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Schafe zählen
Das erste Schaf hieß Matilda, hatte dickes, schwarzes Fell und sprang mit Leichtigkeit über den Zaun.
„1“, dachte er und ließ das Schaf Schaf sein.
Das zweite Schaf nannte er Leon – es hatte ebenfalls schwarzes Fell und stand eine Weile lang blökend da, bevor es über den Zaun sprang.
„2“, dachte er und ließ das Schaf Schaf sein.
Das dritte Schaf hatte das Gesicht der Radfahrerin, die heute Mittag den Unfall gehabt hatte. Er versuchte, das Gesicht zu vertreiben, zumal es seltsam aussah – Schafe haben schließlich keine Menschengesichter –, aber es gelang ihm nicht.
„3“, dachte er und ließ das Schaf Schaf sein.
Das vierte Schaf knallte gegen den Zaun und er musste daran denken, wie ihre Augen sich geweitet hatten, als das Auto sie erwischte. Sie hatte die Einbahnstraße wohl übersehen, war völlig gedankenlos in die falsche Richtung geradelt, und der Benz hatte sie angefahren, hatte sie zusammengefaltet wie eine Puppe, die man nicht mehr braucht. Schrecklich, furchtbar, aber es hatte irgendwie was Schönes gehabt, dieses Existenzielle, dieses Kaputtgehen, das einen so intensiv ins Jetzt zurückruft.
Beim fünften Schaf gab er sich Mühe. Es hatte weißes Fell, sah genauso aus, wie ein Schaf eben aussehen muss, und sprang über den Zaun, so wie es ihm befohlen wurde.
„5“, dachte er und ließ das Schaf Schaf sein.
Sie hatte ihm in die Augen geschaut, kurz bevor er sie überfahren hatte. Jedes Mal, wenn er daran dachte, schien etwas anderes in ihrem Blick zu liegen – Vorwurf, Angst, Bedauern. Sogar etwas Bittendes. Er öffnete die Augen, um sie nicht mehr sehen zu müssen, dann schloss er sie wieder.
Das sechste Schaf schien irgendwie zu flimmern; er versuchte verzweifelt, sich darauf zu konzentrieren – was tat es gerade? Es sprang über den Zaun. Wie sah es aus? Er wusste es nicht, weißes Fell vielleicht, immer wieder sah er ihre Augen, aber das Schaf sprang doch gerade, er durfte nicht dran denken, es war egal, wie sie ihn angeschaut hatte.
Und dann dachte er an seine Frau. Er hatte Sarah auf dem Weihnachtsmarkt kennengelernt; da waren die Zuckergussstände und die sich drehenden Pferdefiguren am Karussell, der Geruch nach Glühwein und die Fausthandschuhe an Kinderhänden, und da war sie, wie sie zitternd hinter dem Autoscooter lag. Sie sagte, ihr sei nicht kalt, sie könne die Lichter nur nicht ertragen, und als er sie fragte, wie sie hergekommen sei, brachte sie kein Wort heraus. Er hatte sie umarmt, fest, und ein Gefühl der Verbundenheit zu dieser Fremden verspürt, das ihn später fragen ließ, ob sie ihn wiedersehen wollte. Sie sagte ja, und am Samstagabend sagte sie ein weiteres Mal ja, und mit jedem Treffen fühlte er sich mehr zu ihr hingezogen. Wie ein seltsam zerbrechliches Wesen kam sie ihm vor, nicht ganz von dieser Welt, sodass er umso mehr den Drang verspürte, sie bei sich zu behalten. Manchmal war sie abwesend, wenn er mit ihr sprach, und manchmal lächelte sie ihn mit einer Art unsicheren Dankbarkeit an und schien nicht zu wissen, was sie antworten sollte. Es kam vor, dass sie ihn mitten im Gespräch vorsichtig an der Hand berührte und seine Finger abtastete, einen nach dem anderen – er wusste nicht, warum sie das tat, aber es machte ihn glücklich. Irgendwann stellte er mit einer überraschenden Sachlichkeit fest, dass ihm nichts auf der Welt je wichtiger werden könnte als sie; er besorgte also einen Ring – ganz unscheinbar eigentlich, mit einem kleinen, fein geschliffenen Diamanten darauf – und fragte, ob sie ihn heiraten wolle. Sie saß einen Moment lang mit großen Augen da, dann nickte sie hastig.
Vielleicht lag es am Ende an den Kindern. Vielleicht auch an der verstrichenen Zeit. Denn wenn er abends nach Hause kam und sie zitternd auf dem Bett fand, war er wütend. Er verstand nicht, was sie jetzt schon wieder bedrückte und sie verstand nicht, warum er sie nicht verstand. Manchmal bekam er Anrufe vom Kindergarten, dass Matilda und Leon nicht abgeholt worden waren, und er klagte sie wegen ihrer Vergesslichkeit und Selbstbezogenheit an. Sie wurde darauf immer ganz aufgeregt, lief hektisch herum und murmelte, er liebe sie nicht mehr, sie habe es doch gewusst, dass er eines Tages fortgehen würde; dann fing sie an zu weinen, bis er ihr versicherte, dass er sie niemals verlassen würde. Seine Träume von einem Familienleben gab er nach und nach auf – er wollte seine Kinder gut erziehen, aber er konnte nicht gleichzeitig zur Arbeit gehen und Vater sein. Wenn er sah, wie sie mit Dingen wie Windelwechseln heillos überfordert war, konnte er seine Frustration nur schwer verbergen; sie antwortete für gewöhnlich darauf, indem sie sich zurückzog. Einmal verschwand sie für drei Tage, während derer er krank vor Sorge wurde, und als sie wiederkam, war sie noch zerbrechlicher als sonst und bedankte sich bei ihm. Du bist der Einzige, bei dem ich nicht alleine bin, sagte sie, danke, dass du auf mich aufpasst, du weißt ja gar nicht, wie sehr ich dich brauche. Er antwortete, doch, das wisse er, nahm sie in den Arm und versicherte, dass er sie niemals verlassen würde. Und als sie zu Bett gegangen war, saß er vor dem ausgeschalteten Fernseher und weinte, weil er wusste, dass es stimmte.
Vor knapp einer Woche war sie erneut verschwunden. Er meldete sich bei der Arbeit krank, erzählte seinen Kindern, sie sei zu einer Freundin aufs Land gefahren, und rief die Polizei. Er stellte sich vor, wie sie einsam durch verlassene Straßen lief, fragte sich, wo sie nachts schlief und hatte Angst, sie könnte sich etwas antun. In Gedanken sah er sie schon von einer Brücke springen oder sich einen Strick um den Hals legen, sah den Lokführer panisch die Bremse ziehen – aber mehr als alles andere fürchtete er, dass sie allein war, wenn es passierte. Als er am Freitag in die Küche ging, stieß er auf Matilda und Leon, die am Tisch saßen und sich Brote schmierten, und ihm fiel auf, dass er die beiden seit Tagen nicht gesehen hatte. Nichts zu machen… Er warf ihnen ein „Hallo“ hin und ging Richtung Einfahrt.
Es war die Entscheidung eines Sekundenbruchteils. Er war unterwegs, um sie zu suchen, und er fand sie. Im einen Moment fragte er sich noch benommen, wo sie das Rad aufgetrieben hatte, im nächsten stand ihm die Lösung vor Augen. Er musste nur ein kleines bisschen weiter nach links fahren, ein kleines bisschen aufs Gaspedal drücken – gut möglich, dass er das ohnehin getan hätte. Er konnte sich nicht erinnern, gelenkt zu haben, aber auf einmal war sie da, direkt vor ihm, schaute ihn mit einem Ausdruck an, der von Dankbarkeit hätte sprechen können, und war ganz für ihn verschwunden.
„Gute Nacht“, sagte er leise.
„7“, dachte er und ließ das Schaf Schaf sein. Es würde noch lange dauern, bis er einschlief.