte er es nicht interpretiert. Gleichgültig, ob es wirklich eine Aufzeichnung von Hippokrates Worten oder ein Satyrspiel gegen ihn darstellte, es war eine Abhandlung von geballter Brisanz. Es würde jenen Kräften in die Hände spielen, die der modernen Medizinwissenschaft nur allzu gern Schaden zufügten.
Brentano kam in Widerstreit, was zu tun sei. War es ein Albtraum von Hippokrates, so hätte es nach seinem Willen nie aufgezeichnet werden dürfen. War es ein ihn verspottendes Satyrspiel seiner Feinde, wäre es ihm nicht genehm, da es hilfebedürftige Menschen verunsicherte.
Er überlegte, es einzig der Wissenschaft zugänglich zu machen. Oder sollte er dem vermuteten Willen von Hippokrates stattgeben und es vernichten? Die Bürde der Verantwortung, falls es in falsche Hände gelangte, lastete schwer auf ihm.
Ein elektrischer Defekt, der in seinem Arbeitszimmer einen lokalen Brand verursachte, nahm ihm wie ein göttlicher Funke die schwere Entscheidung ab. Unter den verkohlten Dokumenten und Papieren waren auch das antike Schriftstück und seine Aufzeichnungen darüber.