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Schillers Sternstunde
Schillers Sternstunde
Ein Mann tritt aus dem Schatten
Heute ist sein großer Tag. Nein. Nein, nein, das ist gewiss eine Untertreibung. Was heißt schon "großer Tag"? Eine Sternstunde wird es werden, ja genau! Denn sein Stern wird heute Abend aufgehen - was heißt aufgehen - kometengleich gen Himmel schießen, die Nacht erhellen, jeden Schatten verbrennen und für immer ein anderes Licht auf ihn werfen, auf dass man ihn endlich beachten und jenen Respekt zuteil werden lasse, den man ihm immer verwehrt hatte.
Er wußte schon immer, dass er zu Höherem geboren war. Er mochte seine Arbeit, ohne Frage, er liebte sie sogar. Ursprünglich sollte er ja im Vertrieb eingesetzt werden, aber als man seine wahren Talente erkannte - "Herr Schiller, ich glaube ich habe da die richtige Aufgabe für Sie" - wurde er in die "EDV"-Abteilung versetzt. Nun, er wusste ja, dass "EDV"-Abteilung vielleicht nicht der richtige Ausdruck war, aber er bekam einen eigenen Schreibtisch mit Personal Computer und da er ja schon immer offen für die neue Technik war, erfüllte es ihn natürlich mit Stolz, in dieses neue Gebiet wechseln zu dürfen. Binnen kürzester Zeit - "Mann, Schiller, so blöd kann doch kein Mensch sein!" - verblüffte er seine Kollegen mit seinem neu erworbenen und rasant wachsenden Wissensstand. Er fragte nicht viel aber wenn, dann war es dermaßen blitzgescheit - "Schon gut, Schiller. Sprich's in eine Tüte und stell's mir vor die Tür, ich hab momentan keine Zeit." -, dass die Antworten meist spärlich ausfielen, ob der gewaltigen Komplexität seines Anliegens.
Seine Aufgabe war es also fortan, das riesige Archiv des kleinen Verlages, EDV-mässig zu erfassen und dem neuen System zu übereignen. Genau gesagt bedeutete das, den Titel, den Autor, das Erscheinungsjahr, die Seitenanzahl, die ISBN-Nummer und noch einige andere Angaben eines jeden Buches, das er in den riesigen Regalen aufzufinden hatte, in die Eingabemaske seines Computers zu tippen. Ziffer für Ziffer, Letter für Letter, Buch für Buch.
Wie gesagt, er liebte seine Arbeit. Wie könnte er es in so einem glücklichen, weil höchst verantwortungsvollen Fall auch nicht? Aber es gab von Zeit zu Zeit so gewisse Vorfälle - "Schiller, ich stör dich ja nicht gern bei deiner wichtigen Arbeit, aber würdest du mir eine Wurstsemmel aus der Kantine bringen?" - die ihn ein klein wenig irritierten. Fast schien es manchmal sogar so - "Schiller, es macht dir doch nichts aus, wenn ich meinen Aschenbecher in deinen Mülleimer entleere oder? Ich mag den Gestank nicht" - als würden sie ihn, wie soll ich sagen, nicht ganz für voll nehmen? Da sich solche Äußerungen in den letzten Jahren, zwar fast nicht der Rede wert, aber eben doch gehäuft hatten und auch durch liebevollere Kolleginnen - "Schiller, dein Tupet sitzt wieder schief" - nicht wirklich wettgemacht werden konnten, reifte in ihm der Entschluß, etwas zu tun, um seinen, nach seinem Gefühl etwas angekratzten Ruf, wieder aufzupolieren. Er mochte seine Kollegen ja und tat auch alles, um ihnen ein heiterer Geselle zu sein. Aber er hatte ein feines Gespür und er wusste genau, wann etwas auf seine Kosten ginge. Also begann er mit seinem Training.
Die ersten Tage mutete er sich nicht zu viel zu. Er musste langsam beginnen, wollte er die riesige Herausforderung bewältigen. Es reichte ihm eine Treppe, nämlich die vom ersten zum zweiten Stock. Acht Stufen, das klappte. Später klänge es zwar anders, wenn er von einer Stufe auf die nächste springen würde, aber so viel Vorstellungskraft und musikalisches Verständnis hatte er auf jeden Fall, wie ihm sein Klavierlehrer ebenfalls immer wieder bestätigte - "Schiller, sogar meine vierjährige Tochter hat mehr Gefühl im kleinen Zeh als Sie in der ganzen Hand" -, dass dieses Trockentraining auf jeden Fall reichen würde.
Anfangs trainierte er nur nach Dienstschluß. Dreissig Minuten zuerst, dann sechzig. Als ihm das nicht mehr reichte, musste er auf Pausenzeiten und Dienstwege zwischendurch ausweichen, weil er nicht länger als eine Stunde nach Feierabend in der Firma bleiben durfte.
Das bekamen dann natürlich auch seine Kollegen mit - "Schiller, hüpfst du mal zum Kopierer für mich?" - aber es machte ihm nun nichts mehr aus, denn so konnte er wenigstens weiter trainieren.
Nach sechsunddreissig Wochen fühlte er sich reif und er verfasste einen Brief. Kaum acht Wochen später, also quasi im Handumdrehen, erreichte ihn das Antwortschreiben und er wurde zu einem Vorstellungsgespräch geladen.
Tja und heute ist er hier. Noch wenige Sekunden. Er hört den großen Blonden bereits aus den Lautsprechern seinen Namen verkünden. Jetzt ist es soweit. Ob sie alle zusehen? Er hatte es ihnen nicht gesagt, es sollte doch eine Überraschung werden. Aber natürlich würden sie zusehen. Was sollten sie auch sonst tun, an einem Samstag Abend?
Als er in's gleißende Licht tritt, sieht er aus den Augenwinkeln bereits die achtstufige Treppe, die er ihnen zu bauen aufgetragen hatte. Sie ist schlichtweg perfekt. Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals. Er ist bereit. So bereit wie noch nie in seinem Leben zuvor. Wie in Trance lässt er sich die Taucherbrille, mit kleinen Klopapierrollen zur Zierde darauf, über den Kopf streifen. Er atmet noch einmal tief durch und lässt die letzten Worte des großen Blonden wie einen warmen Regen über sich ergehen ...
"Herr Schiller wettet, dass er aus einer Anzahl von zehntausend, ich wiederhole, zehntausend Büchern, zehn Stück per Titel, Autor, Erscheinungsjahr und Seitenanzahl, allein anhand der ISBN-Nummer nennen kann, während er gleichzeitig, mit verbundenen Augen auf einem Bein hüpfend, das Kinderlied Alle meine Entchen auf dieser eigens nach seinen Plänen hergestellten Klaviertreppe spielen wird. Hab ich das richtig erklärt? Wunderbar. Sind sie bereit? Dann sag ich: Top - die Wette gilt!"