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Schlaf gut

Seniors
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24.04.2003
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Schlaf gut

Ich werde von Turbulenzen geweckt. Im Gang flackert das Licht.
Der leere Pappbecher fällt von dem ausgeklappten Tablett hinunter und rollt unter den Sitz. Hinter mir fängt ein kleines Kind zu schreien an. Seine Mutter versucht es zu beruhigen.
Eine Stewardess kommt vorbei und lächelt mich an.
Ich habe keine Flugangst. In meinem Beruf sitzt man jede Woche im Flieger.
Das Unwetter draußen ist allerdings heftig. Immer wieder wird die Maschine durchgerüttelt. Wie die Beleuchtung es hier drinnen tut, so flackert auch die Nacht, als würde der Himmel von einer defekten Glühbirne beleuchtet werden.
Etwas ähnliches habe ich vor Jahren erlebt, als ich geschäftlich nach Kuba musste, und in einen schweren Sturm geriet. Seit dem gibt es kaum noch etwas, was mich nervös machen kann.
Jetzt bin ich ein wenig nervös. Nicht viel, aber es reicht, um die Müdigkeit zu vergessen.
Wir sacken ab. Das Kind bleibt diesesmal still, dafür stößt seine Mutter einen erschrockenen Schrei aus, wie auch einige andere Passagiere.
Unwillkürlich haben sich meine Hände in die Lehnen gegraben, als säße ich auf einem Thron, den ich keinesfalls verlassen will.
Die Nichtraucherzeichen leuchten auf. Ein paar Sekunden später auch die für die Gurte.
Die Stewardess von vorhin kommt zurück. Das Lächeln ist verschwunden. Sie ist blass.
"Entschuldigung", sage ich, aber sie ist schon vorbei.
Was will ich eigentlich von ihr; mich erkundigen, ob wir abstürzen?
Dann kommt ein Ruck, der so gewaltig ist, dass ich mir den Nacken verrenke. Das Licht fällt aus. Die Maschine sackt wieder ab, aber diesesmal richtig. Das Kribbeln in meinen Beinen zieht sich an den Oberschenkeln hoch, um im Magen eine dumpfe Leere zu hinterlassen, die schnell zur Übelkeit werden könnte. Ein Mann vor mir schreit nach Hilfe.
Allmählich könnte der Pilot eine beruhigende Durchsage machen. Leute, die nicht so oft fliegen wie ich, bekommen in solchen Situationen schnell Panik. Da sind ein paar sachliche Worte niemals verkehrt.
Zwei weitere Flugbegleiterinnen kommen in den Gang, können sich kaum auf den Beinen halten. Die eine verliert das Gleichgewicht und fällt auf eine ältere Frau.
Noch ein Ruck, noch ein Absacken. Dann ein Knall.
Der hat uns voll erwischt, denke ich.
Flugzeuge halten Blitze aus, überhaupt kein Problem, aber der ist voll eingeschlagen.
Und jetzt bricht die Panik aus. Ein Junge hatte sich nicht angeschnallt. Niemand hat darauf geachtet. Er wurde vom Sitz geschleudert und liegt auf dem Gang. Das Licht springt wieder an, flackert nun noch mehr. Ein Gepäckfach ist aufgegangen. Der herausgefallene Kosmetikkoffer hat den Jungen am Kopf erwischt. Er blutet. Die meisten Passagiere schreien, und ich kann die Stewardessen nirgendswo sehen.
Dann folgt ein Gefühl, wie ich es von der Achterbahn kenne. Wir sind für zwei Sekunden im freien Fall. Die Sauerstoffmaske kommt auf mich zu. Sie sieht aus wie eine Qualle.
Plötzlich weiß ich, dass keine Durchsage kommen wird. Das ist keine Routinesituation.
Ich starre aus dem Fenster. Was ich zuerst für einen weiteren Schrei unter vielen gehalten habe, ist tatsächlich das Triebwerk, aus dem helle Flammen schlagen, die sein Heulen begleiten.
Bevor ich begriffen habe, was gerade geschieht, lichtet sich der Nebel. Wir sind jetzt unterhalb der Wolkendecke. Ich presse mein Gesicht gegen die Scheibe. Wo ist der verdammte Ozean?
Ein heftiger Ruck stößt mich vor das Glas. Sofort schmecke ich den metallischen Geschmack von Blut. Meine Nase fühlt sich taub an.
Zum ersten Mal in meinem Leben höre ich echte Verzweiflung. Die Schreie der anderen, ein angsteinflößendes Orchester. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich in den verstörenden Klang einsteigen, oder ihm einfach bloß lauschen soll.
Mein Kopf wird nach vorne gestoßen. Es ist eine Flugbegleiterin, die mich mit den Füßen trifft, während sie über mich hinweg fliegt. Ich meine zu erkennen, dass sie kein Höschen unter dem Rock trägt. Dann schlägt sie gegen die vordere Wand und fällt wie ein Stein zu Boden. Meine Nieren schmerzen. Mit voller Wucht gegen den Gurt, dann wieder ins Polster gedrückt, dann wieder nach vorne, die Organe gequetscht.
Wir fallen steil zur Seite ab.
Ich bete darum, dass wir keinen Überschlag machen.
Alle Fächer stehen jetzt offen. Handtaschen, Supermarkttüten, Schuhe und unzählige andere Dinge schleudern wie Geschosse durch den Innenraum. Eine Hand krallt sich von hinten in meine Schulter. Spitze Fingernägel schneiden sich durch das Hemd ins Fleisch. Dann verschwindet die Hand.
Wie eine bittere Ironie, dass das Zeichen für die Gurte in diesem Augenblick erlischt.
Das Triebwerk kreischt auf, und verstummt dann.
Ein Knacken kommt aus den Lautsprechern. Der Pilot meldet sich.
"Halten Sie sich fest und schnallen Sie sich an", sagt er mit zitternder Stimme. Sämtliche Sicherheitsvorschriften vergessen.
Und da ist er, der Ozean, das weite Meer. Riesige, dunkle Wellen in der Nacht, vom Sturm gepeitscht.
Wir sind bestimmt noch einige hundert Meter hoch.
Niemand wird das überleben. Ich auch nicht.
Geschreie, durch den Gang schwebende Gestalten voller Schmerz. Undefinierbare Schatten, die mal hier, mal dort sind.
Näher kommendes Wasser, brüllende Naturgewalten. Ich will hier raus. Das Chaos ist da.
Dann schlagen wir auf. Mein Gurt reißt, ich schwebe durch den Kosmos.
Flüssigkeit überall, die nach Salz schmeckt, aber auch bitter.
Mein Bein ist seltsam angewinkelt; sehr seltsam.
Da ist ein Mädchen ohne Kopf, das auf mich zukommt. Der Rumpf landet genau an meinen Lippen; ihre Beine strampeln noch, obwohl da gar kein Kopf mehr ist. Ich küsse sie dort, wo eben noch der Hals gewesen ist.
Ich muss die Luft anhalten. Überall ist Wasser. Was zum Teufel habe ich da für einen Klumpen im Mund? Ich schlucke ihn runter, bloß nicht würgen.
Ich will hier raus, aber der Kosmos ist begrenzt. Er kennt keinen Ausgang.
Heißes Gelb schlängelt sich über meinen Arm. Woher kommt der Vergleich des leckenden Feuers? Es leckt mir das Fleisch von den Knochen. Meine Luft wird knapp.
Ich stütze mich an einem Bein ab, an dem ein Mensch hängt, der stumm schreit und wild mit den Armen gestikuliert. Sein rechtes Auge ist unter einem Stahlstück verborgen. Dann versperrt mir ein herumtreibender Sitz die Sicht auf ihn.
Warum macht der Pilot denn keine Durchsage? Sind wir schon gelandet?
Da ist ein Notausgang, irgendwo. Davor sind treibende Körper. Menschenähnlich, aber die Flammen leben im Wasser. Zwei Elemente, so gegensätzlich.
Wo bin ich? Schon draußen?
Auftauchen macht keinen Sinn, bei diesem Druck auf den Lungen.
Mein Schädel wird ganz groß, so sehr müsste ich nun mal einatmen. Vielleicht funktionieren ja die Sauerstoffmasken noch.
Aber sind das denn noch Menschen, oder sind es bizarre Gebilde, oder bin ich ein komischer Typ, dem heißes Wachs die Gliedmaßen verunstaltet, oder möglicherweise ist alles doch ganz anders.
Wer weiß das schon.
Keine Masken.
Da hinten schwimmt ein Wal vorbei. Ein majestätisches Geschöpf.
Jemand krallt sich wieder an mir fest, bekommt auch keine Luft.
Wütend drehe ich mich um und schlage nach der Person. Ich reiße ihr die Wangen auf, und lächele dabei.
Die Luft wird immer knapper, das eine Triebwerk brummt immer noch. Selbst hier, unter Wasser.
Oh mein Gott, was ist mit meinen Armen? Sie sehen aus wie gegrillt.
Ich will jetzt schlafen.
Schlafen.
Mein Kopf platzt sicherlich. Keine Luft.
Endlich tot sein.
Wann - verdammt nochmal - ist das Ertrinken endlich zuende?

 

Ahoi Cerberus!

Naja. Eine kurze Geschichte vor dem schlafen gehen. Ich hab schon besseres von dir gelesen, was aber nicht heißen soll, dass die Geschichte schlecht ist. Nur eben nicht so gut. Zwei Sachen:


Geschreie, durch den Gang schwebende Gestalten voller Schmerz.
Geschreie hört sich mMn windisch an. Geschrei würde reichen.

Flüssigkeit überall, die nach Salz schmeckt, aber auch bitter.
Ich hab mir den Satz oft durchgelesen, aber irgendwie passt der Teil nicht ganz, zumindest kommt mir das so vor. Ich weiß auch nicht. Vielleicht: Flüssigkeit überall, nach Salz schmeckend, aber auch bitter


Tut mir Leid, dass ich nicht mehr sagen kann.

Schönen Abend noch,
One

 

Hallo Cerberus.

Ein kurzes Statement zunächst. Mit dieser Story triffst du den Nerv der Nichtflugfreunde wie mich.
Ich habe tatsächlich noch niemals eine Geschichte gelesen, bei der mein Puls derart anstieg.
Eine sehr schöne Bestätigung für mich, niemals wieder in einen Flieger zu steigen.
Auch den späteren Tod des Prot beschreibst du sehr anschaulich. Hast du sowas schon mal mitgemacht? :D

Fazit: eine vom Stil her mal andere Geschichte von dir. Kein großes Geschnörkel, enormer Spannungsbogen.

Gruß! Ein sich langsam wieder beruhigender Salem

P.S. Werde später auf Details eingehen.

 

Grüß dich Cerberus!

Ja, mhm, ich fand es manchmal etwas abhgehakt zu lesen... vor allem gegen Ende, manchmal heißt es, er wäre unter Wasser, aber das wird manchmal nicht so richtig deutlich. Da könnte man noch nachbessern, mehr auf diese merkwürdige Schwere eingehen, die man unter Wasser empfindet, auf die Dämpfung des Schalls, ect.
Und das Ende gefällt mir gar nicht: wenn ein Icherzähler stirbt, dann muss es schon seine sehr gelungene Pointe sein - die hier leider fehlt.
Zudem beschränkt sich dein Text nur auf diesen Unglück. Und das ist mir ebenfalls zu wenig.

Ich mag übrigens auch keine Flugzeuge.

Details:

Seit dem gibt es kaum noch etwas, was mich nervös machen kann.
Jetzt bin ich ein wenig nervös.
Nicht nur die Wiederholung ist unschön, die Sätze widersprechen sich sogar.

Sofort schmecke ich den metallischen Geschmack von Blut.
Unschön.

In diesem Sinne
c

 

Hi Cerberus!

Flugangst hin oder her :D , ich fand sie recht dicht, die Geschichte. Kann mich also nur Salem anschließen wobei ich auch chazar Recht geben möchte, irgendwas fehlt.

Die langsame Erkenntnis, dass etwas faul ist, dieses Verstehen kam bei mir analog zum Prot. Das ist wohl der starke Teil der Story. Obwohl mir die Schilderung gerade zum Ende hin etwas emotionslos daherkommt. Beabsichtigt? Ich kann es mir schwer vorstellen.

Der Schluss dann war wohl etwas übereilt, voreilig. Ein typischer Cerberus in diesem Fall. Ich kann mir richtig vorstellen, wie du daran gegangen bist. Losgeschrieben und mal sehen, was kommt.

Kleinere Patzer:

Das mit dem Geschreie ist mir auch aufgefallen, aber mir würden Schreie besser gefallen.

Da ist ein Mädchen ohne Kopf,...

Spontane Frage: Wie sieht er, dass es ein Mädchen ist?

...und ich kann die Stewardessen nirgendswo sehen.

Bitte, bitte, nimm das s aus dem nirgendwo, das hört sich unterbelichtet an.

Fazit: (Wie so oft) Hauptteil hui, Ende pfui!


Viele Grüße von hier!

 

Hi Cerberus,

wie oft habe ich mich schon gefragt: was mag in den Menschen vorgehen, die in einem Flieger sitzen, der abstürzt?

Dein Prot weiß genau, was geschieht. Er will es zuerst nicht wahrhaben. Er ist schon so oft geflogen, hat gefährliche Situationen durchlebt und überlebt.
Also, was soll ihm schon passieren, denkt er.

Seit dem gibt es kaum noch etwas, was mich nervös machen kann.
Jetzt bin ich ein wenig nervös. Nicht viel, aber es reicht,
Dieser Satz zeigt seine Selbstteuschung.
Die eine Stimme in ihm sagt, dass es ja kaum noch etwas geben kann, was ihn nervös macht. Die andere in ihm sagt,dass er sehr wohl Grund hat nervös zu sein. Er weiß nur noch nicht, welchen Gedanken er zulassen soll.
Darum finde ich auch die Wortwiederholung passend.
Einen Widerspruch sehe ich auch nicht darin lieber chazar :kuss:

Auch dieser Satz

Allmählich könnte der Pilot eine beruhigende Durchsage machen. Leute, die nicht so oft fliegen wie ich, bekommen in solchen Situationen schnell Panik. Da sind ein paar sachliche Worte niemals verkehrt.
zeigen, dass er sich selber Mut machen will, obwohl die Panik längst in ihm ist.

Die vermeintliche Gelassenheit deines Prots, gleicht einem Schutzschild.( wie kann ihm soetwas passieren, wo er doch schon so oft geflogen ist)
Doch sein Unterbewußtsein hat sich mit dem Tod abgefunden und gerade deshalb finde ich den letzten Absatz genial.

Ich will jetzt schlafen.
Schlafen.
Mein Kopf platzt sicherlich. Keine Luft.
Endlich tot sein.
Wann - verdammt nochmal - ist das Ertrinken endlich zuende?

Tja, so verschieden sind die Eindrücke und Meinungen ;)

Ich finde deine Geschichte beeindruckend und gerade seine letzten Gedanken, bewirkten in mir eine Gänsehaut.

lieben Gruß, coleratio

 

Hallo, und danke für die vielen Anmerkungen.

Hanniball hat zwar mal wieder gleich durchschaut, dass es sich um einen Schnellschuss handelt, aber im Grunde wollte ich auch nicht mehr als den Absturz schildern. Etwas anderes war also von Anfang an nicht geplant.

Vielleicht ändere ich noch ein bisschen was.

Grüße

Cerberus

 

dass es sich um einen Schnellschuss handelt,

Dafür wiederum ist er doch recht beachtlich geworden.
Andererseits - um wieviel besser wäre der Schnellschuss, wenn er gründlich vorbereitet gewesen wäre!

 

Nunja, "Actionszenen" gelingen mir immer am besten, wenn ich sie spontan und in Begleitung lauter Musik schreibe.
Außerdem hat meine erste lange Geschichte seit längerem, die ich vor zwei Wochen gepostet habe, wenig Beachtung gefunden.
Daher will ich mich im Moment erstmal wieder auf kurze Kurzgeschichten konzentrieren :D

 

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