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Schillers Sternstunde

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12.01.2003
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Schillers Sternstunde

Schillers Sternstunde

Ein Mann tritt aus dem Schatten


Heute ist sein großer Tag. Nein. Nein, nein, das ist gewiss eine Untertreibung. Was heißt schon "großer Tag"? Eine Sternstunde wird es werden, ja genau! Denn sein Stern wird heute Abend aufgehen - was heißt aufgehen - kometengleich gen Himmel schießen, die Nacht erhellen, jeden Schatten verbrennen und für immer ein anderes Licht auf ihn werfen, auf dass man ihn endlich beachten und jenen Respekt zuteil werden lasse, den man ihm immer verwehrt hatte.

Er wußte schon immer, dass er zu Höherem geboren war. Er mochte seine Arbeit, ohne Frage, er liebte sie sogar. Ursprünglich sollte er ja im Vertrieb eingesetzt werden, aber als man seine wahren Talente erkannte - "Herr Schiller, ich glaube ich habe da die richtige Aufgabe für Sie" - wurde er in die "EDV"-Abteilung versetzt. Nun, er wusste ja, dass "EDV"-Abteilung vielleicht nicht der richtige Ausdruck war, aber er bekam einen eigenen Schreibtisch mit Personal Computer und da er ja schon immer offen für die neue Technik war, erfüllte es ihn natürlich mit Stolz, in dieses neue Gebiet wechseln zu dürfen. Binnen kürzester Zeit - "Mann, Schiller, so blöd kann doch kein Mensch sein!" - verblüffte er seine Kollegen mit seinem neu erworbenen und rasant wachsenden Wissensstand. Er fragte nicht viel aber wenn, dann war es dermaßen blitzgescheit - "Schon gut, Schiller. Sprich's in eine Tüte und stell's mir vor die Tür, ich hab momentan keine Zeit." -, dass die Antworten meist spärlich ausfielen, ob der gewaltigen Komplexität seines Anliegens.
Seine Aufgabe war es also fortan, das riesige Archiv des kleinen Verlages, EDV-mässig zu erfassen und dem neuen System zu übereignen. Genau gesagt bedeutete das, den Titel, den Autor, das Erscheinungsjahr, die Seitenanzahl, die ISBN-Nummer und noch einige andere Angaben eines jeden Buches, das er in den riesigen Regalen aufzufinden hatte, in die Eingabemaske seines Computers zu tippen. Ziffer für Ziffer, Letter für Letter, Buch für Buch.

Wie gesagt, er liebte seine Arbeit. Wie könnte er es in so einem glücklichen, weil höchst verantwortungsvollen Fall auch nicht? Aber es gab von Zeit zu Zeit so gewisse Vorfälle - "Schiller, ich stör dich ja nicht gern bei deiner wichtigen Arbeit, aber würdest du mir eine Wurstsemmel aus der Kantine bringen?" - die ihn ein klein wenig irritierten. Fast schien es manchmal sogar so - "Schiller, es macht dir doch nichts aus, wenn ich meinen Aschenbecher in deinen Mülleimer entleere oder? Ich mag den Gestank nicht" - als würden sie ihn, wie soll ich sagen, nicht ganz für voll nehmen? Da sich solche Äußerungen in den letzten Jahren, zwar fast nicht der Rede wert, aber eben doch gehäuft hatten und auch durch liebevollere Kolleginnen - "Schiller, dein Tupet sitzt wieder schief" - nicht wirklich wettgemacht werden konnten, reifte in ihm der Entschluß, etwas zu tun, um seinen, nach seinem Gefühl etwas angekratzten Ruf, wieder aufzupolieren. Er mochte seine Kollegen ja und tat auch alles, um ihnen ein heiterer Geselle zu sein. Aber er hatte ein feines Gespür und er wusste genau, wann etwas auf seine Kosten ginge. Also begann er mit seinem Training.

Die ersten Tage mutete er sich nicht zu viel zu. Er musste langsam beginnen, wollte er die riesige Herausforderung bewältigen. Es reichte ihm eine Treppe, nämlich die vom ersten zum zweiten Stock. Acht Stufen, das klappte. Später klänge es zwar anders, wenn er von einer Stufe auf die nächste springen würde, aber so viel Vorstellungskraft und musikalisches Verständnis hatte er auf jeden Fall, wie ihm sein Klavierlehrer ebenfalls immer wieder bestätigte - "Schiller, sogar meine vierjährige Tochter hat mehr Gefühl im kleinen Zeh als Sie in der ganzen Hand" -, dass dieses Trockentraining auf jeden Fall reichen würde.
Anfangs trainierte er nur nach Dienstschluß. Dreissig Minuten zuerst, dann sechzig. Als ihm das nicht mehr reichte, musste er auf Pausenzeiten und Dienstwege zwischendurch ausweichen, weil er nicht länger als eine Stunde nach Feierabend in der Firma bleiben durfte.
Das bekamen dann natürlich auch seine Kollegen mit - "Schiller, hüpfst du mal zum Kopierer für mich?" - aber es machte ihm nun nichts mehr aus, denn so konnte er wenigstens weiter trainieren.
Nach sechsunddreissig Wochen fühlte er sich reif und er verfasste einen Brief. Kaum acht Wochen später, also quasi im Handumdrehen, erreichte ihn das Antwortschreiben und er wurde zu einem Vorstellungsgespräch geladen.

Tja und heute ist er hier. Noch wenige Sekunden. Er hört den großen Blonden bereits aus den Lautsprechern seinen Namen verkünden. Jetzt ist es soweit. Ob sie alle zusehen? Er hatte es ihnen nicht gesagt, es sollte doch eine Überraschung werden. Aber natürlich würden sie zusehen. Was sollten sie auch sonst tun, an einem Samstag Abend?
Als er in's gleißende Licht tritt, sieht er aus den Augenwinkeln bereits die achtstufige Treppe, die er ihnen zu bauen aufgetragen hatte. Sie ist schlichtweg perfekt. Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals. Er ist bereit. So bereit wie noch nie in seinem Leben zuvor. Wie in Trance lässt er sich die Taucherbrille, mit kleinen Klopapierrollen zur Zierde darauf, über den Kopf streifen. Er atmet noch einmal tief durch und lässt die letzten Worte des großen Blonden wie einen warmen Regen über sich ergehen ...

"Herr Schiller wettet, dass er aus einer Anzahl von zehntausend, ich wiederhole, zehntausend Büchern, zehn Stück per Titel, Autor, Erscheinungsjahr und Seitenanzahl, allein anhand der ISBN-Nummer nennen kann, während er gleichzeitig, mit verbundenen Augen auf einem Bein hüpfend, das Kinderlied Alle meine Entchen auf dieser eigens nach seinen Plänen hergestellten Klaviertreppe spielen wird. Hab ich das richtig erklärt? Wunderbar. Sind sie bereit? Dann sag ich: Top - die Wette gilt!"

 

Hallo Visualizer!

Eine super Geschichte. Sie ist amüsant zu lesen und hat einen guten Spannungsbogen. Ausserdem ist sie irgendwie witzig, verschroben. Ein paar Aspekte:

Du bringst den fehlenden Realitätssinn des Prot. gut heraus. Witzig und gleichzeitig tragisch ist der Kontrast zwischen Selbsteinschätzung und den Kommentaren der anderen.

Der Schluss ist gelungen. Er macht sich zum Idioten bei Wetten dass, oder erntet er vielleicht wirklich die Anerkennung der Massen? Immerhin verspricht er ja eine ziemliche Leistung ... Willst du damit die Volksverdummung durch solche Fernsehshows ansprechen? Menschen blamieren sich vor einem Millionenpublikum mit beachtlichen, aber völlig sinnlosen, überflüssigen Leistungen ..

Wenn ja, gut gelungen :)

lg
klara

 

Hi Visualizer,

durchaus witzig, schön überzeichnet, wie es sich für eine Satire gehört, und sprachlich ausgewogen präsentiert. Prima!

Das "Wie gesagt" würde ich allerdings weglassen. Zum einen ist es Umgangssprache, zum anderen ist die unmittelbar folgende Wiederholung schon für sich allein ein sprachliches Mittel, es muss nicht angesagt werden.

Uwe

 

Dank euch beiden für's Lesen und Kommentieren.

Meine kleine Geschichte ist natürlich böse formuliert, aber für mich haben manche Kandidaten (nicht nur bei "Wetten, dass") schon gewisse tragikomische Züge. Das ganze pauschal als "Volksverdummung" zu bezeichnen, ist vielleicht ein zu hartes Wort, aber ab und zu glaub ich schon, den einen oder anderen "Schiller" unter ihnen zu entdecken. Und dann weiß ich wirklich manchmal nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Und insofern bin ich mir gar nicht einmal selbst so sicher, wie "witzig" meine Geschichte wirklich ist. :hmm:

 

Schöne böse kleine Satire, herrlich wie Schiller erst mal gar nicht rafft das ihn seine Kollegen nur verarschen oder loswerden wollen:

Er fragte nicht viel aber wenn, dann war es dermaßen blitzgescheit - "Schon gut, Schiller. Sprich's in eine Tüte und stell's mir vor die Tür, ich hab momentan keine Zeit." -, dass die Antworten meist spärlich ausfielen, ob der gewaltigen Komplexität seines Anliegens.

:lol:

Leider gibt es Menschen wie Schiller ja wirklich. Und immer mehr Shows die sich ihrer annehmen :D
(Deutschland sucht den Superstar ist das Neuste: lauter möchtegern Sänger/innen machen sich lächerlich und am oberlächerlichsten macht sich D.B.)

 

Hallo Visualizer.
Ich habe deine Geschichte einerseits amüsiert andererseits aber auch mit ein wenig Mitleid für den Protagonisten gelesen.
Dein "Held" wirkt wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, ein alternder Mann, der mit dem Sprung der Technik nicht mehr klar kommt und sich nun von seinen jüngeren Kollegen verspotten lassen muss. Er scheint es zwar irgendwann zu merken, aber das beste was im einfällt ist, sich bei Wetten Das anzumelden. Soweit, so gut, die Story lies sich gut lesen und auch der Schluss hat mir zugesagt, auch ich habe manchmal das Gefühl, bei derart Sendungen melden sich nur Leute, die zu viel Zeit haben und sich nach Anerkennung sehnen. Was mit aber an manchen Stellen etwas gefehlt hat, sind die Ausführungen. Es hätte mich z.B wenn die Kommentare der Kollegen kamen, auch interessiert, was denn nun Schiller genau gefragt hat und warum die Reaktion dann teils sehr heftig ausfiel. Das fehlte mir ein wenig und ich denke, dass hätte deiner Geschichte an manchen Stellen noch etwas mehr "Tiefe" gegeben. Du hättest so, zumindest bei mir, erreichen können, dass ich noch mehr mit dem Protagonisten mitfühle und ihn noch besser verstehe. So bleibt die Characterisierung an manchen Stellen doch sehr oberflächlich.
Ansonsten hat mir der Stil, der mE schon an den Character Schillers angepasst wurde, gefallen. Er zeigt, die kleine Welt, in der sich Schiller befindet, sehr gut und macht klar, dass Schiller selbst so Aufgaben wie das katalogisieren der Bücher als "glücklich und verantwortungsvolle" Arbeit betrachtet.
Alles in allem eine nette Geschichte, die man schnell durchliest und vielleicht auch manchmal schmunzeln lässt. Vielleicht hätte man an ein paar Stellen mehr rausholen können, man muss es aber nicht.

Saludo, Gam.

 

Weißt du, Gam, ich sag's dir ehrlich: Ich hatte beim Schreiben gar nicht das Bedürfnis, noch mehr in die Tiefe zu gehen. Ich hätte dir ja gerne die Möglichkeit verschafft, Schiller noch besser zu verstehen, allein ... ich verstehe ihn ja selbst nicht. Vielleicht will ich ihn sogar gar nicht verstehen. Das möge man mir jetzt als Charakterschwäche unterstellen, aber ich denke, es obliegt jedem selbst, so viel oder wenig Verständnis für Menschen wie Schiller aufzubringen, wie er es für angemessen hält.
Warum hab ich die Geschichte dann aber geschrieben? Nur um mich über Schiller lustig zu machen? Gute Frage.

Noch weiter herauszuarbeiten, wie du vorschlägst, was denn Schiller nun genau gefragt, gesagt oder getan hat, damit es zu den Äußerungen der Kollegen kommt, hätte den Kontrast ein wenig herunter geschraubt, denke ich. Klara hat das in ihrem Posting sehr schön formuliert, wie ich finde. Denn dass Schillers Fragen nicht gerade die intelligentesten sein dürften, ergibt sich meines Erachtens eben aus den trocken eingestreuten Kommentaren, nach dem Motto: Die Welt wie sie Schiller sieht und wie es wirklich war.

Kurz noch zu Jadzias Vergleich mit "Deutschland sucht den Superstar":
Ich glaube diese Show mit ihren Talenten (oder "Talenten") ist mit dieser Geschichte nicht wirklich gleichzusetzen, weil ich bei diesen Kandidaten keine Tragik in dem Sinne sehe. Komik vielleicht ja, bei dem einen oder anderen.
Wenn du allerdings die Vorausscheidungen meinst ... tja, da sind wir bestimmt wieder dem einen oder anderen Schiller begegnet ...

 

Hallo nochmal.
Klar obliegt es dir selbst, in die Tiefe zu gehen oder nicht. Ich wollte damit nur sagen, dass zu einer wirklich guten Satire vielleicht eine noch etwas nähere Betrachtung nicht geschadet hätte. Meine Meinung jedenfalls. So bleibt es für mich eine nette, aber kleine Satire über die "Schillers" von heute. Nicht mehr und nicht weniger. ;)

 

Hallo Visualizer,

ich denke, man muß den Protagonisten nicht weiter charakterisieren, man weiß, was für einer er ist, warum er so wurde, ist für die Aussage der Satire nicht wichtig. Interessant finde ich, daß die Leute ihn fertig machen wollen, die die `Schillers´ dann aber beklatschen, falls diese Erfolg haben.
Wie in Notwehr versucht der Protagonist sich wenigstens einmal von der Masse abheben zu können. Nur eine von vielen, undankbaren Möglichkeiten...

Tschüß... Woltochinon

 

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