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Schlaf gut
Ich werde von Turbulenzen geweckt. Im Gang flackert das Licht.
Der leere Pappbecher fällt von dem ausgeklappten Tablett hinunter und rollt unter den Sitz. Hinter mir fängt ein kleines Kind zu schreien an. Seine Mutter versucht es zu beruhigen.
Eine Stewardess kommt vorbei und lächelt mich an.
Ich habe keine Flugangst. In meinem Beruf sitzt man jede Woche im Flieger.
Das Unwetter draußen ist allerdings heftig. Immer wieder wird die Maschine durchgerüttelt. Wie die Beleuchtung es hier drinnen tut, so flackert auch die Nacht, als würde der Himmel von einer defekten Glühbirne beleuchtet werden.
Etwas ähnliches habe ich vor Jahren erlebt, als ich geschäftlich nach Kuba musste, und in einen schweren Sturm geriet. Seit dem gibt es kaum noch etwas, was mich nervös machen kann.
Jetzt bin ich ein wenig nervös. Nicht viel, aber es reicht, um die Müdigkeit zu vergessen.
Wir sacken ab. Das Kind bleibt diesesmal still, dafür stößt seine Mutter einen erschrockenen Schrei aus, wie auch einige andere Passagiere.
Unwillkürlich haben sich meine Hände in die Lehnen gegraben, als säße ich auf einem Thron, den ich keinesfalls verlassen will.
Die Nichtraucherzeichen leuchten auf. Ein paar Sekunden später auch die für die Gurte.
Die Stewardess von vorhin kommt zurück. Das Lächeln ist verschwunden. Sie ist blass.
"Entschuldigung", sage ich, aber sie ist schon vorbei.
Was will ich eigentlich von ihr; mich erkundigen, ob wir abstürzen?
Dann kommt ein Ruck, der so gewaltig ist, dass ich mir den Nacken verrenke. Das Licht fällt aus. Die Maschine sackt wieder ab, aber diesesmal richtig. Das Kribbeln in meinen Beinen zieht sich an den Oberschenkeln hoch, um im Magen eine dumpfe Leere zu hinterlassen, die schnell zur Übelkeit werden könnte. Ein Mann vor mir schreit nach Hilfe.
Allmählich könnte der Pilot eine beruhigende Durchsage machen. Leute, die nicht so oft fliegen wie ich, bekommen in solchen Situationen schnell Panik. Da sind ein paar sachliche Worte niemals verkehrt.
Zwei weitere Flugbegleiterinnen kommen in den Gang, können sich kaum auf den Beinen halten. Die eine verliert das Gleichgewicht und fällt auf eine ältere Frau.
Noch ein Ruck, noch ein Absacken. Dann ein Knall.
Der hat uns voll erwischt, denke ich.
Flugzeuge halten Blitze aus, überhaupt kein Problem, aber der ist voll eingeschlagen.
Und jetzt bricht die Panik aus. Ein Junge hatte sich nicht angeschnallt. Niemand hat darauf geachtet. Er wurde vom Sitz geschleudert und liegt auf dem Gang. Das Licht springt wieder an, flackert nun noch mehr. Ein Gepäckfach ist aufgegangen. Der herausgefallene Kosmetikkoffer hat den Jungen am Kopf erwischt. Er blutet. Die meisten Passagiere schreien, und ich kann die Stewardessen nirgendswo sehen.
Dann folgt ein Gefühl, wie ich es von der Achterbahn kenne. Wir sind für zwei Sekunden im freien Fall. Die Sauerstoffmaske kommt auf mich zu. Sie sieht aus wie eine Qualle.
Plötzlich weiß ich, dass keine Durchsage kommen wird. Das ist keine Routinesituation.
Ich starre aus dem Fenster. Was ich zuerst für einen weiteren Schrei unter vielen gehalten habe, ist tatsächlich das Triebwerk, aus dem helle Flammen schlagen, die sein Heulen begleiten.
Bevor ich begriffen habe, was gerade geschieht, lichtet sich der Nebel. Wir sind jetzt unterhalb der Wolkendecke. Ich presse mein Gesicht gegen die Scheibe. Wo ist der verdammte Ozean?
Ein heftiger Ruck stößt mich vor das Glas. Sofort schmecke ich den metallischen Geschmack von Blut. Meine Nase fühlt sich taub an.
Zum ersten Mal in meinem Leben höre ich echte Verzweiflung. Die Schreie der anderen, ein angsteinflößendes Orchester. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich in den verstörenden Klang einsteigen, oder ihm einfach bloß lauschen soll.
Mein Kopf wird nach vorne gestoßen. Es ist eine Flugbegleiterin, die mich mit den Füßen trifft, während sie über mich hinweg fliegt. Ich meine zu erkennen, dass sie kein Höschen unter dem Rock trägt. Dann schlägt sie gegen die vordere Wand und fällt wie ein Stein zu Boden. Meine Nieren schmerzen. Mit voller Wucht gegen den Gurt, dann wieder ins Polster gedrückt, dann wieder nach vorne, die Organe gequetscht.
Wir fallen steil zur Seite ab.
Ich bete darum, dass wir keinen Überschlag machen.
Alle Fächer stehen jetzt offen. Handtaschen, Supermarkttüten, Schuhe und unzählige andere Dinge schleudern wie Geschosse durch den Innenraum. Eine Hand krallt sich von hinten in meine Schulter. Spitze Fingernägel schneiden sich durch das Hemd ins Fleisch. Dann verschwindet die Hand.
Wie eine bittere Ironie, dass das Zeichen für die Gurte in diesem Augenblick erlischt.
Das Triebwerk kreischt auf, und verstummt dann.
Ein Knacken kommt aus den Lautsprechern. Der Pilot meldet sich.
"Halten Sie sich fest und schnallen Sie sich an", sagt er mit zitternder Stimme. Sämtliche Sicherheitsvorschriften vergessen.
Und da ist er, der Ozean, das weite Meer. Riesige, dunkle Wellen in der Nacht, vom Sturm gepeitscht.
Wir sind bestimmt noch einige hundert Meter hoch.
Niemand wird das überleben. Ich auch nicht.
Geschreie, durch den Gang schwebende Gestalten voller Schmerz. Undefinierbare Schatten, die mal hier, mal dort sind.
Näher kommendes Wasser, brüllende Naturgewalten. Ich will hier raus. Das Chaos ist da.
Dann schlagen wir auf. Mein Gurt reißt, ich schwebe durch den Kosmos.
Flüssigkeit überall, die nach Salz schmeckt, aber auch bitter.
Mein Bein ist seltsam angewinkelt; sehr seltsam.
Da ist ein Mädchen ohne Kopf, das auf mich zukommt. Der Rumpf landet genau an meinen Lippen; ihre Beine strampeln noch, obwohl da gar kein Kopf mehr ist. Ich küsse sie dort, wo eben noch der Hals gewesen ist.
Ich muss die Luft anhalten. Überall ist Wasser. Was zum Teufel habe ich da für einen Klumpen im Mund? Ich schlucke ihn runter, bloß nicht würgen.
Ich will hier raus, aber der Kosmos ist begrenzt. Er kennt keinen Ausgang.
Heißes Gelb schlängelt sich über meinen Arm. Woher kommt der Vergleich des leckenden Feuers? Es leckt mir das Fleisch von den Knochen. Meine Luft wird knapp.
Ich stütze mich an einem Bein ab, an dem ein Mensch hängt, der stumm schreit und wild mit den Armen gestikuliert. Sein rechtes Auge ist unter einem Stahlstück verborgen. Dann versperrt mir ein herumtreibender Sitz die Sicht auf ihn.
Warum macht der Pilot denn keine Durchsage? Sind wir schon gelandet?
Da ist ein Notausgang, irgendwo. Davor sind treibende Körper. Menschenähnlich, aber die Flammen leben im Wasser. Zwei Elemente, so gegensätzlich.
Wo bin ich? Schon draußen?
Auftauchen macht keinen Sinn, bei diesem Druck auf den Lungen.
Mein Schädel wird ganz groß, so sehr müsste ich nun mal einatmen. Vielleicht funktionieren ja die Sauerstoffmasken noch.
Aber sind das denn noch Menschen, oder sind es bizarre Gebilde, oder bin ich ein komischer Typ, dem heißes Wachs die Gliedmaßen verunstaltet, oder möglicherweise ist alles doch ganz anders.
Wer weiß das schon.
Keine Masken.
Da hinten schwimmt ein Wal vorbei. Ein majestätisches Geschöpf.
Jemand krallt sich wieder an mir fest, bekommt auch keine Luft.
Wütend drehe ich mich um und schlage nach der Person. Ich reiße ihr die Wangen auf, und lächele dabei.
Die Luft wird immer knapper, das eine Triebwerk brummt immer noch. Selbst hier, unter Wasser.
Oh mein Gott, was ist mit meinen Armen? Sie sehen aus wie gegrillt.
Ich will jetzt schlafen.
Schlafen.
Mein Kopf platzt sicherlich. Keine Luft.
Endlich tot sein.
Wann - verdammt nochmal - ist das Ertrinken endlich zuende?